Frühe Einübung von Schietwetter-Kompetenz: „Es regnet es regnet“ (anonym, 19. Jh.)

Anonym

Es regnet, es regnet

Es regnet es regnet
der Kuckuck wird naß [die Erde wird nass]
bunt werden die Blumen [und wenn’s genug geregnet hat]
und grün wird das Gras [dann wächst auch wieder Gras]

der Regen bringt Segen [es regnet es regnet]
und werden wir naß [es regnet seinen Lauf]
so wachsen wir lustig [und wenn’s genug geregnet hat]
wie Blumen und Gras [dann hört‘s auch wieder auf]

Es regnet es regnet
der Kuckuck wird naß [was kümmert uns das]
wir sitzen im Trockenen
was schadet uns das [und werden nicht nass]

[Quelle: www.volksliederarchiv.de, in eckigen Klammern dahinter eigene
Transkription der abweichenden Verse des Videos.]

Ich bin mir nicht mehr sicher, was mich auf die Idee zu diesem Beitrag gebracht hat – war es eine alarmierende Mail vom Landratsamt bezüglich der Hochwasserlage am Obermain oder ein Gespräch im Freundeskreis über Kindergärten? Oder machte nur jemand ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter? Keine Ahnung, nicht mehr rekonstruierbar. Jedenfalls sind meine einschlägigen Kindergarten-Erinnerungen ausgesprochen dürftig, was angesichts der inzwischen vergangenen Jahre (was heißt hier Jahre? Jahrhunderte!) auch nicht besonders verwunderlich ist.

So sind mir von den vielen Liedern, die wir damals in den Nachkriegsjahren gelernt haben, kaum zehn Verse im Gedächtnis geblieben. Zwei davon gehören zum Regenlied, die anderen zu Häschen in der Grube, über das ich demnächst auch noch einen eigenen Beitrag schreiben will… Übrigens bin ich nach einigen Recherchen zum Regenlied gar nicht mehr sicher, dass ich mir dessen Anfang auch wirklich richtig gemerkt habe, der in meiner Erinnerung als „Es regnet es regnet / die Bäume werden nass“ abgespeichert ist, was sich aber unter den verschiedenen, im Volksliederarchiv dokumentierten Varianten aber nicht auffinden ließ. Da wird mal der Kuckuck als beliebter Volkslieder-Vogel feucht, mal die Erde, mal die Kinder. Scheint mir jetzt aber auch nicht allzu wichtig, denn letztlich geht es im Lied ja darum, die Kinder mit dem in unseren geographischen Breiten nicht ganz seltenen Schietwetter zu versöhnen.[1]

Was die Dusche nun dem im zweiten Vers genannten Kuckuck eigentlich genau bringen soll, bleibt ungeklärt, wohingegen es den meisten großen und kleinen Menschen spontan einleuchten dürfte, dass der himmlische Segen für das Wachstum von Blumen, Gras und Bäumen nützlich ist. In analoger Weise vermutlich auch für das Gedeihen von Kindern, die ja letztlich auch so eine Art Pflänzchen sind, denen gelegentliches Gießen sowie sonstige gärtnerische Pflegemaßnahmen nicht schaden werden. An dieser Stelle bietet sich eine tiefsinnige Diskussion unter Zuhilfenahme von Reinhard Meys Chanson In meinem Garten an (vgl. die schöne Besprechung von Irina Brüning in diesem Blog),[2] die aber hier nicht hier geführt, sondern den geneigten Lesern nur ans Herz gelegt werden soll. Gärtnerisch inspiriert war jedenfalls die sich in vorliegendem Regenlied manifestierende Pädagogik des 19. Jahrhunderts, die auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit der 1950er Jahre noch weithin praktiziert wurde.[3]

Allerdings zeigt die Argumentationslinie des Liedes bei genauerer Einlassung auf den Text einen kleinen Bruch in der dritten Strophe, wo die Sänger mit unüberhörbarer Befriedigung feststellen, selber nicht den Unbilden der Witterung ausgeliefert zu sein, sondern fein im Trockenen zu sitzen, so dass ihnen der Regen nicht ,schaden‘ kann. Dass sich der arme Kuckuck in kein gemütliches Kindergarten-Spielzimmer zurückziehen kann, ja nicht einmal einen Regenschirm besitzt, scheint sie dabei nicht besonders zu bekümmern. Ziemlich wenig mitfühlend, fast schon asozial, würde der woke Zeitgeist vermutlich stirnrunzelnd anmerken. Klingt in diesen Versen vielleicht sogar ein Hauch von Schadenfreude mit? – Nein, ganz soweit würde ich jetzt nicht gehen. Aber nach einer Aufforderung, mit Gummistiefeln und Ostfriesennerzen angetan in den prasselnden Regen hinauszustürmen, und lustig in die Pfützen zu springen, hört es sich für mich auch nicht an.

Wobei man freilich mitbedenken muss, dass die Mütter des 19. Jahrhunderts und der unmittelbaren Nachkriegszeit im Allgemeinen auch noch keine Waschmaschinen besaßen …

Nachklapp: Der einschlägige Wikipedia-Artikel zitiert noch eine auf die Urheberschaft Wilhelm Grimms rückführbare, textlich allerdings stark vom oben zitierten Kinderlied abweichende Fassung, die unter dem Titel Guten Appetit! Eingang in die romantische Volkslieder-Sammlung Des Knaben Wunderhorn gefunden hat: „Es regnet, Gott segnet, / Die Sonne scheint, / Der Mond greint, / Der Pfaff sitzt aufm Laden, / Frißt all die Palisaden! / Die Nonne geht ins Wirthshaus, / Und trinkt die Gläser all, all aus.“

Hans-Peter Ecker, Bamberg


[1] Neben den verschiedenen Textvarianten existieren zu diesem Lied auch diverse Melodien; die bekannteste wird von der Kindergartengruppe im oben zitierten Video benutzt.

[2] Eine gewisse Gegenthese zu Mey steckt implizit in dem Sommerhit des österreichischen Musikduos Wiener Blond (Verena Doublier und Sebastian Radon) Der Rosmarin ist hin!, der auch einmal in diesem Blog vorgestellt werden sollte. Auch dort geht’s um Pflänzchen, Regen, Gießen und soziale Beziehungen.

[3] Die im Video gesungene Textvariante akzentuiert in den ersten beiden Strophen eine ziemlich fatalistische Einstellung zum Wettergeschehen und ein ausgeprägtes Vertrauen in den praktisch nicht interessierenden Sinn seiner Abläufe: „es regnet seinen Lauf / und wenn’s genug geregnet hat / dann hört‘s auch wieder auf“. Verweise auf segensreiche Wirkungen der himmlischen Gabe werden in dieser Liedfassung ausgespart.

„Glück ghabt“ (2003) von Werner Schmidbauer und die Zukunft

Werner Schmidbauer 

Glück ghabt

Glück ghabt, Pferdl gseng.
Glück ghabt, Guatl kriagt.
Glück ghabt, a Madl meng.
Pech ghabt, sie hot scho an andern gliabt.

Glück ghabt, olle klatschen.
Glück ghabt, gstreichelt wordn.
Glück ghabt, und meistens oan zum Ratschen.
Pech ghabt, d’Sprach verlorn.

Glück ghabt, Spiele gspuit.
Glück ghabt, Treue gschworn.
Glück ghabt, Verstand und vui Geduid.
Pech ghabt, as Herz verlorn.

Glück ghabt, und neamds zum Hassen.
Glück ghabt, seltn grantlt.
Glück ghabt, und tausend Chancen.
Pech ghabt, oane zvui versandlt.

Glück ghabt, und a Ziel zum glanga.
Glück ghabt, mit Musik Geld verdient.
Glück ghabt, eigne Wege ganga.
Pech ghabt, oana war vermint.

Glück ghabt, Gschichtn ghört.
Glück ghabt, und oan, der mit mir fliagt.
Glück ghabt, as ewig Leben begehrt.
Pech ghabt, Angst kriagt.

[Schmidbauer/Kälberer: Zeit der Deppen. FA.M.E. Recordings 2003.]

Zukunftsforscher wie Harald Welzer sagen, dass eine der wichtigsten Einstellungen, wenn man eine neue Zukunft angehen möchte, die Offenheit ist. Das heißt, so Welzer, dass eines der größten Probleme unserer expansiven Moderne sei, dass die Zukunft darin eindeutig immer ‘besser’ (also technologisch gereifter, wohlstandsmäßig abgesicherter) werden müsse. Damit haben viele Menschen in unseren Gesellschaften ein Zukunftskonzept verinnerlicht, dass Veränderung schwer macht. Wenn es besser werden muss, im oben definierten Sinne, kann es nicht anders werden. Aber genau das ist es, was unsere Gesellschaften auf sozialer, klimapolitischer oder ökonomischer Ebene gerade einfordern, ob durch radikale Gruppierungen, Klimakleber oder Wahlverweigernde.

            Nun wollte ich zum Anfang des Jahres mal wieder eine Liedinterpretation für diesen Blog schreiben. Zu einem Neujahrsschlager, zu Glücksversprechen, zur Zukunft. Im Radio hörte ich einen, merkte mir aber nur eine Zeile daraus: „und alles Gute zum neuen Jahr” (oder so ähnlich). Geben Sie das mal bei GoogleYouTubeInternet ein: Unauffindbar. Stattdessen: ein Meer an Neujahrsschlagern und Grußbotschaften beliebter Schlagerstars. So blieb meine Suche ergebnisoffen.

Einige Tage später dann, durch Felder spazierend, erinnerte ich mich an Werner Schmidbauers Glück ghabt (2003). In einer seiner Aufgspuit-Sendungen im Bayrischen Rundfunk merkt der Songschreiber dazu an, dass sein Listenlied aus einem Satz seiner jungen Tochter entstanden sei. Diese habe bei einem Spaziergang ein Ross auf einer Wiese gesehen, und daraufhin auf gut Bayrisch resümiert: „Pferdl gsehn – Glück ghabt“:

Im Interview-Teil der Sendung kommentieren darauf der Gast Handling und der Gastgeber, dass Kinder ja noch ganz anders glücksfähig seien als Erwachsene, offener, vielleicht, überraschter vom Leben an sich.

Im Lied geht es also darum, dass eine Sprech-Instanz verschiedene Momente beschreibt, die in unserem Kulturraum als glücklich angesehen werden. Besonders beschreibt das Lied Erlebnisse menschlicher Nähe, sowohl verbal als auch körperlich: „gstreichelt wordn“, „Treue gschworn“, „und meistens oan zum Ratschen“. Sozialpsychologe Welzer würde vermutlich beipflichten, da in der menschlichen Glücksbewertung besonders Zwischenmenschliches im Nachhinein als glückstiftend angesehen werde. Folglich stellt er fest, dass wir in Zukunft wieder mehr menschliche Begegnungsräume brauchen, weniger Digitales, denn das mache nur bedingt glücklich. Es entfremde, „[vereinzle] die Menschen. […] Überhaupt ist eine Gesellschaft, die Sozialfunktionen in Geräte auslagert, von wachsender Abschottung der Menschen voneinander geprägt“ (Welzer [2019] 2021, S. 138). Eine Zukunftsvorstellung, die missmutig macht. Freilich, als Schmidbauer das Lied schrieb, war diese Entwicklung noch nicht ganz so weit fortgeschritten. Dennoch, Technologie gab es auch Anfang der 2000er im Alltag schon zuhauf, nur kommt sie bei seinen Beschreibungen des Glücks eben nicht vor. (Haindling witzelt, dass man als Erwachsener zwar das Sehen von Autos gut finden mag, dies aber aus mehreren Gründen nicht unbedingt einen Freundschrei auslöse.) Schmidbauers zwischenmenschliche Erlebnisse müssen übrigens auch keinesfalls idealisierend perfekt sein, um als positiv verbucht zu werden. Glück braucht keine Totalität. Adverbien qualifizieren. Beispielsweise ist es schon schön, meistens einen zum Reden gehabt zu haben. Das öffnet Spielraum für Abweichung.

Glücklich machen den Sprecher auch Kunsterlebnisse, hier in einer Mischung aus Performanz, finanziell-kultureller Anerkennung, und privater Kontemplation: „Glück ghabt, alle klatschen / […] mit Musik Geld verdient / […] Gschichten ghört.“ Auch hier bleibt expansive Hybris außen vor: alle klatschen, verrät keine genaue Anzahl. Es können wenige in einem Gemeindesaal sein, oder viele. Ebenso mit „Musik Geld verdient“ ist offen, es könnte eine kleine Summe sein. Was zählt ist, eine gewisse Form der zwischenmenschlichen Anerkennung, scheint es. Des Weiteren, im Rückblick aus der eigenen Zukunft betrachtet, listet das Lied noch Beobachtungen zum Wortfeld Lebensleistung auf. Dabei erkennt es deren wankelmütige Unberechenbarkeit an: „Verstand und vui Geduld / […] tausend Chancen / oane zvui versandlt / […] eigne Wege ganga / oana war vermint.“ Glückliche und unglückliche Fügung scheinen sich zu bedingen und der rückwirkende Perspektivwechsel ist in diesen Zeilen mitgedacht. Wieder sind große Zahlen für Erfolg schließlich irrelevant. Tausend Chancen sind nur so viel wert, wie der Einzelfall im Lebensentwurf. Ironischerweise hilft dann diese offenere Beschreibung von Glück mit seinen erwartbaren Abweichungen dabei, andere Zukunftsausgänge in ein positives Gesamtbild zu integrieren. „Zukunft lässt sich negatorisch nicht entwerfen, das geht nur mit positiven Bestimmungen“ (Welzer [2019] 2021, S. 48). Erwartungsregulierung löst das Problem einer ausschließlich bestimmten Erfolgsgeschichte.

Spannend für unsere flexible, offene Zukunftsdefinition ist also, dass das Lied nicht nur Glücksmomente im engeren Sinne verzeichnet, sondern auch Unglückliches, dass sich im listigen Wechsel am Ende in die Strophen hineinschiebt (z.B. „Pech ghabt, as Herz verlorn“). Genauso, wie das zunächst Glückliche, die tausend Chancen etwa, sich im Nachhinein auch anders sehen lässt, birgt das Pech mit dem Sprung in die nächste Strophe einen ambivalenteren Ausgang: Aus der einmal zu viel vertanen Chance ergibt sich in der nächsten Strophe die Klarheit eines Ziels, dass sich erlangen lässt. Aus dem Folgen eines verminten Lebenswegs ergeben sich möglicherweise Geschichten, die sich hören lassen. Glück bleibt damit relativ. Ein eindeutig ‚besserer Weg‘ lässt sich also endgültig gar nicht kontextlos festlegen, und nimmt damit die Last einer eindeutig ausdefinierenden Erfolgsgarantie. Gesellschaftsbiografisch gesprochen ist „Zivilisierung […] kein linearer Vorgang“ ( Welzer [2019] 2021, S. 35); und Zivilisierung auf Kosten von Gefühlsverneinung nicht der einzig gangbare Weg. Im besten Falle lässt sich ‚ein Erfolg‘ nur einordnen neben anderen, erhält überzeitlich kein absolutes Bleiberecht.

Der Sprecher argumentiert damit auch im etymologischen Wortsinne des Glücks, der Definition von Glück im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache entsprechend:

„[Glück] bedeutet anfangs ‘Schicksal, Geschick, Ausgang eines Geschehens oder einer Angelegenheit (sowohl zum Guten als auch zum Bösen)’ und tritt als Schicksalsbegriff in Konkurrenz mit mhd. sælde und heil (s. selig und Heil), den älteren Ausdrücken für ‘Segen, Heil, Glück’. Aus dem engeren Gebrauch im Sinne von ‘günstiger Verlauf oder Ausgang eines Geschehens, günstiges Geschick’ entwickelt sich Glück zur Bezeichnung des wünschenswerten ‘Zustandes starker innerer Befriedigung und Freude’.“ 

Was das Lied durch seine Schicksalslistung auch nicht tut, ist Unglücksmomente groß zu dramatisieren. Es geht einfach weiter. Ein Moment folgt auf den anderen. Da man den Ausgang der Zukunft (und was als glücklich scheint) also gerade nicht in der Gegenwart endgültig bewerten kann, mahnt der Umgang mit Glück zu offener Demut. Durch die Listenstruktur und den Zeilenstil, von der der Text nie abweicht, wird eine gewisse formale Ordnung und anti-hierarchische Neutralität im Ablauf der Bilder suggeriert. Auf einen vermeintlichen Pech-Moment folgt wieder ein etwas besserer usw. Man beachte die Partizipien, die den Moment immer als gerade schon vergangen verbalisieren, also nach dem eigentlichen Glücksempfinden.

Der Verlauf des Lebens wird im Lied also als Glücks- und Pech-Biografie gefasst, mit Abstufungen im Erleben (oft, selten, manchmal) ohne Fixierung auf das eine oder das andere. Wenn die Vergangenheitsbewertung aus solch einem Wechselspiel besteht, was kann man dann daraus für sein Zukunftsverständnis ableiten? Auch wenn man feststellen kann, dass die Glücksmoment im Text überwiegen im Verhältnis 3:1, für das persönliche Glücksempfinden muss es nicht immer radikal besser werden. Dennoch oder gerade deswegen lässt sich im Welzer‘schen Sinne eine ästhetische Struktur ausmachen, die zukunftsfähig, da offener hinsichtlich Erwartungen ist. Der Zugang zur Änderung der Zukunft ist nicht ein totaler, sondern ein modularer, kleinteiliger. D.h. nicht alles muss sich sofort und perfekt ändern. Kleine Änderungen hier und da führen zu weiteren im Nebeneinander von Geglücktem und vermeintlich Nicht-Geglücktem. Hier knüpfen meine Liedtext-Analyse und Welzers Argumentation an Schiller und seine ästhetischen Erziehungsprinzipien an. Konfrontation mit (anderen) ästhetischen Darstellungs-Formen birgt Veränderungspotenzial für das Denken und Handeln der Menschen. „[D]as (künstlerische) Handeln selbst [schafft] schon eine neue Wirklichkeit“ (Welzer [2019] 2021, S. 289). Ein anderes Auf-die-Zukunft-Zugehen, also eine diversere Glücksdarstellung und damit auch Glückserwartung, erhält einen anderen Look. Weniger grandios und gradlinig vielleicht, mit Abstufungen, lokaler, zum Beispiel in bayrischer Mundart vorgetragen und nicht in globalisiertem Englisch. Glück findet sich in einem Heimatlied.

Heidegger hat wohl einmal gesagt, dass Zukunft Herkunft sei. Dazu kann man stehen, wie man möchte, ob es eher deprimierend ist (wenn man an die limitierten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs denkt) oder versichernd (wenn man eine stabile Herkunft hat). Oder ein bisschen von beidem. Für die Zukunftsforschung relevant ist es im praktischen Sinne, da man, wenn beispielsweise ein neues Windrad mehrere Jahre Bauzeit hat, oder ein abgeholzter Wald ca. dreißig Jahre zur wildnisreichen Regeneration braucht, natürlich irgendwann in der Vergangenheit begonnen haben muss, damit sie in der Zukunft einmal stehen werden. Auf persönlicher Ebene merkt man manchmal, dass man zwar weit gegangen ist auf einem Spaziergang und irgendwie alles anders ist zum neuen Jahr, um dann doch dort anzukommen, wo man früher bereits einmal war.

Meine erste Interpretation für diesen Blog vor mehr als zehn Jahren war übrigens Momentensammler von Werner Schmidbauer.

Glück g’habt, manchmal geht die Zukunft in der Vergangenheit dann eben doch noch auf.

Florian J. Seubert, Darmstadt

Literatur

Harald Welzer: Alles könnte anders sein [2019]. Zitiert nach der Fischer Taschenbuch-Ausgabe, 3. Auflage (2021).

Früher Kolonialwaren, heute supergeil. Zu „Supergeil“ von Der Tourist featuring Friedrich Liechtenstein in der Version für Edeka (2014).


Der Tourist featuring Friedrich Liechtenstein

Supergeil

Super süß, super sexy, super easy, supergeil
Super Leute, super lieb, super Love, supergeil
Super Uschi, super Muschi, super Sushi, supergeil
Super heftig, super deftig, super lässig, supergeil
Super fit, super fresh, super Lifestyle, supergeil
Super Power, super stark, super Markt, supergeil

Es ist supergeil, supergeil
Richtig supergeil, supergeil
Ich find's supergeil, supergeil
Denn du bist supergeil

Super Knister, super Knusper, super Snack, supergeil
Super Freunde, super spritzig, super Party, supergeil
Super Optik, super chillig, super Cookies, supergeil
Super Sonntag, super Montag, super lazy, supergeil
Super crunchy, super tasty, super crazy, supergeil
Super fruchtig, super lecker, super smooth

Es ist supergeil, supergeil
Richtig supergeil, supergeil
Ich find's supergeil, supergeil
Denn du bist supergeil
[2x]

Sehr, sehr geile Sachen hier
Bio ist auch sehr, sehr geil
Sehr geile Bioprodukte, toll

Es ist supergeil, supergeil
Richtig su-su-supergeil, supergeil
Ich find's supergeil, supergeil
Denn du bist supergeil

Guck ma hier
Sehr, sehr geile Fritten, super
Sehr geiler Dorsch übrigens, sehr geil

Oh hier, Klopapier
Oh, das ist aber weich
Sehr, sehr geil, super

Ein bärtiger Mann um die 60 im Anzug und mit Sonnenbrille sitzt an einer Supermarktkasse. Auf dem Band rollen verschiedene Waren auf ihn zu. Statt diese rasch über den Scanner zu ziehen, nimmt er sie liebevoll in die Hand und kommentiert sie: „Sehr geiler Dorsch übrigens. Sehr geil. Oh hier, Klopapier. Das ist aber weich. Sehr, sehr geil“. Das Werbevideo, in dem der Unterhaltungskünstler Friedrich Liechtenstein durch eine Edeka-Filiale tänzelt und an der Kasse sitzt, wurde 2014 zu einem Marketing-Hit für das Lebensmittelunternehmen. Sogar US-amerikanische Medien berichteten über „the most gloriously entertaining commercial you will see today“, wie es auf buzzfeed.com hieß. Die Rezensentin auf Slate interpretiert den Musikclip gar als „a window into German culture“ sowie als „German variation on Gangnam Style“. Acht Jahre später veröffentlichte das ukrainische Verteidigungsministerium auf Twitter einen Neuzusammenschnitt des Videos (vgl. die Berichterstattung der Welt). Gebeten wird um „super Leopard“-Panzer aus Deutschland. Die gibt es zwar nicht bei Edeka zu kaufen, doch zeigt sich der Erfolg des viralen Marketings.

Exkurs: 125 Jahre Edeka

Den Zeitgeist erkannt hatten auch 21 Händler von Kolonialwaren im Jahr 1898. Der ineffizienten Unternehmensführung kleiner Läden und der wachsenden Konkurrenz durch Warenhäuser wie Karstadt wollten sie etwas entgegensetzen: die Organisation in Form einer Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin – Edeka stellt eine Abkürzung dar, die gesprochene Form der Initialen ihres Gründungsnamens E.d.K. Kolonialwaren – Kakao, Kaffee, Tee – verbreiteten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im europäischen Lebensmittelhandel rasant. Damit einhergehend wurden immer mehr kleine Einzelhandelsgeschäfte gegründet. Diese krankten jedoch an ihrer geringen Größe, die Preise waren oft hoch, das Warenangebot hingegen klein. Dem wollten die Händler durch den Zusammenschluss begegnen, mit dem Ziel, „die Vorteile der dezentralen Verkaufsstätten beizubehalten, gleichzeitig aber Kosten durch die Zentralisierung von gemeinsamen Aufgaben einzusparen“, so Max Witzler von der Universität Tübingen.

Zwar war die Edeka nicht der erste Zusammenschluss dieser Art, doch ein besonders erfolgreicher. Im Jahr 1907 schlossen sich die Kaufleute der E.d.K. zu einer deutschlandweiten Zentraleinkaufsgenossenschaft zusammen, was ihr Fortbestehen sichern sollte. Gegen den Widerstand der wichtigsten Markenhersteller des Deutschen Reichs gelang es der Edeka durch ihre Geschlossenheit, eigene Hausmarken einzuführen und erfolgreich zu etablieren. Auf ein geschlossenes Erscheinungsbild des Unternehmens wurde fortan großer Wert gelegt – heute würde man von einem Corporate Image sprechen. Auf diese Weise überstand die Einkaufsgenossenschaft auch Inflation, Weltwirtschaftskrise, Kriegs- und Zwangswirtschaft. Während der NS-Zeit unterwarf sich der Konzern bereitwillig den staatlichen Maßnahmen und stilisierte sich zu einem Volk und Land dienenden Handelsunternehmen.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg zahlten sich die guten Kontakte der Unternehmensleitung in die Politik – Lobbyismus, würde man heute sagen – aus. Mit dem Wirtschaftswunder florierten die Geschäfte. Ab den 1960er Jahren entstand durch die Etablierung von Discountern Druck; Innovationen wie Kühltechnik und Selbstbedienung mussten umgesetzt werden, was viele kleine Läden nicht leisten konnten und in der Folge schlossen. Doch statt etwa mit dem Mitkonkurrenten Rewe zu fusionieren, wurde eine differenzierte Palette von Filialtypen eingeführt, die sich je nach Standort und Kundschaft unterscheiden (bspw. die kleineren Märkte „nah und gut“). Mit nach eigener Darstellung aktuell über 400.000 Mitarbeitenden stellt Edeka heute, 125 Jahre nach Gründung der Einkaufsgenossenschaft, den zweitgrößten privaten Arbeitgeber in Deutschland dar – noch vor Volkswagen, Daimler und dem Mitkonkurrenten Rewe, doch nach der Schwarz Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören (vgl. Südkurier).

Originalversion von 2013

Vor dem Hintergrund der Firmengeschichte, die bei aller berechtigen Kritik – sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell – deutlich macht, dass das Unternehmen immer wieder erfolgreich auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen reagierte, erscheint die Zusammenarbeit mit Friedrich Liechtenstein 2014 nicht verwunderlich.Dabei ist der Track für Edeka nicht das Original, sondern eine Version des 2013 veröffentlichten Spoken-Word-Stücks „Supergeil“ des Berliner Musikprojekts Der Tourist, einem losen Zusammenschluss mehrerer Berliner Künstler. Laut dem Blog Köln News handele es sich um einen „aus einer Sauflaune entstandenen Song“:

Im Originalvideo preist Sänger Friedrich Liechtenstein nicht Supermarktprodukte wie Cookies, Sushi oder Fritten an, sondern die verschiedensten Facetten des Lebens, eine schier unzusammenhängende Auflistung, bestehend sowohl aus hedonistischen („Party“, „Urlaub“) und künstlerischen Elementen („Drehbuch“, „Film“, „Buch“) als auch den Gegebenheiten des Lebens, denen sich kaum jemand entziehen kann („Wetter“, „Nachbarn“) – immerhin sind sie hier allesamt „supergeil“. Das lässt sich als Kulturkritik lesen, „als Parodie auf alles positive Denken per Autosuggestion“ (welt.de). In dieser Analyse einer Gesellschaft, in der alles unhinterfragt „geil“ ist, liegt vielleicht die besondere Bedeutung des Liedes, die über die Entstehung „aus einer Sauflaune“ (s.o.) hinaus geht.

Passend zum ursprünglichen Songtext erscheint auch das Originalvideo skurril; Friedrich Liechtenstein läuft durch das winterliche Berlin, betritt die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, zieht sich in der Garderobe um und verzehrt noch eine Bockwurst, bevor er schließlich über die Bühne tanzt. Dabei scheint er sich selbst genug zu sein; ob Publikum bei seinem Auftritt zugegen ist, ist nicht erkennbar, erscheint aber auch zweitrangig. In seiner Lässigkeit und rotzigen Selbstverständlichkeit braucht der Mann keine Zuschauer*innen, ein Garderobenspiegel genügt, um sich selbst sehr geil zu finden.

Der Rosa-Luxemburg-Platz ist Friedrich Liechtenstein schließlich bestens vertraut; hier wohnt er nach eigener Aussage und hier inszenierte er bereits in den 1990er Jahren verschiedene Theaterstücke an der Volksbühne. Dies jedoch noch nicht unter seinem Künstlernamen Friedrich Liechtenstein, den er seit dem Jahr 2003 zunächst als Elektro-Pop-Musiker und Entertainer benutzt, sondern unter seinem bürgerlichen Namen Hans-Holger Friedrich. 1956 in Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt geboren, studierte Friedrich an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und verdiente später sein Geld am Theater mal als Schauspieler, mal als Puppenspieler, mal als Regisseur. Lange Zeit eine Berliner Lokalgröße, wurde er 2014 einem internationalen Publikum bekannt.

Supergeiler Lifestyle dank bunter Warenwelt?

Dazu kam es, als die Kreativ- und Werbeagentur Jung von Matt auf das Spoken-Word-Stück von Der Tourist aufmerksam wurde. Geschäftstüchtig schlug man der Werbeabteilung von Edeka das Lied für ihre Produktwerbung vor. Dabei wird die supersimple sprachliche Verbindung der Komposita „Supermarkt“ „supergeil“ genutzt. Und so entstand die hier vorgestellte Version im Auftrag der Supermarktkette. Dabei wird die Gesellschaftskritik der Originalversion – alles „geil“ zu finden (s.o.) – gewissermaßen in ihr Gegenteil verkehrt; schließlich geht es nun darum, unbeschwert zu konsumieren. All die Zwänge und schlechten Gefühle, die als Generalverdacht längst jeden Konsum begleiten, seien es Gedanken an gesunde Ernährung („Fritten“, „Cookies“) oder nachhaltigen Konsum („Sushi“, „Dorsch“), sollen durch die euphorisierende, unhinterfragt positive Präsentation der bunten Warenwelt einmal zum Schweigen gebracht (oder mit weichem, d.h. nicht aus Recyclingpapier bestehendem Klopapier weggewischt) werden. Daran ändern auch die paar Bioprodukte nichts, die Friedrich Liechtenstein an der Kasse präsentiert – sie dienen im Gegenteil der Beruhigung des Gewissens. Diese unverhohlene Aufforderung zum Konsum erscheint vor dem Minimalismus des Lebenskünstlers Friedrich Liechtenstein besonders irritierend. So wusste die Süddeutsche Zeitung 2014 über den Künstler zu berichten, dieser habe „keinen Besitz, kaum Geld, nicht einmal ein Handy, schon gar keinen Computer“.

Somit büßt das Stück in der Version für Edeka seine Zivilisationskritik und damit in gewisser Weise seine Unschuld ein, indem es in den Dienst einer auf Konsum und Gewinn zielenden Supermarktkette gestellt wird. Der im Originaltrack präsentierte Materialismus („Urlaub“, „Content“, „Outfit“) erscheint nicht länger ironisch kritisch, stattdessen steht eindeutig und gezielt die Produktwerbung im Vordergrund. Es gilt, die supergeilen Produkte in all ihrer Güte zu preisen und sie – wie dies jede professionelle Werbung tut – mit einem bestimmten Lifestyle zu verknüpfen. Ein Indikator, wie wenig subtil dies erfolgt, ist nicht zuletzt, dass das Wort „Lifestyle“ im Track selbst explizit genannt wird. Zu diesem Zweck wird zum einen eine Assoziationskette mit den verschiedensten, positiv besetzten Facetten des Lebens („Love“, „Power“, „Freunde“, „Party“, „Optik“) gebildet, mit denen der („super“) „Markt“ in eine Reihe gestellt wird. Zum anderen werden die unterschiedlichsten Eigenschaften genannt („süß“, „sexy“, „easy“, „lieb“, „fit“, „fresh“, „chillig“ usw.), die den in diesem Markt zu erwerbenden Produkten zuteil sind. Wurden im Originaltrack auch noch negative Attribute in Verbindung mit „super“ („ätzend“, „hässlich“, „sick“, „teuer“) genannt, wird auf diese in der Version für Edeka wenig überraschend vollkommen verzichtet.

Der hohe Unterhaltsfaktor entsteht zum einen durch die Performance von Friedrich Liechtenstein, der sich – obwohl nun nicht mehr allein auf einer Bühne, nur für sich selbst in einen dunklen Raum hinein singend, sondern im Auftrag des Lebensmittelriesens – in all seiner Skurrilität selbst treu bleibt und tatsächlich authentisch wirkt. Ein Wannenbad in H-Milch mit zusätzlich Knusper-Müsli Triple Choc lässt er sich ebenso wenig nehmen wie ein Tänzchen samt Hüftschwung mit einer übergroßen Batterie. Wie ein staunendes Kind mit großen Augen wandelt, nein tänzelt er durch die bunte Warenwelt und bewundert die Fülle der angebotenen Produkte, als würde er deren Vielfalt zum ersten Mal bemerken. Zum anderen entsteht die Ironie dadurch, dass nicht nur vermeintliche Lifestyle-Lebensmittel („Sushi“, „Cookies“) hervorgehoben werden, sondern auch solche („Dorsch“, „Klopapier“), die weniger werbeaffin erscheinen – hier sind sie alle supergeil.

 „Geil“ im Wandel der Zeiten

Bereits das Althochdeutsche, das etwa zwischen 750 und 1050 gesprochen wurde, kannte das Wort „geil“, jedoch in der Bedeutung von „übermütig“ oder „überheblich“. Im Mittelhochdeutschen, gesprochen etwa zwischen 1050 und 1350, bedeutete „geil“ „von wilder Kraft“, „mutwillig“, „üppig“, „lustig“ oder „begierig“. Seit dem 15. Jahrhundert wurde „geil“ synonym für oder als Anspielung auf Lüsternheit oder sexuelle Begierde verwendet (vgl. bspw. Wolfgang Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen). „Geilheit […] ist in der Natur eine Neigung und Vermögen zur Fortpflanzung“, heißt es in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigen Universallexicon Aller Wissenschafften und Künste, das in den Jahren 1731 bis 1754 erschien (hier Band 10, Seite 637). Und weiter: „[…] In der Tugend-Lehre ist die Geilheit ein Laster, welches die Maaß im Gebrauch der fleischlichen Beywohnung überschreitet und der Zucht und Keuschheit zuwieder ist“.

Diese sexuelle und tendenziell negative Konnotation sollte „geil“ lange behalten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte das Wort einen weiteren Bedeutungswandel, indem es zunehmend Verwendung in der Jugendsprache fand. Die Bedeutung von „sexuell erregt“ erweiterte sich ab Mitte der 1970er Jahre in Richtung „sexuell attraktiv“. Seit den 1980er Jahren wird „geil“ umgangssprachlich im Sinne von „in begeisternder Weise schön, gut; großartig, toll“ verwendet, so die Duden-Redaktion. Lieder wie Geil von Bruce & Bongo aus dem Jahr 1986 oder Geile Zeit von Juli aus dem Jahr 2004 verdeutlichen, dass „geil“ nicht mehr zwangsläufig sexuell und auch nicht negativ-anrüchig konnotiert sein muss. „Geil wird das neue Liebe der Popmusik“, so die Einschätzung auf dem Blog Köln News.

Den Beleg, dass an der Verwendung des Wortes „geil“ mittlerweile mehrheitlich kein Anstoß mehr genommen wird, liefert denn auch die Entscheidung der Edeka-Verantwortlichen, ihre Produkte im Jahr 2014 als supergeil zu bewerben. Im Video mit Friedrich Liechtenstein sind entsprechend nicht nur junge, attraktive und leicht bekleidete Menschen zu sehen, sondern die unterschiedlichsten Personengruppen: Neben der auf einer Couch liegenden, Sushi essenden jungen Frau und den Verkäuferinnen in knappen Schürzen und hohen Schuhen sind auch ältere Damen bei einem gepflegten Kaffeekränzchen, eine Frau mittleren Alters, die liebevoll den Frühstückstisch der Familie deckt, Kinder bei einer Party und Jugendliche beim Zocken zu sehen – schließlich sind sie alle Konsument*innen.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Hinweis: Der Artikel erschien in kürzerer Form und mit Fokus auf die Supermarktkette Edeka bereits in Anno: Das Magazin der Medienjubiläen. Hrsg. von Markus Behmer (2023) am Institut für Kommunikationswissenschaft der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Online abrufbar hier.

Muss man die Liebe gießen? „In meinem Garten“ von Reinhard Mey und seine französische Übersetzung

Reihard Mey

In meinem Garten

In meinem Garten, in meinem Garten
Blühte blau der Rittersporn,
Zwischen dem Unkraut, in meinem Garten,
Im Geröll in meinem Garten,
Wo die anderen Blumen verdorr'n.
In meinem Dache, in meinem Dache
Baut' ein Rabe sich sein Nest,
Unter meinem brüchigen Dache,
Unter dem zerfallenen Dache,
Wo der Wind durch die Balken bläst.

In mein Leben, in mein Leben
Hat sie sich zu mir verirrt,
Und sie nahm Platz in meinem Leben,
Platz in meinem engen Leben
Und hat meine Gedanken verwirrt.
Was ich besaß, hab' ich ihr gegeben
An Vernunft und an Verstand,
Meine Seele ihr gegeben,
Mag's der liebe Gott vergeben,
Weil ich sonst nichts zu schenken fand.

In meinem Garten, in meinem Garten
Goss ich meinen Rittersporn,
Jätete Unkraut in meinem Garten,
Harkte emsig meinen Garten,
Doch die Blume verwelkte im Zorn.
Für den Raben in meinem Dache
Deckt' ich Ziegel Stück für Stück,
Wo es Löcher gab im Dache,
Doch ins Nest unter dem Dache
Kam der Rabe nie mehr zurück.

Seit jenem Tag, an dem der Rabe
Sein geschütztes Nest verschmäht',
Seit ich die Blume trug zu Grabe,
Meine Ruhe nicht mehr habe,
Bitt' ich, dass sie nicht auch von mir geht.
Ginge sie fort, ging' auch mein Leben,
Und das ist kein leeres Wort.
Was ich besaß, hab' ich vergeben,
Meine Seele und mein Leben,
Und die nähme sie mit sich hinfort.

[Reihard Mey: Aus meinem Tagebuch. Intercord 1970.]
Frédérik Mey

Dans mon jardin

Dans mon jardin, dans mon jardin
Fleurissait la dauphinelle.
Au milieu des pierres de mon jardin,
Dans le sable aride de mon jardin,
Où se meurent même les immortelles.
Dessous mon toit, dessous mon toit
Un corbeau faisait son nid.
Sous les tuiles brisées qui font mon toit,
Sous les poutres bancales de mon toit,
Où les quatre vents ont leur abri.

Dans ma vie, dans ma vie
Elle est venue s'égarer.
Et elle s'est installée dans ma vie,
Et a pris tant de place dans ma vie
Que j'en suis tout déconcerté.
Je lui ai donné, je lui ai donné
Tout ce qui m'appartenait.
La tendresse que j'avais à donner,
Mon amour, mon âme, j'ai tout donné.
Elle est tout ce que j'ai désormais.

Dans mon jardin, dans mon jardin
Je soignais la dauphinelle.
J'enlevais les pierres de mon jardin,
J'arrosais le sable de mon jardin.
Mais la fleur est morte de tant de zêle.
Sur mon toit, sur mon toit
Une à une, j'ai remplacé
Les tuiles et les poutres de mon toit,
Mais le nid du corbeau sous mon toit
Depuis s'est trouvé déserté.

Depuis le jour, depuis le jour
Où la fleur bleue s'est fanée,
Où le corbeau s'est envolé sans retour,
J'ai peur qu'elle ne dédaigne mon amour
Et regrette sa liberté.
Depuis ce temps, depuis ce temps
Pour qu'elle reste, je prie.
Je ne voudrais plus vivre comme avant,
Sans elle, un jour, une heure seulement.
Avec elle, s'en irait ma vie.

[Frédérik Mey: Edition Francaise Vol. 2. Intercord 1973.]

In Deutschland wird es kaum einen Menschen geben, der Reinhard Mey nicht kennt. 28 Studioalben hat er seit 1967 veröffentlicht und denkt auch mit über 80 Jahren noch nicht ans Aufhören: Nummer 29, Nach Haus, ist für Mai 2024 angekündigt. Hierzulande wenig bekannt ist dagegen das französische Alter Ego des Sängers, Frédérik Mey, unter dem er immerhin sieben Alben auf den Markt brachte. Die Karriere begann zweisprachig. „[…] Als ich dann anfing, Musik zu machen, kam mir der Gedanke, Mensch, du hast ja eine zweite Sprache, laß sie nicht brach rumliegen […]“, kommentiert der Liedermacher selbst diese Entscheidung.

Die Zweisprachigkeit war ein Geschenk seiner Eltern. Deren Freundschaft mit einer französischen Familie überdauerte den Zweiten Weltkrieg, Reinhard Mey verbrachte vielfach die Ferien im Nachbarland und besuchte außerdem ab der fünften Klasse die französische Schule in Berlin. Auch als laut eigener Aussage schlechter Schüler bestand er das deutsche und das französische Abitur. Seine hervorragenden Französischkenntnisse führte er später vor allem auf das pädagogische Geschick seines Vaters zurück; als Lehrling beim Pharmaunternehmen Schering dolmetschte er für französische Gäste.

Zu einer Laufbahn als Industriekaufmann fühlte der junge Reinhard sich nicht berufen, auch das BWL-Studium brach er ab. Seine wahre Begabung lag nun einmal im Schreiben und Interpretieren von Liedern und nach einigen Jahren der Auftritte in kleineren Sälen stellte sich schließlich der bis heute andauernde kommerzielle Erfolg ein.

In Frankreich ging es sogar noch schneller, wobei der Weg dorthin über Belgien führte. Meys Auftritt auf dem Chansonfestival in Knokke im Jahre 1967 begeisterte den französischen Plattenproduzenten Nicolas Péridès, ein Jahr später erschien Frédérik Mey Volume 1. Das französischsprachige Debüt wurde mit dem „Prix International“ der Académie de la Chanson Française ausgezeichnet, der sich wiederum auf Reinhard Meys Karriere in Deutschland positiv auswirkte. Vierzehn Jahre lang lief sie in beiden Ländern parallel, 1982 erschien mit Volume 6 Frédérik Meys vorläufig letztes Album. Erst im Jahre 2005 meldete er sich mit Volume 7 – Douce France zurück.

Viele Lieder aus der frühen Schaffensphase existieren in beiden Sprachen. In einigen Fällen wurden sie im gleichen Jahr geschrieben, in anderen ist die französische Fassung einige Jahre jünger. Manches, das durch Erlebnisse in einem Sprachraum inspiriert wurde, ist in diesem Sprachraum geblieben: Christine von 1969, ein Liebeslied an die aus Frankreich stammende erste Ehefrau, wurde nie auf Deutsch gesungen. Die unter anderem mit Hannes Wader und Schobert Schulz begangenen und in der Trilogie auf Frau Pohl von 1964/1965 festgehaltenen Jugendsünden sind dagegen dem französischen Publikum nie zu Ohren gekommen.

Sowohl in der Muttersprache als auch in der Zweitsprache schrieb Reinhard Mey In meinem Garten. Die deutsche Fassung entstand 1969 und wurde Teil seines dritten deutschen Albums Aus meinem Tagebuch. In vier Strophen werden eine Pflanze, ein Vogel und ein Mensch besungen, die vielleicht ein und dasselbe sind…

Das Reimschema der Strophen ist abaabcdccd, wobei in der zweiten Strophe anstelle von c wiederum a auftaucht. Im ersten Vers jeder Strophe mit Ausnahme der vierten wird eine Wortgruppe („in mein[em] x“) zweimal wiederholt. Bei den Endreimen handelt es sich häufig um Wortwiederholungen: Sowohl in der ersten als auch in der dritten Strophe ist a stets „Garten“, c stets „Dache“. In der zweiten Strophe ist a das Wort „Leben“, das sich auch in der vierten Strophe zweimal am Versende findet, dort allerdings an Position c. Sehr oft verwendet wird im gesamten Text auch das Possessivpronomen „mein“.

Die Parallelen auf der formalen Ebene deuten bereits auf inhaltliche Parallelen hin. In der ersten und dritten Strophe ist von Rittersporn und einem Raben die Rede, während die zweite und vierte von einer Frau sprechen. Dabei kann man den Rittersporn bei einem Künstler, der sein gesamtes Leben in Berlin verbracht hat, als Hommage an die Heimat betrachten, da die hoch wachsende und blau blühende Staude eng mit dem Namen Karl Foersters (1874-1970) verbunden ist. Dieser wirkte in Bornim (heute ein Ortsteil von Potsdam) und züchtete fast 70 verschiedene Sorten.

Delphinium, so sein wissenschaftlicher Name, gehört zur Familie der Hahnenfußgewächse und soll unter anderem wundheilend und entzündungshemmend wirken. Die Pflanze steht für eine ritterliche Haltung und edle Gesinnung, das Blau ihrer Blüten verspricht beständige Liebe. Ebenso wie andere blau blühende Pflanzen soll Rittersporn heilend auf die Augen wirken; die elsässische Odilie, Schutzpatronin der Augenkranken, trägt eine Blüte als Attribut. Die mediterrane Art Delphinium ajacis L. wird auch mit Leid und Trauer assoziiert, da man die Zeichnung auf den inneren Kronblättern als griechisch „αι“ (ai) lesen kann, einen Ausruf der Klage.

Der Rabe gilt als besonders klug und zur Weissagung fähig; bekannt sind Odins zwei Raben, die dem Gott alle Neuigkeiten berichten. Andererseits steht er dem Tod nahe, gilt als Galgenvogel und Teufelstier und ist in der christlichen Ikonographie Symbol der Avaritia (Geiz / Gier) oder des sündhaften Menschen. Möchte man die beiden im Lied erwähnten Teile der Natur als Symbole sehen, sind sie also recht ambivalent.

In der ersten Strophe wird die Ausgangssituation beschrieben. Der Garten des lyrischen Ich war in einem schlechten Zustand, geprägt von „Unkraut“ und „Geröll“, doch der Rittersporn blühte darin. Auch um das Haus mit seinem „brüchigen“ und „zerfallenen“ Dach stand es nicht besser, was einen Raben nicht davon abhielt, sich dort sein Nest zu bauen. In der dritten Strophe wird das lyrische Ich tätig, um bessere Bedingungen zu schaffen: Der Rittersporn wird gegossen, der Garten auf Vordermann gebracht, neue Ziegel schließen die Löcher im Dach. Das Ergebnis ist das genaue Gegenteil des eigentlich Bezweckten – der Rittersporn verwelkt, der Rabe lässt sich nicht mehr sehen.

Die zweite Strophe erzählt von der Begegnung mit einer Frau, die sich im „engen Leben“ des lyrischen Ich niedergelassen hat. Der Sprecher glaubt, ihr etwas schuldig zu sein, gibt ihr alles, was er „an Vernunft und an Verstand“ erübrigen kann, sowie seine Seele. In der vierten Strophe erinnert er sich an seine Erfahrungen mit Rittersporn und Rabe zurück (seine „Ruhe“ hat er dadurch verloren) und verleiht seiner Sorge Ausdruck, trotz (oder wegen?) der erbrachten Opfer auch die geliebte Frau zu verlieren. Das Wort „Seele“ wird als Gabe an sie erneut erwähnt, als weitere Gabe wird das „Leben“ genannt. Dieses wird bereits in der zweiten Strophe mehrfach erwähnt, dort jedoch wie ein Ort beschrieben, den die Frau betreten hat.

Die französische Version Dans mon jardin wurde 1971 geschrieben und auf dem Album Volume 2 veröffentlicht – gemeinsam mit völlig anderen Stücken als das deutsche Original. Hier finden wir neben zahlreichen weiteren Übereinstimmungen das gleiche Reimschema wie in der deutschen Fassung vor. Die Wiederholungen von Wortgruppen im ersten Vers jeder Strophe wurden hier noch weiter ausgeführt: Auch die vierte Strophe beginnt so und sogar ihre zweite Hälfte wird auf diese Weise eingeleitet. Während in Strophe eins bis drei „dans mon jardin“ und „dans ma vie“ (also Übersetzungen der entsprechenden Stelle im Deutschen) wiederholt werden, sind es in Strophe vier „depuis le jour“ (seit dem Tag) und „depuis ce temps“ (seit jener Zeit).

Eine zusätzliche Wiederholung findet sich auch in der zweiten Strophe, in deren Mitte es zweimal hintereinander „je lui ai donné“ (ich habe ihr gegeben) heißt. Die Parallelen zwischen Strophe zwei und vier sind also noch stärker als im Original. Ein Wortspiel, das im Deutschen so nicht möglich wäre, hat Frédérik Mey in die erste Strophe eingebaut: Der Garten ist so steinig und der Boden so wenig fruchtbar, dass „se meurent même les immortelles“ (selbst die Immortellen sterben).

Zwar ist der Sprecher im Französischen über die Ankunft der Frau in seinem Leben ebenso „déconcerté“, wie er im Deutschen „verwirrt“ ist, doch ihr Verhältnis wird etwas anders beschrieben. In der deutschen Fassung kommt das Wort „Liebe“ gar nicht vor, in der französischen dagegen zweimal, als Gabe in der zweiten Strophe und in der Formulierung „j’ai peur qu’elle ne dédaigne mon amour“ (ich habe Angst, dass sie meine Liebe verschmäht) in der vierten.

Was im Garten nur angedeutet wird (übertriebene Fürsorge kann erdrückend wirken), spricht der Jardin deutlicher aus. Neben seiner Liebe und seiner Seele hat das lyrische Ich der Frau auch „tendresse“ (Zärtlichkeit) gegeben und befürchtet, sie könnte „regrette[r] sa liberté“ (ihrer Freiheit nachtrauern). Ohne sie möchte er nicht einmal „un jour, une heure seulement“ (einen Tag oder nur eine Stunde) leben – eine Hyperbel, die der deutsche Text nicht enthält.

In der französischen Fassung verwelkt der Rittersporn nicht „im Zorn“, sondern er stirbt „de tant de zêle“ (durch so viel Eifer). Das lyrische Ich bittet nicht nur darum, dass die Geliebte bei ihm bleibt, es hat auch explizit Angst („peur“), sie zu verlieren. Der letzte Vers wiederum ist dem Schluss im Deutschen sehr ähnlich: „Avec elle, s’en irait ma vie“ (mit ihr ginge mein Leben fort).

Dans mon jardin wurde zwei Jahre nach In meinem Garten für ein anderes Publikum geschrieben. Empfand der Autor selbst mit etwas Abstand sein Thema anders und wollte bestimmte Aspekte stärker hervorheben? Wurde seine Entscheidung für andere Formulierungen von anderen Konventionen in französischen Liedtexten beeinflusst? Das Lied Ma liberté von Georges Moustaki wurde in jenen Jahren zunächst von Serge Reggiani und dann vom Autor selbst interpretiert und war Reinhard-Frédérik sicherlich bekannt.

Die berühmte Wirkungsäquivalenz ist trotz der genannten Unterschiede in diesem Falle ebenso gegeben wie bei zahlreichen anderen Selbstübersetzungen von Reinhard Mey. Seine Beherrschung der Nachbarsprache ist beeindruckend. Für des Französischen mächtige Fans des Liedermachers lohnt es sich, auch Volume 1 bis 7 zu entdecken. Ein Textvergleich kann auf Altbekanntes möglicherweise eine neue Sicht eröffnen.

Irina Brüning, Hamburg

Quellen:

Lurker, Manfred (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 51991

Mey, Reinhard (mit Bernd Schroeder): Was ich noch zu sagen hätte, Köln, 2005. Das wörtliche Zitat stammt von Seite 60.

Zerling, Clemens H. (Hrsg. Wolfgang Bauer): Lexikon der Pflanzensymbolik, Darmstadt, 22013

https://www.reinhard-mey.de

https://www.potsdam.de/de/foerster-garten-potsdams-norden

Das „Schwipslied“ aus Erich Wolfgang Korngolds Bearbeitung der Operette „Eine Nacht in Venedig“ von Johann Strauß auf die Melodie der Annen-Polka (1852/ 1883/ 1931)

Erich Wolfgang Korngold (Musik: Johann Strauß)

Schwipslied

Mir ist auf einmal so eigen zumute,
Irgendwas kitzelt und prickelt im Blute.
Irgendetwas trägt mich weit
Weg in Himmels Seligkeit.
Und ich muss lachen, vor Glück muss ich lachen.
Auch weil ich Lust hab‘, was Dummes zu machen.
Fast könnt‘ das ein Schwipserl sein,
Doch dies ist kein Schwips, oh nein!

Vorhin trank ich nur aus einem Glas,
Jetzt sind es schon zwei,
Wie kommt denn das?
Und dann denk‘ ich noch,
Wenn ich nur wüsst‘,
Hab‘ ich heute schon geküsst?

Nein, nein, nein, nein ...

Mir ist auf einmal so [...]

Hopsassa trallala, oh ich weiß, was ich weiß.
Alles steht schief herum, alles dreht sich im Kreis.
Alles, was fest war, ich merke es schon,
Das ist nicht mehr verlässlich, es tanzt mir davon.
Und wenn ich gehe, dann schwebe ich leicht,
Bis ich endlich das Ziel, das ich will, hab erreicht.

Ja, ja, ja, ja ...

Mir ist auf einmal so [...]

  [Eigene Transkription]

Vorbemerkung

Die Operette ist heute vermutlich das in der Breite der Gesellschaft, bei den meisten Musikkritikern und selbst bei vielen Darstellern das am wenigsten geschätzte Genre im Angebot deutscher Bühnen, gilt sie doch als ästhetisch anspruchslos, historisch überholt und gesellschaftspolitisch unbedeutend. Obwohl viele Operetten nach wie vor die zuverlässigsten Kassenmagneten vieler Stadttheater sind und wesentlich dazu beitragen, deren „Ausflüge in die Hochkultur“ zu finanzieren, wie es Marcel Prawy (einstens Chefdramaturg der Wiener Staatsoper) einmal formuliert hat.

Was meine eigene Haltung gegenüber dieser Theatersparte angeht, würde ich diese als neutral bezeichnen; ob mir eine Operette gefällt oder nicht, hängt hauptsächlich von der jeweiligen Inszenierung ab, d. h. von mehr oder minder kreativen Regieeinfällen, der Spielfreude des Ensembles, der gesanglichen Qualität und der Fähigkeit bzw. auch Lust solcher Aufführungen, gängige Routinen des Kulturbetriebs zu durchbrechen, mit ästhetischen Mitteln ein gehöriges Chaos zu verbreiten und dabei etablierte gesellschaftspolitische Normen auf eine lustig-unterhaltsame Weise, also einmal nicht mit didaktisch erhobenem Zeigefinger zu hinterfragen.

Zum Inhalt des Schwipslieds

Der Text des Liedes scheint mir, insbesondere wenn man ihn schriftlich fixiert vor sich sieht, nicht besonders schwierig zu verstehen. Die Sängerin, präziser formuliert: die von der Sängerin dargestellte Figur, steht offensichtlich unter dem Einfluss von Alkohol. Sie diagnostiziert ihre Verfassung und notiert, ebenso interessiert wie belustigt, die physischen und psychischen Wirkungen, die sich daraus für sie ergeben. Das gesamte Lied lässt sich gewissermaßen als Protokoll eines Selbstexperiments verstehen. Obwohl seine Verfasserin vermutlich nicht zu hundert Prozent dem wissenschaftlichen Ideal eines nüchternen Beobachters entspricht, klingen ihre Verlautbarungen glaubhaft, finden sich darin doch die typischen euphorisierenden und enthemmenden Effekte wieder, die man in unserer Kultur üblicherweise mit Alkoholkonsum verbindet. Außerdem belegen ihre Äußerungen eine dezente sinnliche Vernebelung, die zu Unschärfen in der Weltwahrnehmung und eigenen Orientierung führt. Dass sich die Protagonistin – allen Verwirrungen zum Trotz – in ihrer Situation wohlfühlt, bringt sie explizit wie implizit zum Ausdruck: sie spürt des „Himmels Seligkeit“, muss „vor Glück“ lachen, scheint zu schweben. Zur sachlichen Diagnose ihres angeheiterten Zustands fällt ihr spontan der Begriff ,Schwips‘ ein, zunächst in der Wienerischen Verniedlichungsform, den sie aber sofort entschieden zurückweist: „Doch dies ist kein Schwips, oh nein!“

Was ist aber eigentlich ein ,Schwips‘ und warum will sich die Protagonistin partout nicht dazu bekennen? Einem Herkunfts-Wörterbuch kann entnommen werden, dass der im 19. Jahrhundert in Österreich aufgekommene und heute ziemlich aus der Mode gekommene Begriff einen leichten Alkoholrausch bezeichnet, eine gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Vorstufe der Betrunkenheit. Beschwipste Menschen befinden sich in einer aufgekratzten Stimmung, zeigen sich redselig, mitunter auch ein bisschen albern, stehen vielleicht auch nicht mehr ganz stabil auf ihren Beinen, aber sie produzieren keine groben Aussetzer, werden weder aggressiv noch ausfällig und sind insofern gesellschaftlich noch bestens kompatibel. Sprachwissenschaftler interessieren sich womöglich noch dafür, dass der Ausdruck zur mundartlichen Wortfamilie von ,schwippen‘ gehört, die sich auf das sanfte Hin- und Herschwanken von Flüssigkeiten bezieht. Nun aber zurück zum Lied: Die Protagonistin liegt mit ihrem Verdacht, dass sie sich einen Schwips eingefangen hat, sicher richtig, will sich das aber nicht eingestehen, obwohl alle festgestellten Symptome darauf hinweisen und diese leichte Form der Trunkenheit auch gemeinhin als unanstößig gilt. Eine mögliche Erklärung findet sich im Kontext des Liedes und in der Figur der Protagonistin.

Das Schwipslied im Kontext

Das Schwipslied wird häufig als lustige Gesangsnummer im Rahmen von Show-Konzerten populärer Opern- und Operettenstars dargeboten. In diesen Fällen kann sich das Publikum daran verlustieren, wie eine berühmte Gesangsvirtuosin eine beschwipste Person mimt, die darum kämpft, ihre aufrechte Haltung und Melodielinie zu halten, obwohl ihr beides entgleitet oder wenigstens zu entgleiten droht. Die Komik funktioniert in diesem Fall in doppelter Weise, insofern das Publikum einerseits die Artistik der Imitation bewundert, also mit der Künstlerin lacht, sich andererseits aber auch über die dargestellte Figur (nicht die Sängerin!) erhebt, die vom Schwips beeinträchtigt wird und sich gewissermaßen öffentlich zum Affen macht. Diese Form der Komik, die zum Verlachen eines komischen Objekts führt, hat der französische Philosoph Henri Bergson ausführlich untersucht.   

Mit einem genaueren Kontext wird das Schwipslied in der Operette Eine Nacht in Venedig ausgestattet, wobei auch diese Verhältnisse keinesfalls einfach zu beschreiben sind. Einigermaßen verwickelt ist schon die Handlung dieser 1883, ausnahmsweise in Berlin uraufgeführten Operette von Johann Strauß (Sohn), dem sog. ,Walzerkönig‘ (1825-1899), aber beinahe unüberschaubar wird das Ganze dann durch die zahlreichen Modifikationen und Bearbeitungen, die das Stück im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erfahren hat. So war das Schwipslied beispielsweise noch gar kein Bestandteil der frühen Aufführungen zu Lebzeiten unter dem Dirigat des Komponisten, sondern wurde erst lange nach dessen Tod, 1931, als Glanznummer von einem Bearbeiter in die Handlung eingebaut, um diese für ein modernes Publikum attraktiver zu machen. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor …

Eine Nacht in Venedig zählt auch heute noch zu den beliebtesten Operetten von Johann Strauß. Sie erreicht zwar weder die Aufführungszahlen einer Fledermaus (1874) oder eines Zigeunerbarons (1885), rangiert aber nicht allzu weit dahinter. Um die Entstehung dieses Werks ranken sich allerlei Anekdoten, die hier nicht aufgewärmt werden müssen, nur so viel sei gesagt, dass es wohl ein Herzensanliegen des Komponisten gewesen ist, eine Operette mit dem Schauplatz Venedig seinem Repertoire hinzuzufügen, so dass er seine Librettisten Friedrich Zell (bürgerlich: Camillo Walzel) und Richard Genée entsprechend instruierte, ihm ein passendes Skript zu liefern. Schließlich entstand – unter Rückgriff auf eine französische Grundidee, wie die Autoren im Titel freimütig gestehen, – eine typische Komödienhandlung im Geschmack der Commedia dell’arte, bei der die Protagonisten um Geld- und Liebesangelegenheiten ringen, sich vermittels allerlei Intrigen bekriegen, wobei Sein und Schein ordentlich durcheinandergeraten, Identitäten fingiert, Betrüger betrogen werden, sich am Ende die verwickelten Verhältnisse aber dann doch so auflösen, dass der poetischen Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Zuschauer mit guten Gefühlen nach Hause oder zu einem zünftigen Souper gehen können.

Ort der Handlung ist also die berühmte Lagunenstadt, die seit dem Frieden von Wien (1866) nicht mehr zu Österreich gehörte, sondern an das mit Preußen verbündete Königreich Italien gefallen war. Die frühere, seit der Besetzung durch Napoleons Soldaten an ihr Ende gelangte Adelsrepublik konnte ihren Besuchern im ausgehenden 19. Jahrhundert nur noch einen Schatten früheren Glanzes bieten, der allerdings von zahlreichen, vorwiegend deutschen Künstlern zum Mythos ihrer selbst aufpoliert wurde. Nicht von ungefähr verlagert Strauß die Handlung seiner Operette in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, als Venedig dank einer protektionistischen Luxusindustrie (Glasherstellung) und des aufkommendem Tourismus seine schwindende überregionale Bedeutung im Fernhandel und für das europäische Bankwesen sowie als militärisches Bollwerk gegen das osmanische Reich noch halbwegs überspielen konnte.

So ist die Hauptperson in Straußens Operette auch einer jeder frühen Touristen, nämlich der überaus potente Herzog von Urbino (Guido), der es sich in den Kopf gesetzt hat, die Lagunenstadt im Karneval heimzusuchen und seine eigene Frau mit einer venezianischen Schönheit zu betrügen. Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, hat er die Senatoren der Stadt mit ihren Frauen zu einem großen Maskenball eingeladen und damit in helle Aufregung versetzt, wissen sie doch ganz genau, was der edle Schwerenöter im Schilde führt. Andererseits weiß man aber auch um dessen Reichtum und wittert die Gelegenheit, für sich lukrative Pöstchen zu ergattern. Guido hat besonders eine Frau im Visier, der er zwar noch nie begegnet ist, der aber der Ruf außergewöhnlicher Attraktivität vorauseilt: Barbara, die Gattin des ebenso alten wie raffgierigen Delacqua. Der heckt nun einen Plan aus, um seine Frau vor dem Lustmolch in Sicherheit zu bringen, diesen aber dennoch insoweit zufriedenzustellen, dass für ihn die Stellung eines herzoglichen Verwalters abfällt. Komödientypisch soll die schöne Barbara heimlich per Gondel in ein Kloster verfrachtet werden und Zofe Ciboletta ihre Rolle beim feudalen Maskenfest übernehmen, Guido sozusagen zum Fraße überlassen werden …

So schön Delacqua auch seinen Plan erdacht hat, erweist sich doch bald, dass diese Rechnung ohne diverse Wirtinnen und Wirte gemacht wurde, die jeweils eigene Zwecke verfolgen. Da gibt es z. B. einen strammen Neffen des Senators, den die hübsche Barbara begehrt, weshalb ihr die verordnete Verschickung ins geistliche Refugium gerade recht kommt, um ihrem Ehetyrannen zu entfliehen. Während der sie durch ihre Zofe ersetzt, sorgt sie selber für anderen Ersatz, indem sie ihre Milchschwester, das Fischermädchen Annina, anheuert, um sie – natürlich entsprechend verkleidet – bei der Klosterverfrachtung zu repräsentieren. Und dann bleibt auch der Herzog nicht passiv. Sein umtriebiger Leibbarbier Caramello soll ihm Barbara zuführen. Der erwischt das Objekt der fürstlichen Begierde auch tatsächlich auf der Flucht und entführt sie in den Palast, nur um dort zu entdecken, dass im Gewand der Senatorin Annina steckt, die er sehr gut kennt, weil er ihr schon seit längerem den Hof macht. Nun ist seine Verzweiflung groß, größer noch seine Eifersucht, weil die Fischerstochter das Hofleben und die Komplimente des Herzogs zu genießen scheint. In dieser Phase der Handlung lässt sich das Schwipslied zwanglos in die Operettenhandlung einbetten.

Trotz aller Anstrengungen kommt Guido bei Annina nicht zum Zuge, weil ihm irgendwie immer wieder irgendwelche Störungen, der eifersüchtige Caramello oder andere Festgäste in die Quere kommen. Dann stoßen die anderen Senatoren mit ihren Damen hinzu, und auch Delacqua findet die Gelegenheit, dem Herzog seine vorgebliche Gemahlin, die Zofe Ciboletta vorzustellen, die sich offensiv an den Gastgeber heranmacht, hofft sie doch, aus diesem eine Anstellung für den eigenen Liebhaber herauszuschlagen. Guido ist einigermaßen verwirrt, sich nun plötzlich mit zwei Barbaras konfrontiert zu werden, die sich im Finale noch zu einem Trio erweitern sollen, weil beim großen Maskentreiben auf dem Markusplatz auch noch die echte Senatorengattin an der Seite ihres Liebhabers auftaucht, wobei sie Delacqua glauben macht, der Neffe hätte sie aus den Fängen eines kriminellen Gondoliere gerettet. Vor dem Herzog ist sie übrigens sicher, wenigstens vorläufig, denn der hat sich die ihm sehr angenehme Nähe Anninas dauerhaft gesichert, indem er ihrem Caramello den allseits begehrten Verwalterposten übertragen hat.

Aus dem Handlungskontext der Operette ergibt sich, dass der Konsum prickelnder alkoholischer Getränke wie die gesamte Atmosphäre im herzoglichen Palast für die Fischerstochter Annina eine ganz und gar neue Erfahrung darstellt, die sie verwirrt, aber die sie auch fasziniert. Sie ist mit den Normen dieser Umgebung nicht vertraut und weiß demzufolge auch nicht, ob es sich für sie – in der Rolle einer Senatorengattin – ziemt, ein Schwipserl zu haben. Vorsichtshalber bestreitet sie es …     

Bearbeitungen und Bezüge

Schon im Jahr der Uraufführung gab es zwei, vom Komponisten selbst geschaffene Fassungen der Operette. Nachdem das Werk beim Berliner Publikum durchgefallen war, veränderte Strauß es erheblich für die wenige Tage später angesetzte Wiener Premiere, die von den Zuschauern auch prompt enthusiastisch gefeiert wurde. Für diesen Erfolg waren allerdings wohl nicht nur Verbesserungen am Text und neue Musiknummern ausschlaggebend, sondern auch die damaligen Aversionen zwischen Preußen und der Habsburger-Monarchie, aufgrund derer die Wiener Theatergänger die Misshandlung ihres Lieblings in Berlin nicht einfach hinnehmen konnten. Die sog. ,Berliner Fassung‘ wurde hinfort kaum mehr gespielt, dafür erhielt die Wiener Version der Operette bald auch auf deutschen und sogar Berliner Bühnen regen Zuspruch. Als der im neuen Jahrhundert abflaute, fanden sich etliche Bearbeiter, die das Werk im Hinblick auf die lokalen Gegebenheiten eines Aufführungsortes sowie den veränderten Zeitgeist und Publikumsgeschmack modifizierten bzw. modernisierten.

Unter diesen Bearbeitern ragt aufgrund seiner musikalischen Befähigung, aber auch seiner Wirkung auf die spätere Aufführungsgeschichte der Operette Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), als renommierter Opernkomponist ein Vertreter der modernen Klassik, zugleich zweifacher Oscarpreisträger für Filmmusik, heraus. Korngold mochte Operetten, von denen er seit den 1920er Jahren mehrere unter seine Fittiche nahm, darunter Stücke von Leo Fall, Jacques Offenbach und Johann Strauß. Dessen venezianische Verwechslungskomödie nahm er sich gleich mehrfach vor, und 1931 baute er dabei auch das Schwipslied als besonders wirkungsvolle Gesangsnummer in die Operettenhandlung ein. Die Inspiration dazu dürfte er in Jacques Offenbachs Opéra-bouffe La Périchole (Die Straßensängerin), UA Paris 1868, gefunden haben, die nicht wenige Gemeinsamkeiten zur Nacht in Venedig aufweist: Auch dort wird eine junge hübsche Frau aus der Unterschicht in einen Palast gelockt, wo sie sich endlich einmal satt essen und feinem Wein zusprechen darf. Da kann ein ordentlicher Schwips nicht ausbleiben, was Offenbach in der „Griserie-Ariette“ (Schwips-Arie) zum Vergnügen seines Publikums dokumentiert hat:

Von Offenbachs Schwips-Arie zu Korngolds Schwipslied war es nur ein kleiner Sprung. Die fehlende Melodie komponierte dieser aber nicht selbst, sondern entwendete sie aus dem Frühwerk von Johann Strauß höchstselbst, der ja vor seinem Operetten-Schaffen nicht nur unzählige populäre Walzer komponiert hatte, sondern auch kaum weniger beschwingte Polkas, wobei seine vielen Märsche und Quadrillen noch gar nicht erwähnt sind. Eine der bis heute beliebtesten Kompositionen von Johann Strauß ist seine Annen-Polka (op. 117), die er 1852 für das Annen-Fest im Wiener Prater geschrieben hatte. Dass Korngold gerade diese Melodie für sein Schwipslied ausgewählt hat, ist als besonderer Glücksgriff zu würdigen.

Bei heutigen Aufführungen Einer Nacht in Venedig kommt es darauf an, im Kontext der jeweiligen Inszenierungs-Idee und nach den gesanglichen und darstellerischen Möglichkeiten des verfügbaren Personals eine stimmige Balance zwischen dem komischen und dem koketten Potential des Liedes und dem Charakter der agierenden Figur zu finden. Wenn man ein wenig in einschlägigen Theaterkritiken und Videodokumentationen herumstöbert, kann man sich ein eigenes Bild machen, inwiefern dies da und dort mehr oder weniger gelungen ist ….  

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Volker Klotz: Operette. Portrait und Handbuch einer unerhörten Kunst. Kassel: Bärenreiter 2004.

Marion Linhardt: Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing: Schneider 1997.

Johann Strauß: Eine Nacht in Venedig. Operette in drei Akten. Hrsg. und eingeleitet von Anton Würz. Stuttgart: Reclam 1999 (= RUB 7752).

Einschlägige Wikipedia-Artikel.