„Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier“ – Friedensvorstellung eines Mädchens in Nicoles „Ein bißchen Frieden“ (Text: Bernd Meinunger)

Nicole (Text: Bernd Meinunger)

Ein bißchen Frieden

Wie eine Blume am Winterbeginn
Und so wie ein Feuer im eisigen Wind
Wie eine Puppe, die keiner mehr mag
Fühl ich mich an manchem Tag

Dann seh ich die Wolken, die über uns sind
Und höre die Schreie der Vögel im Wind
Ich singe aus Angst vor dem Dunkeln mein Lied
Und hoffe, dass nichts geschieht

Ein bißchen Frieden, ein bißchen Sonne
Für diese Erde, auf der wir wohnen
Ein bißchen Frieden, ein bißchen Freude
Ein bißchen Wärme, das wünsch ich mir
Ein bißchen Frieden, ein bißchen Träumen
Und daß die Menschen nicht so oft weinen
Ein bißchen Frieden, ein bißchen Liebe
Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier

Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel
Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt
Allein bin ich hilflos, ein Vogel im Wind
Der spürt, dass der Sturm beginnt

Ein bißchen Frieden, ein bißchen Sonne [...]

Sing mit mir ein kleines Lied
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Sonne
Für diese Erde, auf der wir wohnen)
Daß die Welt in Frieden lebt
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Freude
Ein bißchen Wärme, das wünsch ich mir)

Singt mit mir ein kleines Lied
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Träumen
Und daß die Menschen nicht so oft weinen)
Daß die Welt in Frieden lebt
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Liebe
Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier)

     [Nicole: Ein bißchen Frieden. Jupiter 1982.]

Ein bißchen Frieden ist die dritte Single der Sängerin Nicole, mit der sie 1982 den Grand Prix Eurovision de la Chanson in Harrogate gewann und somit den ersten Sieg nach Deutschland brachte. Nicole erreichte mit dem Lied zum ersten und letzten Mal den 1. Platz der Charts in Deutschland und in weiteren europäischen Ländern, sowohl mit der deutschsprachigen als auch mit übersetzten Versionen des Liedes.

Entstehungsgeschichte und Weg zum Erfolg

Ein bißchen Frieden entstand aus einer Meinungsverschiedenheit zwischen Komponist Ralph Siegel und Texter Bernd Meinunger. Siegel hatte schon sechs Lieder komponiert, die die Finalrunde des Grand Prix erreichten, aber noch nie gewonnen. Seit 1979 arbeitete er zusammen mit Meinunger. 1982 wollte er für Deutschland ein Friedenslied komponieren, was aber Meinunger nicht wollte, später aber dazu sagte: „Höchstens ein bißchen Frieden“. So wurde der Titel gefunden. Nicole Hohloch war schon seit 1981 bei Jupiter Records mit Robert Jung und Ralph Siegel unter Vertrag und war 1981 beim deutschen Vorentscheid mit dem Lied Flieg’ nicht so hoch, mein kleiner Freund ausgeschieden. Das Lied wurde aber ein kommerzieller Erfolg (Platz 2 der deutschen Charts). Ein Jahr später verfehlte sie beinahe auch den Einzug ins Finale des deutschen Vorentscheids, Ein bißchen Frieden erreichte nur den 24. und somit letzten Platz des radiophonischen Halbfinales. Nicole gewann dann aber die Vorentscheidung am 20. März 1982 in München und durfte Deutschland am 24. April 1982 in Harrogate vertreten.

Analyse

Am Anfang des Liedes erwähnt das Sprecher-Ich seine  Zerbrechlichkeit, ja seinen Schmerz in einer kriegerischen Welt. Es präsentiert sich als das kleine unschuldige Mädchen, das Angst („Ich singe aus Angst“) und gleichzeitig Hoffnung darauf hat, dass die Welt besser wird. In der ersten Strophe vergleicht sie sich jeweils mit einer Blume, dem Feuer und einer Puppe, die alle drei in ihrer Existenz gefährdet sind. Die Blume blüht „am Winterbeginn“, wird also nicht überleben können; das Feuer knistert „im eisigen Wind“, kann also nicht wärmen; die Puppe hat keiner mehr lieb, sie ist also nutzlos. In der 3. Strophe verwendet es ein mit den „Vögel[n] im Wind“ ambivalentes Bild, das Freiheit und Hilflosigkeit gleichermaßen symbolisiert. Das Sprecher-Ich erscheint bis hierher immer erst zum Ende der Strophen bzw. des Refrains (1. Strophe: „Fühl ich mich“; 2. Strophe: „Und hoffe“; Refrain: „das wünsch ich mir“; Refrain: „Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier“). Nach dem Refrain ändert sich dies: Das „Ich“ eröffnet und dominiert die 3. Strophe : „Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel / Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt / Allein bin ich hilflos“. Der Hinweis des Ich auf seine eigene Einsamkeit wird aber dadurch konterkarriert, dass es drei Mal die Pronomina „wir“ und „uns“ gebraucht, zweimal spricht das Ich von den „Menschen“, die genauso hilflos und traurig wie es selbst sind. Am Ende fordert es gar das Publikum auf, mitzusingen (die letzten 45 Sekunden, d.h. immerhin ein ganzes Viertel des Liedes lang, das drei Minuten dauert). Diese Aufforderung wird sogar gesteigert, es heißt nämlich zuerst „Sing mit mir“, schließlich „Singt mit mir“. In dieser Aufforderung kommt erneut das Wort „Frieden“ vor, es geht aber nicht mehr nur um „ein bißchen Frieden“, sondern darum, „daß die Welt in Frieden lebt“. Der Frieden wird im ganzen Lied metonymisch durch „Sonne“, „Freude“, „Wärme“, „Träume“, und schließlich, „Liebe“ ausgedrückt und dadurch mit positiven, erfreulichen Gefühlen assoziiert. Dagegen wird das Wort „Krieg“ nicht erwähnt, doch können die Wörter „Wolken“ und „Dunkel[]“ in der 2. Strophe als metonymischer Ersatz für den bedrohlichen Krieg verstanden werden, der sowohl „Angst“ als auch die Tränen der Menschen verursacht.

Musikalisch ergibt sich der Erfolg des Liedes aus einer sehr einfachen, an Volkslieder erinnernden Melodie. Raffinierterweise ist im Hintergrund bei den beiden ersten Strophen und dem Refrain von Anfang an die Melodie des auffordernden Schlusses zu hören; „Singt mit mir ein kleines Lied […]“: Sie wird von den Instrumenten als Begleitung gespielt. Umgekehrt hört man während des Schlussteils die Melodie der Strophen. Damit wird erreicht, dass der Hörer von Beginn an beide Melodien im Ohr hat. Das wiederum trägt zum Ohrwurmcharakter des Liedes bei, und wenn es dann heißt „Singt mit mir […]“, ist das Mitsingen (erstaunlicherweise) kein Problem. Der Chor nimmt die Aufforderung an und singt gleichzeitig den Refrain. Im 2. Refrain nach der 3. Strophe gibt es außerdem eine Rückung, d.h. einen plötzlichen Tonwechsel: Die Melodie wird nun einen Ton höher gesungen und begleitet, was eine klimaktische Wirkung hat. Das Lied wird zu einem herzigen Bittgesang in strahlendem Dur.

Erfolg und Rezeption

Interpretin und Text bilden in Harrogate eine idealtypische Einheit: Hier singt ein kleines naives Mädchen, das immer wieder die Welt nicht mehr versteht, mit der erstaunlichen Konklusion, dass sie ja nur „ein bißchen Frieden“ haben will. Das Bühnenbild ist perfekt: Die Farbe weiß dominiert (Farbe der Unschuld und des Friedens), Nicole sitzt auf einem Hocker, hat eine große weiße Gitarre in den Händen, bewegt nur Kopf und Hand – ein sehr einfaches Bühnenbild, das zum Lied passt.

Mit dem Thema „Frieden“ setzen Siegel und Meinunger erfolgreich auf die Friedenssehnsucht einer Gesellschaft, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat und sich nun vor einem Dritten Weltkrieg fürchtet – es ist bemerkenswert, dass das Thema „Frieden“ beim ESC 2015 immer noch funktioniert: Drei Lieder im Finale in Wien behandeln es, der russische Beitrag gelangt damit sogar auf Platz 2.

1982 befindet sich Europa im Kalten Krieg, Deutschland stellt die Grenze zwischen West- und Ostblock dar und befindet sich damit in einer besonders bedrohten Lage. Darüber hinaus erlebt man Friedensbewegungen, etwa gegen den NATO-Doppelbeschluss. Auch Großbritannien, der Gastgeber des Grand Prix, ist im April 1982 in einem Krieg verwickelt. Am Tag nach der Austragung des Wettbewerbs soll der erste britische Flottenverband im Südatlantik eintreffen, um die Falklandinseln zurückzuerobern, die kurz zuvor von Argentinien besetzt worden waren. Das Lied wird im Nachhinein auch ein kommerzieller Erfolg in Großbritannien.

Nicole gewann den Grand Prix mit 161 Punkten und 61 Punkten Abstand zum Zweiplatzierten aus Israel, ihr Lied wird zu einem kommerziellen Erfolg in ganz Europa: In Originalsprache oder übersetzt erreicht es den ersten Platz der Charts in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritannien, Norwegen, Schweden, den Niederlanden und Belgien. Nicole selbst singt das Lied auch auf Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Dänisch und Russisch. Außerdem gibt es Übersetzungen ins Finnische, Schwedische, Serbokroatische, Tschechische sowie in die Sprache Afrikaans und Coverversionen auf Polnisch und Esperanto.

Exkurs: Eurovision Song Contest und Politik

In seiner Publikation ‚Kampf der Kulturen‘, Der Eurovision Song Contest als Mittel national-kultureller Repräsentation unterscheidet Irving Wolther  sieben Bedeutungsdimensionen des ESC, darunter die politische Dimension. Wolther sieht den ESC als „Instrument […], um bestimmte politische Inhalte zu vermitteln“ und unterscheidet „zwischen einer externen und einer internen politischen Dimension“. Die externe politische Dimension betrifft die Eigenschaft, am ESC teilzunehmen, um die politische Sicht eines Landes nach außen zu transportieren. Von einer internen politischen Dimension ist die Rede, wenn der ESC die politische Agenda eines Landes beeinflusst, wenn zum Beispiel ein Staatsoberhaupt ein Grußwort an den Vertreter des Landes schickt oder wenn ein Politiker persönlich beim ESC vor die Kamera tritt. Nicoles Auftritt kann als extern politisch betrachtet werden, denn er stellt sich der Politik des Kalten Kriegs in Europa entgegen und wird in Friedensbewegungen der damaligen Zeit genutzt.

Maxime Bleuzé, Düsseldorf

Literatur:

Anonym: Ein bisschen Frieden. In: Wikipedia [Stand: 04.06.2015].

Gassert, Philipp: Die Vermarktung des Zeitgeists. Nicoles „Ein bißchen Frieden“ (1982) als akustisches und visuelles Dokument, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), Heft 1.

Niggemeier, Stefan: Interview mit Bernd Meinunger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2002, S. 50.

Wolther, Irving: ›Kampf der Kulturen‹, Der Eurovision Song Contest als Mittel national-kultureller Repräsentation. Würzburg 2006. Vgl. S.121-126.

Notopfer Berlin: Bully Buhlans „Ich hab’noch einen Koffer in Berlin“

Bully Buhlan (Text: Aldo von Pinelli)

Ich hab noch einen Koffer in Berlin

Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin,
deswegen muss ich nächstens wieder hin.
Die Seligkeiten vergang’ner Zeiten
sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin.
Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin.
Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn:
Auf diese Weise lohnt sich die Reise,
denn wenn ich Sehnsucht hab’, dann fahr ich wieder hin.

Wunderschön ist’s in Paris auf der Rue Madelaine.
Schön ist es im Mai in Rom durch die Stadt zu geh’n.
Oder eine Sommernacht still beim Wein in Wien.
Doch ich häng, wenn ihr auch lacht, heut’ noch an Berlin.

Lunapark, Wellenbad, kleiner Bär im Zoo,
Wannseebad mit Wasserrad, Tage, hell und froh,
Werder, wenn die Bäume blüh’n, Park von Sanssouci,
Kinder, schön war doch Berlin, ich vergeß’ es nie.

Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin,
deswegen muss ich nächstens wieder hin.
Die Seligkeiten vergang’ner Zeiten
sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin.

Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin.
Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn:
Auf diese Weise lohnt sich die Reise,
denn wenn ich Sehnsucht hab, dann fahr ich wieder hin.

     [Bully Buhlan: Lieber Leierkastenmann. Polydor 1951.]

Jüngere Menschen werden staunen: Es gab tatsächlich Zeiten, in denen Berlin deutsche Schlagzeilen nicht als chronische Pleiten- und Pannenstadt beherrschte, sondern sich als sog. Vorposten der freien Welt im Reich des Bösen als ,Hauptstadt der Herzen’ fühlen durfte. Damals (1948-56) mussten – zunächst in der Bizone, später auch in der Bundesrepublik – Briefe nach Berlin zusätzlich zum normalen Porto mit einer 2-Pfennig-Steuermarke, dem sog. ,Notopfer Berlin’, frankiert werden, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass dieses Gesetz auf größere Kritik stieß. Just in dieser Zeit reüssierte ein netter junger Mann namens Bully Buhlan, 1924 als Hans-Joachim B. in Berlin-Lichterfelde geboren, 1982 in Berlin-Zehlendorf gestorben, zum ersten Teenagerschwarm Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg. Von Michael Jary entdeckt und als Sänger für das Radio Berlin Tanzorchester engagiert, charmierte er mit seiner sanften Stimme zu dezenten Swing- und Boogie-Woogie-Melodien das westdeutsche Publikum der ersten Nachkriegsjahre. Seine damals weitgehend zerstörte, geteilte und im kalten Krieg gefährlich exponierte Heimatstadt besang er nicht selten, und immer mit authentischer Zuneigung. So war er beispielsweise für seine musikalische Reaktion auf die Berlin-Blockade 1948/49 („Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm“) schon respektvoll als „klingende Luftbrücke“ bezeichnet worden (vgl. Heiße Story: Nachkriegswurst und Kohlenmangel, gefunden bei Professor Schlager empfiehlt!). Bully Buhlan interpretierte mehr oder minder alle populären Berlintitel der Operetten-, Kabarett- und Schlager-Geschichte; dessen ungeachtet dürfte der bald zu einem sog. ,Evergreen’ avancierte halb sentimentale, halb zukunftsgewisse Song vom zurückgelassenen Koffer sein Spitzentitel geblieben sein. Inwieweit der von Ralph Maria Siegel komponierte, von Aldo von Pinelli getextet Schlager diesen Status allerdings noch bei Angehörigen jüngerer Generationen wahren kann, wäre erst noch empirisch nachzuweisen. Die häufigen, oft krasse Missverständnisse dokumentierenden Überlieferungsfehler des Textes im Internet stimmen mich da einigermaßen skeptisch …

Identifikationspotential für die deutsche Nachkriegsgesellschaft bietet Bully Buhlans Kofferlied zuhauf: Hier äußert sich ein Ich, das seine „Seligkeiten“ in vergangenen Zeiten erlebt hat und sich gegenwärtig nur noch wehmütig daran erinnern kann. Vertriebenenschicksale, Verlusterfahrungen, aber auch das Herauswachsen aus Kindheits- und Jugendidyllen bilden den emotionalen Resonanzboden dieses Schlagers. Die stichwortartigen Konkretisierungen der „Seligkeiten vergang’ner Zeiten“ im vierten Versblock – „Lunapark, Wellenbad, kleiner Bär im Zoo, / Wannseebad mit Wasserrad, Tage, hell und froh, / Werder, wenn die Bäume blüh’n, / Park von Sanssouci“ deuten eine ungefähre Lokalisierung des Gemeinten an. An dieser Aufzählung fällt neben ihrem offensichtlichen Berlin-Bezug auf, dass der Sänger keinen spektakulären Erinnerungen nachhängt, sondern den alltäglich-kleinen Freuden einer ,heilen Welt’. (Dass bei den blühenden Bäumen von Werder oder dem Stichwort „Sanssouci“ die Vorstellung einer ersten Liebe indirekt mitgedacht werden darf, sollte jetzt nicht als Gegenargument betrachtet werden.) Auch deshalb passen diese „Seligkeiten“ in einen „kleinen“ Koffer, nicht nur, weil sie ideelle Besitztümer darstellen.

Bleiben wir einen Augenblick beim Koffer: Der Koffer war in der Nachkriegszeit – real wie ikonographisch – quasi permanent präsent. Millionen Menschen transportierten damals in schäbigen Köfferchen ihre verbliebene Habe durch die Welt, um – vielleicht – irgendwo eine Bleibe, eine neue Heimat zu finden. Insofern symbolisiert der Koffer in dieser Zeit wie kein anderer Gegenstand die defiziente Existenz der durch Faschismus, Holocaust, Krieg und Vertreibung entwurzelten Menschen. Buhlans chansonartiger Schlager schreibt dem Koffer nun jedoch eine neue, positive Bedeutung zu, denn der von ihm besungene Koffer befindet sich nicht bei seinem Besitzer, der anscheinend – zeituntypisch privilegiert! – ,weltläufig’ (Paris, Rom, Wien) und selbstbestimmt unterwegs ist, sondern er liegt als eine Art ,Brückenkopf’ oder ,Rückversicherung’ an einem Ort, den das Ich (ohne das Wort zu verwenden) als ,Heimat’ betrachtet. Die fünfziger Jahre waren bekanntlich geradezu ,heimatsüchtig’. Angesichts zahlloser Heimatfilme und Heimatschlager, des Erfolgs von Trachtenmode und Regionalparteien spricht die Forschung zur Popularkultur jener Zeit von einer ,Heimatwelle’. In diesem Zusammenhang scheint mir bemerkenswert, dass Buhlans Schlager Heimat nicht in einer der klassischen ,heilen’ Naturlandschaften des zeitgenössischen Heimatdiskurses verortet (Heide, Schwarzwald, Alpen), sondern in der zutiefst kriegsbeschädigten Metropole. Allerdings ist auch wieder unverkennbar, dass deren naturnahe Elemente bei der Aufzählung erinnerter Seligkeits-Momente eine dominante Rolle spielen.

Wird beim Ich die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück übermächtig, kann dieses – gegenüber vielen Heimatlosen und Vertriebenen extrem begünstigte Ich – zu seinem kleinen Koffer voller ideeller Kleinode in Berlin zurückkehren. Schließlich sind da noch ,alle Seligkeiten der vergangenen Zeiten drin’. Dieser Koffer bildet offenbar eine Art ausgelagertes, räumlich verortetes (und damit der rhetorischen memoria-Theorie durchaus kompatibles!) privates Glücksgedächtnis, das eine halbwegs konkrete Rekonstruierbarkeit der bewahrten ,Seligkeiten’ zu verbürgen scheint. Nach Berlin zurückgekehrt wird unser Ich seinen Glücks-Koffer öffnen und die dort bewahrten Dinge wieder ,in Gebrauch nehmen’ können. Wie man sich das genau vorzustellen hat, lässt der Schlager offen. Wichtig ist ihm offensichtlich anderes: erstens eine Botschaft der Solidarität und Verbundenheit an die in der ,Frontstadt’ verbliebenen Berliner, zweitens eine Aufwertung immaterieller – und insofern auch in der Regel nicht verlierbarer – Besitztümer der Erinnerung gegenüber materiellen Werten.

Interessant sind einige Variationen kleiner Partikel im Text. In der ersten Zeile fällt das Wörtchen „noch“, das wahrscheinlich temporal im Sinne von „immer noch“ zu verstehen ist. Dass es nicht „noch, aber nicht mehr lange“ zu lesen ist, klärt die sechste Zeile: „Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn“. In der zweiten Zeile spricht das Ich davon, dass es „nächstens“ wieder nach Berlin „muss“ – das Heimweh scheint also (aktuell) einigermaßen groß zu sein. In der achten Zeile formuliert das Rückversicherungs-Prinzip dann viel allgemeiner: „wenn“ (wohl konditional zu lesen) das Ich Kummer hat, kann es sich durch eine Berlin-Fahrt Erleichterung verschaffen. Bemerkenswert ist schließlich noch der Tempus-Wechsel vom dritten zum vierten Versblock; den Metropolen Paris, Rom und Wien wird Lebensqualität im Präsens zugestanden, Berlin aber „war“ schön. Die Degradierung Berlins wird also wahrgenommen. Dennoch gesteht das Ich seine (irrationale – „wenn ihr auch lacht“) tiefe Verbundenheit gerade zu dieser zerstörten, aktuell nicht mehr schönen Stadt. Explizit angesprochen wird mit „Kinder“ (Vers 16) nicht unbedingt eine jüngere Generation, aber doch wohl ein Publikum, das als westdeutsches, nicht heimatvertriebenes oder wenigstens auf die Zukunft hin orientiertes die Sentimentalität der Ich-Instanz nicht unmittelbar teilt. In der Realität hat Bully Buhlan selbstverständlich den Nerv der deutschen Nachkriegsgesellschaft getroffen. Dass sein Bekenntnis zu Berlin faktisch auf Verständnislosigkeit stoßen könnte, war nicht zu befürchten.

Buhlans sentimentale Berlin-Huldigung wurde später von einigen Film- und Unterhaltungsstars gecovert, deren Leben und Schaffen ebenfalls intensiv mit der geteilten Metropole verbunden war. Von Marlene Dietrich, Hildegard Knef und Harald Juhnke stammen die erfolgreichsten Interpretationen. Mit den Ereignissen von 1989 scheint es mit diesem Lied ebenso bergab gegangen zu sein wie mit den Sympathiewerten für Berlin beim deutschen Steuerzahler.

PS. Der philatelistische Sammlerwert für die alten Steuermarken „Notopfer Berlin“ liegt je nach Druckvariante zwischen wenigen Cent und mehreren tausend Euro. Bully Buhlans Schallplatte kostet heute im Versandhandel so um die zehn Euro.

Hans-Peter Ecker, Bamberg