Ein Pakt auf Leben und Tod: Peter Blaikners Chanson „Schütze du mich vor dem Wasser …“

Peter Blaikner

Schütze du mich vor dem Wasser

Fest verankert vor der Küste, rund um eine Flasche Wein,                       
Liegen wir, sofern die See uns liegen läßt.
Den verschaukelten Gedanken schwanken wir dann hinterdrein,
An den Gläsern halten wir uns fest.
Und wir trinken auf die Götter aller Meere dieser Erde,                    (5)
Mit Poseidon sind wir ohnehin verwandt.
Jeder schließt für sich allein mit dem Schiff den alten Pakt:
Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

Laß dein Schiff wie eine Göttin aus den Wellen auferstehn,
Leg es wie eine Geliebte auf das Meer,                                     (10)
Doch verschenke keinen Strich von deinem Kurs an irgendwen
Und gib höchstens deinen Mageninhalt her.
Um der Sonne zu gefallen, um den Himmel frei zu halten,
Nimm dir Wind und Wetter in die offne Hand
Und verpfände deine Seele an das Ruder, dieses Luder –                     (15)       
Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

Den Schirokko in den Segeln, den Polarstern auf dem Mast
Und die eine Handbreit Wasser unterm Kiel,
Einen ungewaschnen Traum, der in die Kompaßrose paßt,
Für die große Freiheit braucht es gar nicht viel.                          (20)
Und ich grüße dich Dalmatien in der morgenroten Sonne
Mit der Flagge an der Steuerbordwant,
Deine Tränen fließen langsam in den Ozean hinaus –
Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

     [„Wos sogga, der Rocker?“ Songs aus dem Kabarett „nicht undumm“ usw. 1998.]

Der Österreicher Peter Blaikner (geb. 1954 in Zell am See) ist einer der wichtigsten Vertreter des deutschsprachigen Chansons. Dass er auch geniale Kindermusicals (etwa das Cheesical Ritter Kamenbert; Das Hausgeisterhaus; Alex, die Piratenratte; Till Eulenspiegel; König Badeschwamm) schreibt, sei hier nur am Rande erwähnt. (Vielleicht ergibt sich in nächster Zeit ja noch die Gelegenheit den einen oder anderen Knaller aus diesen Werken gesondert vorzustellen, z.B. Das Leben als Käse ist Käse.) Der Begriff ,Chanson‘ ist höchst unscharf, seine Übergänge zum deutschen Schlager bzw. Liedermacher-Lied, aber auch zur angelsächsischen Folk- und Pop-Tradition sind fließend. Wenn wir heute ein Lied umgangssprachlich als ,Chanson‘ bezeichnen, stellen wir uns ein mehr oder weniger literarisch anspruchsvolles Gesangsstück mit Instrumentalbegleitung vor. Evtl. erwarten wir auch thematische oder sonstige Bezüge zur französischen Kulturtradition. Viele Lieder Peter Blaikners passen gut in diesen Rahmen, als studierter Romanist und renommierter Übersetzer George Brassens‘ besitzt er auch den nötigen gallischen Stallgeruch. Manche seiner Lieder sind Übertragungen aus dem Französischen, andere Vertonungen von Texten deutschsprachiger Literaten (wie H.C. Artmann), viele flossen aber auch aus der eigenen Feder. Um ein solches soll es nun gehen.

Der Text umfasst 24 Verszeilen unterschiedlicher Länge, die sich gleichmäßig auf drei Strophen verteilen. Die ersten vier Verse jeder Strophe reimen sich über Kreuz, in der zweiten Strophenhälfte reimen sich nur die Verse sechs und acht, wobei die achte Verszeile jeder Strophe identisch ist:

Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

Durch rhythmische Wechsel, Unregelmäßigkeiten bei den Kadenzen und allerlei Lautkorrespondenzen sowohl bei den nicht reimenden Versenden als auch innerhalb der einzelnen Verse entsteht eine nie monotone, aber dennoch gut singbare Textbasis, deren poetische Qualität Blaikner mit einer klaren, sonoren, immer hervorragend verständlichen Stimme betont. Außerdem legt er seinem Vortrag eine gute Portion Pathos unter. Der Sänger tut gut daran, deutlich zu artikulieren, denn der Sinn dieses Chansons ist im letzten Abschnitt des Liedes wirklich nicht besonders leicht zu erfassen. Zudem sind permanent Anklänge an bekannte Redewendungen eingestreut, die man als Hörer, an dem der Vortrag gewissermaßen vorbeirauscht, eher subkutan als explizit wahrnimmt: Schon der Eingang des Liedes verfährt – mit einiger Ironie – parallel zu Schillers Lied von der Glocke; später gibt es die von Schiffstaufen her bekannte Formel von der „Handbreit Wasser unterm Kiel“ oder eine Reminiszenz an Hamburgs Reeperbahn-Seitenstraße ,Große Freiheit‘, wodurch wieder weitere einschlägige Assoziationen evoziert werden.

Ich habe hier nicht den Ehrgeiz, jede denkbare Querverbindung aufzuspüren und zu explizieren; entschieden wichtiger ist mir die zentrale Gedankenführung des Liedes. Es setzt mit der Schilderung einer seemannsromantischen Szene ein, bei der Alkohol genregerecht eine erhebliche Rolle spielt. Die Sprecherinstanz äußert sich im kollektiven „Wir“ und spricht direkt aus der Situation heraus. Man liegt fest verankert vor „der“ (nicht „einer“!) Küste, schaukelt gleichwohl – physisch wie mental – und ist im Übrigen gehobener Stimmung: man lässt die Götter hochleben und fühlt sich speziell Poseidon verwandt. Das klingt bis zur sechsten Verszeile nach Hochstimmung beim Segeltörn, Vagantenlyrik, frühem Brecht oder vielleicht auch nur nach Pfadfindern vor Madagaskar, aber dann wechselt der Ton auffällig ins Ernsthafte:

Jeder schließt für sich allein mit dem Schiff den alten Pakt:
Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

In der allgemeinen Hochstimmung wird nicht vergessen, dass man auf hoher See in Gottes Hand ist und einem dort einzig ein gutes Schiff helfen kann, wenn man in Not gerät. Umgekehrt darf ein guter Seemann seinem Gefährt in Aussicht stellen, es klug zu lenken, um gefährliche Untiefen und Klippen sicher zu umschiffen. So entsteht ein Pakt zwischen Seemann und Schiff auf Gedeih und Verderb. Das Lied betont, dass diesen Pakt jeder der fröhlichen Runde für sich allein abschließt, was zunächst nicht unbedingt plausibel erscheint. Auf den ersten Blick versucht man sich als Hörer diese Praxis vielleicht als abergläubisches Seemanns-Ritual zu erklären, eventuell denkt man auch an ein Gelübde nach dem Muster von stillen Gebeten. Dennoch bleibt vorläufig eine gewisse Irritation.

Die zweite Liedstrophe vertieft die Beziehung zwischen Seemann und Schiff, indem sie an die traditionelle Vorstellung anknüpft, wonach zwischen beiden ein quasi erotisches Verhältnis besteht. Die Sprechhaltung wechselt vom Erzählen zur Anrede, wobei die Sprecherinstanz einen nicht näher bestimmten, also praktisch jeden Seemann anredet. ,Er‘ soll sein Schiff wie eine Geliebte behandeln und ansonsten kompromisslos seinen eigenen Kurs steuern, Wind und Wetter annehmen, wie es der Gang der Dinge mit sich bringt. Entworfen wird auf diese Weise die Vorstellung eines freien, nicht entfremdeten Lebens auf dem Meere in Harmonie mit den Kräften Natur. Relativ ungewöhnlich fällt der siebte Vers dieser Strophe aus („Und verpfände deine Seele an das Ruder, dieses Luder –“), der ein bisschen schweflig nach Teufelspakt und Reimzwang schmeckt. Am Ende steht dann wieder die uns schon bekannte Refrainzeile, die sich nach wie vor auf den Vertrag zwischen Schiff und Seemann bezieht.

Die dritte Strophe bringt nun in vieler Hinsicht Neues. Nachdem sich die Sprecherinstanz eingangs erzählend in der Wir-Form artikuliert hat und dann zur Anrede an ein Du übergegangen ist, geht sie nun zur Ich-Form über. Zugleich hat sie sich und ihr Schiff(-lein?) in Bewegung versetzt. Die sparsamen nautischen Angaben (Schirokko in den Segeln, Polarstern auf dem Mast) lassen schon mit der ersten Verszeile eine gewisse Bestimmung von Position und Kurs zu: Da segelt einer im Mittelmeer nach Norden. Die nächsten Verse schließen organisch an die in der zweiten Strophe entworfene Vision eines ungebundenen Seemannslebens an. Dass dieser Lebensentwurf unausgegoren wirkt und etablierten Klischees folgt, leite ich bei meiner Deutung der Verse 18-20 aus dem Attribut „ungewaschnen“ vor „Traum“ und den Redewendungen von der „Handbreit Wasser unterm Kiel“ bzw. der „große[n] Freiheit“ ab. Im gegebenen Kontext könnte ein ,ungewaschner Traum‘ ein solcher sein, der noch nicht in Stürmen und Wettern (sozusagen vor Kap Hoorn) erprobt worden ist. In der Traumdeutung verweist Schmutz traditionell auf Negatives bzw. Altlasten: auf Schuldkomplexe und Dinge, denen man nicht trauen sollte bzw. die noch zu bereinigen sind, Fremdeinflüsse etc. Die Ambivalenz dieser Bedeutungsaspekte tut unserem Lied gut und muss nicht aufgelöst werden. Mit Vers 21 wird es dann allerdings richtig schwierig:

Und ich grüße dich Dalmatien in der morgenroten Sonne
Mit der Flagge an der Steuerbordwant,
Deine Tränen fließen langsam in den Ozean hinaus –
Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

Die Sprecherinstanz grüßt „Dalmatien“, das von ihr aus gesehen rechter Hand in der Morgensonne liegt. Das bestätigt einerseits unsere nautischen Vermutungen, überrascht andererseits aber doch einigermaßen durch einen ziemlichen Gedankensprung. Dalmatien, der langgezogene östliche Küstenstrich der Adria, eine weder geographisch noch historisch oder kulturell scharf definierbare Region, bleibt von nun an Objekt der Anrede bis zum letzten Vers, der uns schon bekannten Refrainzeile. Dass das Sprecher-Ich diese Region anthropomorphisiert, ist bereits durch den Gruß in Vers 21 eingeführt, wird aber durch die Tränenmetapher der vorletzten Zeile noch einmal verdeutlicht. Hier bezeichnet das Ich die Flüsse Dalmatiens, die sich in die Adria ergießen, als Tränen. Einen ersten Sinn kann man dieser recht unvermittelt eingesetzten Metapher zuweisen, indem man an den Salzgehalt der Flüsse im Mündungsbereich denkt, einen zweiten, wenn man sich die kriegerische Geschichte dieses Landstrichs seit Römerzeiten vergegenwärtigt. Piraten, Goten, Awaren, Venezianer, Normannen und Tataren machten sich während der Antike und des Mittelalter über den schönen Landstrich her, und in der Neuzeit und jüngsten Vergangenheit wurde es dort, wie wir wissen, nicht wirklich friedlicher. Gründe für Tränen gab es wirklich zuhauf; ob der Verfasser des Liedes auch an Freudentränen gedacht hat, vermag ich nicht zu sagen.

Wie die beiden Strophen zuvor endet auch diese mit der bekannten Refrainzeile; allerdings wird nun nicht mehr das Schiff angesprochen, sondern Dalmatien, die mit Festungen und wehrhaften Städten bestückte Küstenlandschaft. Wenn diese Region ‚Schutz vor dem Wasser‘ bieten kann, dann vor An- und Übergriffen, die vom Meer her kommen und auf’s Hinterland zielen. Wer aber sitzt im Hinterland und kann Dalmatien einen entsprechenden landseitigen Schutz anbieten? Bei einem österreichischen Autor und Sänger denkt man vielleicht zunächst an das glückliche Austria, das Dalmatien nach dem Untergang der Republik Venedig 1797 im Vertrag von Campo Formio abstaubte und mit einer kurzen Unterbrechung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als sog. Kronland in Besitz hielt. Diese Interpretation scheint auch insofern passend, als die damalige Großmacht Österreich ihre Flotte vor Dalmatien konzentriert hatte und viele dalmatinische Seeleute beschäftigte. Dennoch greift diese historische Referenz offensichtlich zu kurz, denn mit etwas Nachdenken kommt man schnell auf weitere Szenarien, die für sich betrachtet genauso stimmig sind. Im Hinterland Dalmatiens könnte man sich etwa mit ähnlicher Berechtigung die Ungarn vorstellen (Dalmatien kam um 1100 durch Personalunion zur ungarischen Krone) oder serbische Zaren des Mittelalters. Besagten Schutzpakt könnten Dalmatien aber auch Titos Partisanen in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs angedient haben oder – noch ganz aktuell – Kroatien als einer der jugoslawischen Nachfolgestaaten.

Eine Lösung aus diesem Dilemma zeigt nun aber eine nochmalige Lektüre der ersten Strophe auf, genauer des 7. und 8. Verses. Heißt es dort doch:

Jeder schließt für sich allein mit dem Schiff den alten Pakt:
Schütze du mich vor dem Wasser, schütze ich dich vor dem Land.

In der ersten Strophe des Chansons hatte jeder Seemann seinen Pakt mit dem Schiff „für sich allein“ geschlossen; sollte es nun nicht so sein, dass – ganz analog – auch jeder landseitige ,Hintersasse‘ Dalmatiens (wer immer diese Position im Laufe der Geschichte auch gerade innehatte) einen solchen Verteidigungspakt anstrebte und sich das lyrische Ich beim Vorbeigleiten an der dalmatinischen Küstenlinie angesichts der Mauern und Festungsanlagen und vielleicht noch sichtbarer Spuren der letzten kriegerischen Ereignisse an diese leidvolle Historie erinnerte?

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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