Non-stop Tempus fugit. Zu „Sekundenschlaf“ von Marteria feat. Peter Fox: Anklänge an Andreas Gryphius und Johann Wolfgang von Goethe im deutschen Hip Hop?
13. Mai 2013 1 Kommentar
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Marteria Sekundenschlaf Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp. Du bist gehetzt, weil die Uhr dir Beine macht. Halt nich’ fest, sieh nich’ hin, wenn dir Sand durch die Finger rinnt. Denn jeder Fluss fließt ins Meer, lass los, kein Grund dich zu wehr’n, alles glitzert im hellen Licht, nimm die Welle mit, bis die Welle bricht. Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp. Du fühlst dich jung, doch das Leben hat dich alt gemacht, du merkst es jedes Jahr zu Silvester. Tut mir leid, du bist ein Teil der Jugend von gestern. Du siehst vor lauter Kerzen den Kuchen nich’ mehr, willst raus in die Natur und endlich Ruhe vor dem Lärm. Jetzt wohnst du im Reihenhaus, denn du bist villenlos, die wilde Zeit vorbei, die Augen klein, die Brille groß. Es dauert schon bis es vorbei is’, doch man is’ nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man alt is’. Wenn du jung bist, denkst du, dass du alles vor dir hast: auf 20 folgt 30, auf 30 das, was dir Sorgen macht; einmal durchatmen und du vergisst die Zeit, einmal nicht aufgepasst da draußen und es ist vorbei, denn jetzt vergeht das Leben im Sekundenschlaf. Du zählst die Tage bis zur nächsten runden Zahl, du machst Diäten und gehst pumpen, doch die Zeit heilt keine Wunden, weil die Zeit sich vor die Hunde warf. Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp. Du bist gehetzt, weil die Uhr dir Beine macht. Halt nich’ fest, sieh nich’ hin, wenn dir Sand durch die Finger rinnt. Denn jeder Fluss fließt ins Meer, lass los, kein Grund dich zu wehr’n, alles glitzert im hellen Licht, nimm die Welle mit, bis die Welle bricht. Wach auf aus deinem Winterschlaf, zehn Jahre bunt verpackt in ‘nem Wimpernschlag. Die Erfolge an der Wand in vergoldeten Rahmen, plötzlich schiebt dich ‘n Zivi in ‘nem Rollstuhl durch den Park. Wenn’s soweit is’, dass deine Haut verschrumpelt, dein Körper übersäht wird mit kleinen braunen Punkten, mach dir keine Sorgen, auch wenn du planlos durch dein’ Garten rennst, Gespenster siehst und deine Tochter Petra plötzlich Lara nennst. Genieß’ dein Leben, tanz zufrieden in dein Grab hinein. Kuck dich um: Jede Oma in Berlin hat’n Arschgeweih. Ich weiß, du hast noch so viel vor, doch langsam hörst du dieses Ticken in dei’m Ohr. Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp. Du bist gehetzt, weil die Uhr dir Beine macht. Halt nich’ fest, sieh nich’ hin, wenn dir Sand durch die Finger rinnt. Denn jeder Fluss fließt ins Meer, lass los, kein Grund dich zu wehr’n, alles glitzert im hellen Licht, nimm die Welle mit, bis die Welle bricht. [Marteria: Sekundenschlaf. Auf: Zum Glück in die Zukunft. Four Music 2010.]
Dass deutscher Hip Hop keineswegs tot ist, beweist der Wahl-Berliner Marteria mit seinem zweiten Studioalbum Zum Glück in die Zukunft, das 2010 beim Plattenlabel Four Music erschien und von The Krauts produziert wurde. Nach Marterias eigener Aussage sei es „das erste Newschool-Album, das sich wieder verkauft“ habe (vgl. zur Entstehung des Albums auch das Marteria-Interview im deutschen Hip Hop-Magazin Juice). Das The Krauts-Team um David Conen, Vincent von Schlippenbach und Dirk Berger, als Trio mittlerweile für BMG tätig, arbeitete 2008 erfolgreich mit Peter Fox für dessen Album Stadtaffe zusammen. Letzterer ist es auch, der Rapper Marteria auf Zum Glück in die Zukunft featured, und zwar bei Sekundenschlaf, dem letzten Track des Albums, das, wie es mittlerweile zum guten Ton gehört, auch als Vinyl-LP erhältlich ist. Diese Kooperation hört man dem Song durchaus an, denn basslastige Beats dominieren Sekundenschlaf (vgl. hierzu auch die Seeed-Remix-Version), mit dem sich Marteria zeitlosen und zunehmend brisanten gesellschaftlichen Themen widmet: der Vergänglichkeit und dem Altern.
Zum Rapper Marteria selbst: Der Rostocker, Jahrgang 1982, mit bürgerlichem Namen Marten Laciny, war einige Zeit in der Jugendmannschaft des F.C. Hansa Rostock aktiv, gar Teammitglied der U17-Nationalmannschaft, bevor er mit 18 Jahren für einen Model-Job nach New York ging (vgl. Marterias autobiografischen Rap-Track Endboss und die ausführliche Biografie auf laut.de). 2007 wurde er einem breiteren Publikum bekannt, als er mit Jan Delay tourte. Sein zweites Künstler-Pseudonym, das „Comic-Alter-Ego“ Marsimoto, unter dem er zuletzt das Album „Grüner Samt“ (2012) veröffentlichte, ist inspiriert vom amerikanischen Rapper Madlib aka Quasimoto. Das gemeinsame Markenzeichen: eine extrem hochgepitchte Stimme. Als Marteria wirkte er am aktuellen Album der Formation Die Toten Hosen, „Ballast der Republik“, mit. Mit sogenannten Gangster-Rappern wie Bushido oder Sido lässt sich Marteria jedoch kaum vergleichen, auch wenn sein Label ihm die Herkunft aus einem „Rostocker Plattenbau-Ghetto“ zuschreibt (vgl. hierzu auch Marterias Auseinandersetzung mit der Deutschrap-Szene in Todesliste, einem Lied, das er selbst als Persiflage, nicht als „Diss-Song“ beschreibt).
Sekundenschlaf setzt ein mit der Hook, interpretiert von Peter Fox, die den Grundton und das zentrale Motiv des Songs vorgibt: Ein metallenes Uhrticken, Streicherklänge, darüber der Vers „Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp“ verweisen auf das allgegenwärtige Tempus fugit. Im Refrain besingt der Seeed-Frontmann die Unterwerfung des Menschen unter die Zeitmessung mittels Chronometer und verweist auf die Beschleunigung des modernen Lebens, in dem der Mensch, gepresst in das Korsett des Schneller-Höher-Weiter, als Getriebener durch die Welt hetzt. Der Verweis auf das Stundenglas ruft das Vanitas-Motiv auf, die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Der Refrain eröffnet in der zweiten Strophe noch einen weiteren Bildbereich: Der aufmerksame Zuhörer fühlt sich bei Marterias Sekundenschlaf an Heraklits Sentenz Panta rhei erinnert, jene Wendung, wonach der Mensch nicht zweimal „in denselben Fluss steigen“ könne, habe sich doch letzterer, mithin die ganze Welt, ebenso verändert wie der Mensch selbst.
Von der Beschreibung alles Seins, das sich im ewigen Fluss von Werden und Vergehen befindet, verengt sich der Fokus in der ersten reinen Textstrophe auf die Einzelperson. Marterias Rap apostrophiert ein nicht näher benanntes Gegenüber, äußerlich gezeichnet von der Wechselhaftigkeit des Lebens, innerlich jedoch durchaus noch nicht bereit, sich aufs Altenteil zu verlegen, kontrastiert allerdings mit der ritualisierten Form der Feier des Jahreswechsels. Die Sprechstimme in Sekundenschlaf nimmt sich hingegen aus dem Alterungsprozess heraus. Nichtsdestotrotz ist ihr die Hektik der Moderne keineswegs fremd, weiß sie um die Enge der bürgerlichen Welt mit ihren Reihenhaussiedlungen (vgl. Marterias Verstrahlt) und dem Nachtrauern einer vergangenen Jugend. Der die Interpretationsrichtung des Songs vorgebende Vers ist strukturell in der Mitte der Strophe prominent platziert: „doch man is’ nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man alt is’.“
Zunächst jedoch bietet die Strophe noch einmal eine Retrospektive auf die Jugend des angesprochenen Gegenüber, quasi ein Jedermann wie du und ich, der sich in jedem Lebensmoment der Vergänglichkeit der Zeit wie seiner eigenen viel zu selten bewusst ist. Kritische Töne trifft der Text, wenn er sich dem gegenwärtigen Jugendwahn und Körperkult widmet, die er als vergebliche Bemühungen, dem eigenen Verfall entgegenzuwirken, charakterisiert.
In der zweiten Gesangsstrophe Marterias erfolgt eine imperativische Aufforderung an den Zuhörer, aus dem Dämmerzustand aufzuwachen, bevor es zu spät ist, das Leben also im Moment zu genießen, bevor „dich ‘n Zivi in ‘nem Rollstuhl durch den Park“ schiebt – Carpe diem in Reinform, ein Motiv, dem sich Marteria auch in Lila Wolken widmet. Diese Produktion entstand 2012 in Zusammenarbeit mit Yasha und Miss Platnum und feiert gleichsam den Augenblick, wenngleich mehr im Stile eines luftig-leichten Sommerabendsongs, als es bei Sekundenschlaf der Fall ist. In letzterem treibt das beständige Uhrticken den Sound wie die Zeit gleichmäßig voran.
Im Video werden werden die Bilder dominiert vom Zeitraffer der hektisch vorbeirasenden Außenwelt – das Setting ist die thailändische Metropole Bangkok – bei gleichzeitiger Slow motion-Darstellung von Marteria und Peter Fox. Der körperliche Verfall des Menschen wird auf vielfältige Weise besungen, bis hin zur Referenz auf Demenz und Alzheimer, bevor erneut die „Nutze den Tag“-Aufforderung die zentrale Botschaft des Liedes untermauert.
Vanitas, Memento mori, Carpe diem: Die von Marteria zitierten Topoi erweisen sich seit jeher als Grundthemen der Literatur, prominent vertreten etwa durch den Barocklyriker Andreas Gryphius, der in dem Lissaer Sonett Es ist alles eitel (1643) – die Fassung aus dem Jahr 1637 trägt noch den Titel Vanitas, vanitatum, et omnia vanitas – im Stile des die regelpoetisch überformte Variations- und Emblemtechnik beherrschenden Poeta doctus das Problem der Vergänglichkeit von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet. Denn geprägt von den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, den Konfrontationen mit Frankreich und dem Auseinanderbrechen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation korreliert die literarische Strömung des Barock mit einer Zeit religiöser und gesellschaftlicher Umbrüche, so dass sich diese Epoche vor allem durch die Beschäftigung mit Todeserfahrungen und Existenzängsten auszeichnet. Vor diesem Hintergrund kann auch die im Gedicht als Ausweg aus der Vergänglichkeit aufgezeigte Hinwendung zur Religiosität und einem Leben im Jenseits nicht verwundern.
Circa 170 Jahre später widmet sich Johann Wolfgang von Goethe in Dauer im Wechsel (1803) dem Vanitas-Motiv, ausgehend von der Beschäftigung mit Johann Christian Reils Überlegungen zur Wandelbarkeit menschlicher Identität in Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. Goethe jedoch erweitert die Perspektive in seinem Gedicht dahingehend, dass er den Akzent dieses Zeugnis seiner Gedankenlyrik stärker auf Wechsel und Veränderung legt („Ach! und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal“ als Verweis auf Panta rhei). Insofern bewegt er sich von der eigentlichen Grundbedeutung der Vergänglichkeit weg, so dass das Vanitas-Motiv nicht konkret ausgesprochen wird, sondern nur thematisch vorhanden ist. Darüber hinaus löst Goethe das Motiv als solches aus seinem religiösen Bezugsrahmen heraus und sieht die literarische Produktion als Möglichkeit, Überzeitliches zu schaffen, um auf diese Weise der Vergänglichkeit alles Irdischen entgegenzuwirken. Damit thematisiert dieses poetologische Gedicht nicht nur die Bedeutung von Kunst, sondern ist gleichzeitig exemplarisch das Kunstwerk selbst. Der Leser wiederum ist nun ebenfalls künstlerisch tätig, indem er den Text im Rezeptionsakt fortschreibt.
Die Ausrichtung auf ein Leben nach dem Tod in einem nicht näher spezifizierten Himmelreich bei Gryphius kontrastiert mit dem Gedanken auf Ewigkeit durch Gehalt und Form bei Goethe. Unvergänglichkeit bei Gott steht der Unvergänglichkeit in der Kunst gegenüber. So weit geht Marteria, der sich ebenfalls mit der Vanitas-Motiv auseinandersetzt, in Sekundenschlaf allerdings nicht. Gottesfürchtigkeit sucht man in diesem Zeugnis des profanen Hip Hop vergebens. Seine Kunst hingegen nimmt Marteria durchaus ernst: Wortspiele („villenlos“), Stilfiguren und Sentenzen prägen seinen Text; die Co-Produktion mit Peter Fox und The Krauts sorgt, neben der entsprechenden Publicity, für einen überzeugenden Sound. Mit seiner Kunstfigur Marsimoto geht Marteria noch einen Schritt weiter: stimmliche Variation (High Pitch), Maskerade, Rezeption literarischer Figuren (vgl. Ich Tarzan, Du Jane), Spiel mit politischen Statements (vgl. Indianer), Szenekritik (vgl. Wellness), Genre-Mix etc. Über die Vielfalt von Marterias respektive Marsimotos Hip Hop-Kunst ließe sich noch einiges sagen.
Corina Erk, Bamberg
Man könnte es auch kürzer zusammenfassen: Zwanghaft -frühseniler Raptext, jammervoll vorgetragen von Musikern in ihren Zwanzigern bzw. Dreißigern, die aufgrund ihres Alters immer noch nicht realistisch einschätzen können, was heutzutage „Altern“ wirklich bedeutet.