Wann es Sinn hat, Lieder zu machen. Georg Kreislers „Vorletztes Lied“ als Bekenntnis zur engagierten Dichtung
28. November 2011 Hinterlasse einen Kommentar
Georg Kreisler Vorletztes Lied Es hat keinen Sinn mehr, Lieder zu machen, statt die Verantwortlichen niederzumachen. Es hat keinen Sinn mehr, Worte zu wählen. Die Zeiten sind vorbei. Es hat keinen Sinn mehr, Lacher zu sammeln, statt ein paar tatkräftige Macher zu sammeln. Es hat keinen Sinn mehr, Reime zu schmieden. Die Zeiten sind vorbei. Es hat keinen Sinn, den Zug zu versäumen oder von zukünftigen Taten zu träumen. Schlagt die Pointe entzwei! Sie macht unsre Kinder nicht frei. Es hat keinen Sinn, ins Blaue zu schießen, statt einem Reichen auf die Klaue zu schießen. Es hat keinen Sinn, auf Sprache zu bauen. Die Zeiten sind vorbei. Vergeßt unser Hoffen, begrabt unser Trauern! Lasst euch die Zukunft nicht durch Sänger versauern! Wenn sich der Dichter verneigt, besorgt eure Sache und schweigt. Erfüllt sie mit Furcht, die hassen und lachen! Laßt die Komödien zum Leben erwachen! Es hat keinen Sinn mehr, Lieder zu machen. Die Zeiten sind vorbei. Die Zeiten sind vorbei. [Georg Kreisler: Vorletzte Lieder. Preiser 1972.]
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Beim ersten Hören liegt es nahe, das Lied für einen Ausdruck von Resignation zu halten, für eine Absage an die Möglichkeit, mit Worten die Welt zu verändern – dem nutzlosen Wort wird scheinbar die Tat als einzig sinnvolle Alternative gegenübergestellt. Jedoch zeigt eine genauere Lektüre schon des ersten Verspaars, dass das im Text beschriebene Verhältnis von Wort und Tat sich nicht einfach als Opposition beschreiben lässt. Denn dort heißt es, dass es keinen Sinn mehr habe, Lieder zu machen – was impliziert, dass es zuvor durchaus einen solchen gehabt habe; zudem wird die Absage an das Liedermachen im zweiten Vers eingeschränkt: Nur wenn Lieder gemacht werden, statt die Verantwortlichen niederzumachen, wenn also die als notwendig erachtete militante Aktion gerade wegen des Liedermachens unterbleibt, ist dieses sinnlos. Was hier verworfen wird, ist also nicht das politische Lied an sich, sondern seine Funktion als Ersatzhandlung. Dabei wird durch die Formulierung „Lieder zu machen“ auf den Typus des „Liedermachers“ – Wolf Biermann hatte den Begriff in Anlehnung an Brechts Selbstcharakterisierung als „Stückeschreiber“ geprägt – angespielt. Dieser erlebte zur Entstehungszeit von Kreislers Lied den Höhepunkt seiner Popularität. Liedermacher sangen häufig politisch-revolutionäre Texte, denen die Musik (oft lediglich eine Akustikgitarrenbegleitung) tendenziell untergeordnet war. Dieser musikalische Minimalismus und die Zugänglichkeit der Musik begünstigten allerdings auch eine Aufführungspraxis, die mit bildungsbürgerlichen Kulturkonsumkonventionen vereinbar war – anders als etwa die Rockkonzerte von Ton Steine Scherben, nach denen das Konzertpublikum zuweilen zur gemeinsamen Hausbesetzung schritt.
Anschließend wird, anaphorisch auf den ersten Vers bezugnehmend, ausgeführt, was konkret nunmehr sinnlos sei: die Auswahl von Worten. Der Kontext legt nahe, darunter nicht die Forderung nach einem allgemeinen Verzicht auf Sprache verstehen, sondern den auf eine Auswahl von Wörtern nicht nur nach ihrer semantischen und grammatischen Passung im Rahmen einer Aussage, sondern auch nach ästhetischen Kriterien wie Reim, Alliteration etc. Laut dem Strukturalisten Roman Jacobsen ist diese „poetische Funktion“ das Merkmal, anhand dessen sich poetisches Sprechen vom alltäglichen unterscheiden lässt. Es geht demnach um einen Verzicht auf Poetizität. Diese Absage an sprachliche Artistik steht zwar unter der gleichen zeitliche Einschränkung wie die ans Liedermachen, wird aber im Gegensatz zu dieser nicht relativiert.
Die zweite Strophe folgt dem grammatischen und rhetorischen Muster der ersten. Es wird dabei im Speziellen die Aufführung satirischer Lieder als nicht mehr ausreichend charakterisiert, zumindest dann, wenn das Dichten an die Stelle des Aufbaus politisch handlungsfähiger Gruppen tritt. Dass anschließend das langwierige Suchen nach Reimen (das Bild des Schmiedens drückt das Aufwendige und Mühevolle dieser Tätigkeit metaphorisch aus) verworfen wird, kann hier auch mit Blick auf die Zeitökonomie verstanden werden: Die Zeit, die das Verfassen eines gereimten Textes erfordert, fehlt bei der als wichtiger eingestuften praktischen poltischen Arbeit. Der Verzicht auf die Suche nach Reimen wird anschließend, wie schon an gleicher Stelle in der ersten Strophe, umgesetzt: der vierte Vers, der zudem kürzer ausfällt als die vorigen, reimt sich nicht auf den dritten.
In der dritten Strophe fällt die Kritik dann deutlich aggressiver aus: Zunächst wird auf die Gefahr hingewiesen (über dem Verfassen kunstvoller politischer Spottlieder) die Beteiligung an aktuellen politischen Bewegungen zu unterlassen, das (literarische) Imaginieren zukünftiger Aktionen der gegenwärtigen realen Aktion vorzuziehen. Anschließend erfolgt – in der Sprache des traditionellen politischen Lieds vorgetragen, das zur Zerschlagung bestehender Verhältnisse aufruft – der Appell, ‚die Pointe entzwei zu schlagen‘, da sie nicht zum Erreichen einer freieren Gesellschaft, in der dann die kommende Generation leben kann, beitrage. Man kann dieses Bild dahingehend interpretieren, dass die Entlastungsfunktion des politischen Humors abgelehnt wird, das Karnevaleske, das durch kurzfristige Umkehrung der Hierarchien – der Ohnmächtige kann sich lachend über den Mächtigen erheben – letztlich systemstabilisierend wirkt.
Die vierte Strophe folgt wieder dem Muster der ersten beiden. Hier wird erstmals mit der besitzenden Klasse ein konkreter politischer Gegner benannt, wobei die angestrebte Aktion des ‚auf die Klaue Schießens‘ offenkundig metaphoroisch gemeint ist: Es geht wohl kaum darum, einer wohlhabenden Einzelperson eine Schussverletzung in der Hand beizubringen, sondern darum, dem gierigen Zugriff (dies impliziert „Klaue“) der Besitzenden auf ihnen noch nicht Gehörendes entgegenzutreten.
In der fünften Strophe wechseln die Adressaten: Es geht nicht mehr um die Produzenten politischer Lieder, sondern um deren Rezipienten. Das Publikum solle politische Hoffnungen und Frustrationen sowie pessimistische Einschätzungen von Sängern, zu denen sich auch das Sprecher-Ich rechnet („unser“), ignorieren und im Anschluss an den Vortrag politisch handeln, statt etwa eine Diskussion mit dem Dichter zu führen.
Die Schlussstrophe macht deutlich, dass die Aufzählung hoffen, trauern und Dystopien entwerfen nicht als pars pro toto für das gesamte Themenspektrum des politischen Liedes steht, ruft doch das Sprecher-Ich hier ganz konkret zum politischen Handeln auf, was einen performativen Widerspruch darstellen würde, wenn er nicht davon ausginge, dass sein Publikum ihm zuhört und seine Vorschläge möglicherweise umsetzt. Und wenn dieser Revolutionsaufruf in der Aufforderung gipfelt „Laßt die Komödien zum Leben erwachen!“, so kommt darin ja gerade der Glaube an die Wirksamkeit des satirischen politischen Lieds zum Ausdruck – nur bewirkt dieses eben nicht für sich genommen etwas, sondern kann immer nur den Anstoß dazu geben, die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich umzugestalten.
So stellt der Text keineswegs eine grundsätzliche Absage an das politische Lied dar, sondern weist ihm lediglich seine Funktion in einer politischen Bewegung zu und betont, dass weder das Verfassen und Singen noch die bloße Rezeption politischer Lieder schon als politische Handlungen gelten, sondern immer nur deren Ausgangspunkt bilden können. So verwundert es auch nicht, dass Georg Kreislers Vorletztes Lied auf seiner Platte Vorletzte Lieder als letztes enthalten ist, worin die Überzeugung zum Ausdruck gebracht wird, dass auch wieder Zeiten kommen werden, in denen es neuer politischer Lieder bedarf.
Martin Rehfeldt
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