Tanz am Abgrund: Zu Severijas „Zu Asche, zu Staub“ (2017) – Eine Interpretation unter Einbeziehung der Fernsehserie Babylon Berlin

Severija

Zu Asche, zu Staub

Zu Asche, zu Staub
dem Licht geraubt
doch noch nicht jetzt
Wunder warten bis zuletzt
Ozean der Zeit
ewiges Gesetz
zu Asche, zu Staub
zu Asche
doch noch nicht jetzt

Zu Asche, zu Staub
dem Licht geraubt
doch noch nicht jetzt
Wunder warten
doch noch nicht jetzt
Wunder warten bis zuletzt

Es ist wohl nur ein Traum
das bloße Haschen nach dem Wind
Wer weiß es schon genau?
Die Uhr an deiner Wand
sie ist gefüllt mit Sand
leg deine Hand in mein'
und lass uns ewig sein

Du triffst nun deine Wahl
und wirfst uns zwischen Glück und Qual
doch kann ich dir verzeih'n
Du bist dem Tod so nah
und doch dein Blick so klar
erkenne mich
ich bin bereit
und such mir die Unsterblichkeit

Es ist wohl nur ein Traum […]

Du triffst nun deine Wahl […]

     [V.A.: Babylon Berlin. Original Motion Picture Soundtrack. BMG 2017.]

Im schwarzen Ledermantel, mit Zylinder, Fliege und Schnurrbart steht die Gestalt auf der Bühne. Ihr Blick durchschneidet den kathedralenartigen Raum, gleitet über die Menge der Tanzenden hinweg. „Zu Asche, zu Staub, dem Licht geraubt“, sprechsingt sie und streckt dabei ihre schwarz behandschuhten Hände von sich. „Doch noch nicht jetzt, Wunder warten bis zuletzt.“ Wie zum militärischen Gruß wandert ihre Hand an die Hutkrempe. Die Bewegungen wirken mechanisch, die Erscheinung androgyn. Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau? Eindeutig weiblich dagegen sind die Tänzerinnen, die jetzt die Bühne betreten. Ihre Bananenröckchen und ihr Brustschmuck wippen im Takt der Musik. Das Publikum ist elektrisiert, schaut zur Bühne auf, tanzt ekstatisch. In Babylon Berlin ist es Nacht geworden, im Moka Efti nähert sich die Stimmung dem Siedepunkt.

Die Neue Frau als Symbol der Moderne

Mit dem Auftritt der russischen Gräfin Swetlana Sorokina alias Nikoros (Severija Janušauskaitė) im Varieté Moka Efti endet die erste Folge von Babylon Berlin. Mit ihren ruckartigen Bewegungen lässt Nikoros an den Maschinenmenschen aus Metropolis (1927) denken, während ihr androgynes Erscheinungsbild an Anita Berber (1899-1928) erinnert, die als eine der ersten Frauen Herrenhosen trug, so sie nicht gerade als Nackttänzerin ihr Publikum in fasziniertes Staunen versetzte. Anita Berber, „die wildeste Frau der Weimarer Republik“ (Spiegel Online), prägte mit Smoking und Monokel, kreidebleicher Haut und aufgemalten Augenbrauen eine Mode, die u.a. von Marlene Dietrich (1901-1992) übernommen wurde – und die auch die Macher von Babylon Berlin zu Nikoros‘ Auftritt inspiriert hat. Mit ihrer Kleidung, ihren kurzen schwarzen Haaren und ihrem Bart stellt die Sängerin ein Symbol der Moderne dar, wie es auch in der bildenden Kunst Niederschlag fand:

„Die Figur der knabenhaften Garçonne mit maskulinem Haarschnitt war ein besonders beliebter Bildtypus unter den visuellen Konstrukten der Neuen Weiblichkeit im Deutschland der 1920er-Jahre. […] In einer Ära modischer Androgynität mischten trans-, homo-, bi- und heterosexuelle Männer und Frauen visuelle Codes“, schreibt Dorothy Price (2017, S. 155). Zu beobachten ist dies auch auf der Bühne im Moka Efti: Neben der androgynen Nikoros, die allem Maskulinen unverdächtigen, leicht bekleideten Tänzerinnen. Mit ihren Bananenröckchen erinnern sie an Josephine Baker (1906-1975). Diese war in den späten 1920er-Jahren mit ihrer „La Revue Nègre“ in Berlin aufgetreten, wo sie den „danse sauvage“, eine Form des Charleston, aufführte und mit dem Stereotyp der exotischen Wilden spielte.

Das Korsett der wilhelminischen Sittenstrenge wurde damit vollends gesprengt; aus konservativer Sicht galt nicht zuletzt die Neue Frau weder als „mütterlich noch feminin, dafür promiskuitiv, unattraktiv und [als] eine Bedrohung für die künftige Gesundheit des Volkskörpers“ (ebd., S. 159). Nach 1933 wurde ihr Typus denn auch vom Ideal der arischen Mutter verdrängt: „Der liberale Glanz fließender performativer Genderidentitäten […] ging unter in der Trübsal nationalsozialistischer Konformität“ (ebd.).

Todessehnsucht und Vergnügen

„Zu Asche, zu Staub“ stellt den Soundtrack der Serie dar und erklingt regelmäßig in den insgesamt 16 Episoden der ersten beiden Staffeln. Der Titel dieses düsteren Neo-Chansons erinnert an die bei kirchlichen Bestattungen verwendete liturgische Formel „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“ und macht damit deutlich, worum es in dem Lied geht: Vergänglichkeit und Tod.

Was existiert, wird „dem Licht geraubt“ und zerfällt „zu Asche, zu Staub“. Im „Ozean der Zeit“ erscheint das Hier und Jetzt als nicht viel mehr als ein Tropfen. „Die Uhr an deiner Wand“ gemahnt an die Vergänglichkeit, „sie ist gefüllt mit Sand“, der beständig verrinnt. „Doch noch nicht jetzt“ ist es soweit, es gilt, das Leben so lange wie möglich zu nutzen, auszukosten, wer weiß, was bis dahin passiert, denn „Wunder warten bis zuletzt“.

Dem eigenen Vergehen lässt sich also nicht entkommen, schließlich handelt es sich um ein „ewiges Gesetz“. Wie ist in diesem Zusammenhang die Aufforderung des Sprecher-Ichs an ein imaginäres Gegenüber, „leg deine Hand in mein‘ / und lass uns ewig sein“, zu deuten? Ist nur der Tod ewig, müssen die Zeilen „ich bin bereit / und such mir die Unsterblichkeit“ als Willensbekundung, – gemeinsam – in den Tod zu gehen, aufgefasst werden. Oder handelt es sich weniger um Todessehnsucht als vielmehr um ein Bekenntnis zu ewiger Liebe, von der man annimmt, dass sie den Tod überdauert? Der Liedtext bietet keine einfachen Antworten und bleibt in gewisser Weise so mysteriös wie die ihn vortragende Nikoros.

Anhaltspunkte liefert jedoch die Serie: Komponiert wurde Zu Asche, zu Staub u.a. von Regisseur Tom Tykwer für Babylon Berlin. Dass man sich somit weder eines bereits existenten Stücks bediente noch die musikalische Gestaltung gänzlich Dritten überließ, lässt den Schluss zu, dass das Lied nicht für sich allein, sondern vielmehr in Verbindung mit der Serie zu interpretieren ist. Der morbide Charakter des Liedes fängt die in Babylon Berlin herrschende Atmosphäre ein. Im Moka Efti wird gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Und vielleicht wussten dies die Menschen im Berlin der 1920er-Jahre auch nicht, oder zumindest konnten sie nicht sicher sein, wie dieser Morgen aussehen sollte. Tod und Vergänglichkeit waren wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges noch allgegenwärtig, die politischen wie sozialen Verhältnisse so fragil wie explosiv. Mit Ausnahme der eigenen Sterblichkeit war nichts gewiss, nichts verlässlich, das Streben nach Glück und die Flucht vor der Wirklichkeit ins Nachtleben „wohl nur ein Traum, / das bloße Haschen nach dem Wind. / Wer weiß es schon genau?“

Nikoros‘ Auftritt im Moka Efti ist in der Serie mit einer Parallelmontage unterlegt, die drei Schauplätze miteinander verknüpft: Während die Musik unheilvoll erklingt und schließlich ins Ekstatische umschlägt, tobt im kommunistischen Untergrund ein blutiges Massaker, Nikoros sitzt vor ihrem Garderobenspiegel und eine junge Frau verschwindet mit einem Freier in den Katakomben unter dem Tanzpalast. Tod und Vergnügen, Freud und Leid liegen eng beieinander – die Handlung gewährt sowohl weitere Rückschlüsse auf den Liedtext als auch auf die ihn vortragende Sängerin. Letztere hat sich als Femme fatale erwiesen, was insbesondere den Zeilen „Du bist dem Tod so nah / und doch dein Blick so klar / erkenne mich, ich bin bereit“ eine tiefere Bedeutung zukommen lässt (Näheres soll an dieser Stelle nicht verraten werden).

Schließlich wollen Kritiker in Zu Asche, zu Staub unterschiedliche musikalische Einflüsse vernommen haben: „Marlene Dietrich, Lady Gaga und Kraftwerk, Chanson, Schlager und Pop vereinen sich zu einem genialen Soundtrack“, heißt es auf Zeit Online. Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung will zusätzlich noch Marianne Rosenberg und Rammstein hören (von Letzteren existiert auch ein Lied mit dem Titel Asche zu Asche). Und bei epd-Film liest man von einem „Moulin-Rouge-Moment“. Tatsächlich trägt der Auftritt von Nikoros und den sie begleitenden Tänzerinnen Züge einer Revue, der „Königin der abendlichen Unterhaltung“ im Berlin der 1920er-Jahre, in denen die Stadt zugleich ein Zentrum neuer Musik war (Pofalla 2017, S. 34). Zwar nicht mit Asche und Staub, doch mit einem Knall und Rauch verschwindet die Sängerin schließlich von der Bühne.

Der Glanz der Zwanzigerjahre gegen die Glanzlosigkeit der deutschen Serie

Das Musikvideo zeigt nicht nur Nikoros‘ Auftritt, sondern auch weitere Szenen aus der Serie. Deren zwei Staffeln mit je acht 45minütigen Folgen wurden an über 180 Tagen und knapp 300 Drehorten unter der Beteiligung von allein rund 5.000 Komparsen gedreht. Allein die Sequenz im Moka Efti hat fünf Drehtage in Anspruch genommen. Das hat seinen Preis: knapp 40 Millionen Euro – mehr als eine deutsche Serie je zuvor gekostet hat. Da ein öffentlich-rechtlicher Sender diese Summe alleine nicht aufbringen kann, hat sich die ARD mit dem Pay-TV-Sender Sky zusammengetan – eine bislang einzigartige Koalition.

Der Anspruch und die Erwartungen könnten dementsprechend kaum höher sein: Babylon Berlin sei eine „zur nationalen Aufgabe stilisierte Serie“, liest man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Schließlich besteht Nachholbedarf: „Heute ist die Fernsehnation so verunsichert wie nie, weil das kluge Fernsehen aus dem Ausland kommt und sich vor allem die jungen, gebildeten Zuschauer abwenden“, lautet das nüchterne Fazit in der Süddeutschen Zeitung. Wohl wahr angesichts von Nonnen, die sich seit 17 Staffeln (Stand: April 2018) einen Kampf mit dem Bürgermeister um ihr Kloster liefern (Um Himmels Willen), dem Leiden in und unter der Nachbarschaft (Lindenstraße, seit 1985) oder den Schrullen von Kreuzfahrttouristen (Das Traumschiff, seit 1981). Babylon Berlin verspricht ein Ende dieses Elends und schwingt sich auf zu einer „Ehrenrettung des deutschen Fernsehens“ (Frankfurter Rundschau).

Kriminalroman als Vorlage

Als Inspiration für Babylon Berlin diente der Kriminalroman Der nasse Fisch von Volker Kutscher, erster Teil der Bestseller-Reihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath, der im Berlin der 1920er und frühen 1930er-Jahre ermittelt. Im Vergleich mit der Romanvorlage fällt die Fernsehadaption jedoch deutlich düsterer aus. Die Kriminalermittlungen dienen nur mehr als Mittel zum Zweck, die Serie zeichnet vielmehr das Porträt einer schicksalhaften Epoche:

Berlin 1929. Der junge Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch) wird von Köln in die Reichshauptstadt versetzt, um in einem Erpressungsfall zu ermitteln. Seine Suche nach einem kompromittierenden Film wird nicht nur von der Berliner Mafia behindert, auch einige hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft würden manches Geheimnis lieber für sich behalten. Unterstützung erhält Gereon Rath von der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden jungen Berlinerin Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries), die tagsüber in der Mordkommission aushilft und sich nachts als Prostituierte im Moka Efti verdingt. Außerdem gibt es einen mysteriösen Zug, der sowohl bei der Gräfin Sorokina, als auch bei einer revolutionären Gruppe von Stalin-Gegnern und einer geheimen paramilitärischen Organisation der Reichswehr Verlockungen weckt. Während die Trotzkisten mit dem vermuteten Gold im Zug einen Regimewechsel in der Sowjetunion finanzieren wollen, probt die „schwarze Reichswehr“ die Wiederaufrüstung Deutschlands. Die Gräfin wiederum verfolgt ganz eigene Pläne. Sie alle treffen sich im Moka Efti, dem Tempel des Vergnügens und der Laster.

Historisches Tanz- und Caféhaus

Egal ob berüchtigte Kriminelle, hochrangige Politiker, leichte Mädchen, schwerreiche Unternehmer oder durchtriebene Polizeibeamte – im Moka Efti, dem Varieté mit angeschlossenem Bordell, kommen alle Schichten und Gesellschaftsgruppen zusammen. Tatsächlich existierte ein gleichnamiges Café- und Tanzhaus ab dem Jahr 1929 in Berlin: In einem alten Palais an der Ecke Leipziger Straße/Friedrichstraße hatte Giovanni Eftimiades, genannt Efti, ein griechischstämmiger Kaufmann mit italienischem Pass, einen „beliebte[n] Treff für alle, die in einer Illusion von tausendundeiner Nacht schwelgen möchten“, erschaffen (Berliner Zeitung). Ob Eftimiades so durchtrieben war wie der Unterweltboss, der das Moka Efti in der Serie betreibt, ist nicht bekannt, doch geschäftstüchtig war er: Um mehr Besucher von der Straße in die Beletage zu locken, ließ er eine Rolltreppe bauen. Zu der Zeit eine Attraktion, über die Siegfried Kracauer lästerte, es gehöre zu ihren Funktionen, „den leichten Aufstieg in die höheren Schichten zu versinnbildlichen“ (zit. n. Moka Consorten).

Doch das Vergnügen währte nicht lange, die Weltwirtschaftskrise brachte die Pleite. Anfang Januar 1933 erhielt das Moka Efti neue Besitzer, während Giovanni Eftimiades ein Kaffeehaus am Potsdamer Platz übernahm, das er Moka Efti Tiergarten nannte und das sich zu einem ebenso beliebten Tanzpalast entwickelte. Bis die nationalsozialistischen Machthaber das Tanzvergnügen einschränkten und die Weltkriegsbomben schließlich, was noch übrig war, in Asche und Staub verwandelten (vgl. The Guardian).

Tanz auf dem Vulkan

Doch bis es soweit kam, galt, was Klaus Mann 1923 notierte: „Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. […] Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. […] Ein geschlagenes, verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz“ (1952, S. 164). Schließlich war der Erste Weltkrieg noch nicht lange vorbei und seine Spuren überall sichtbar. Babylon Berlin zeigt eindrücklich, wie Härte und Rücksichtslosigkeit die Gesellschaft dominieren, in der wenig Platz für Schwächere ist. So ist in der ersten Staffel eine Gruppe Kriegsversehrter zu sehen, die mitten auf dem Alexanderplatz musiziert. Die meisten Passanten eilen achtlos vorbei. „Kaputte Automaten sind das“, lautet das Resümee von Gereon Raths Partner. „Und kaputte Automaten gehören auf den Müll.“ Welch einen Kontrast, welch willkommene Flucht bietet da das Nachtleben:

„Die vierzehn Jahre der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 oszillierten zwischen Verderbtheit und Pracht. Hyperinflation, gepaart mit dem Nachkriegstrauma, öffnete eine Büchse der Pandora des Lasters. Geld war wertlos […] und so wurde das verbliebene Bargeld für Amüsement ausgegeben“, schreibt Stéphanie Moeller (2017, S. 119). Die Währungsreform 1924 und der damit einhergehende wirtschaftliche Aufschwung hätten daran nichts geändert, sondern – im Gegenteil – dies „verstärkte noch die Vergnügungssucht. Die Dynamik der Moderne war mit Händen zu greifen, und die Öffentlichkeit konnte es kaum erwarten, daran teilzuhaben, vor allem in der schnelllebigen Metropole Berlin“ (ebd.). Dieses Gefühl feiert in Babylon Berlin seine Auferstehung: Die Menge im Moka Efti folgt gebannt dem Rhythmus der Tänzerinnen auf der Bühne und synchronisiert präzise die Bewegungen des Charleston.

„Schöne Berlinerin. Du bist tags berufstätig und abends tanzbereit“

Was die deutsche Vogue 1929 textete, trifft auch auf Charlotte Ritter, genannt Charly, zu, die im Moka Efti in erster Reihe tanzt. Sie entspricht dem Typus der Neuen Frau – rauchend, trinkend, mit Bubikopf, Glockenhut und Hängerkleid – und verkörpert darüber hinaus die ganze Gegensätzlichkeit der Zeit. Bevor sie die Nacht in dem Vergnügungstempel verbringt, sieht man sie in einem herunter gekommenen Hinterhaus, wo sie auf engstem Raum mit ihrer Großfamilie haust, darunter ihre syphilitische Mutter und ihr arbeitsloser, gewalttätiger Schwager (zu sehen in der ersten Folge der Serie). Die Bananen, die den Tänzerinnen im Moka Efti als Röckchen dienen, könnte sich Charlys Familie nicht leisten. Schon eine Scheibe Wurst stellt hier ein Luxusgut dar, auf das sich Charlys Großvater gierig stürzt. Kein Wunder, dass die junge Frau nichts wie weg will! Angetrieben von dem Wunsch nach sozialem Aufstieg träumt Charly von einer Karriere bei der Polizei. Sie giert nach Ablenkung vom tristen Alltag, dem Elend daheim und erhofft sich Erlösung im pulsierenden Nachtleben, dessen Epizentrum das schillernde, mondäne Moka Efti ist.

Gold oder schon goldbraun?

„Und Berlin war Sodom und Gomorrha“, schrieb Bertolt Brecht. Als „große Hure Babylon“ bezeichnete Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz die damals drittgrößte Metropole der Welt. Doch nicht nur das Nachtleben florierte 1929: Nachdem im Vorjahr Brechts Dreigroschenoper am Theater am Schiffbauerdamm in Berlin uraufgeführt worden war, erschien 1929 neben Döblins Roman Erich Kästners Emil und die Detektive, in Berlin wurde das Stummfilmkino Babylon eröffnet, das es noch heute gibt, und im nahen Babelsberg liefen die Dreharbeiten zu Der blaue Engel mit Marlene Dietrich. Doch das Jahr 1929 bedeutete bereits eine Zäsur. Die seit 1924 andauernde relative Stabilität der Weimarer Republik geriet ins Wanken. Anfang Mai kam es zu schweren Ausschreitungen in Berlin zwischen Anhängern der KPD und der Polizei, bei denen über 30 Menschen starben. Mit dem Crash der New Yorker Börse im Oktober begann eine globale Wirtschaftskrise, die auch in Deutschland eine Abwärtsspirale aus Armut, Arbeitslosigkeit und politischer Radikalisierung in Gang setzte. Mit Außenminister Gustav Stresemann starb fast zeitgleich ein Stabilisator der Republik. 1929 war das Jahr, in dem das Gold blättrig wurde und ins Goldbraune überging.

Babylon Berlin greift diese historischen Geschehnisse auf und lässt somit „unheimliche Parallelen zur Gegenwart“ sichtbar werden (Zeit Online). „Als wir mit der Serie anfingen, spürte man gerade die letzten Wehen der Finanzkrise“, so Achim von Borries, der neben Tom Tykwer und Henk Handloegten Regie geführt hat, im Gespräch mit Zeit Online. „Und jetzt, da wir fertig sind, merken wir plötzlich, dass so etwas wie die Demokratie an sich oder die Einheit Europas, das westliche Bündnis, plötzlich zur Disposition stehen. Die Fragilität der Weimarer Republik bekommt damit natürlich eine ganz andere Aktualität.“

Die möglichen Parallelen zur Jetztzeit lassen die 1920er-Jahre Jahre also bis heute faszinierend erscheinen. Das gilt auch für das Gefühl der Modernität dieser Epoche, der wir uns auch knapp hundert Jahre später nah wähnen: „Das Moka Efti mit seinen unterirdischen Sex-Separees erinnert an das Berghain und seine Darkrooms, in den Bars tummelt sich queeres Leben wie heute in Kreuzberg oder Neukölln“, heißt es auf Spiegel Online. „Und wenn die Tanzenden plötzlich ihre Smartphones zücken würden, täte das der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch“, so Zeit Online.

Zu sehen ist Babylon Berlin seit Oktober 2017 auf dem Bezahlsender Sky und ab Ende 2018 in der ARD.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Literatur

Klaus Mann (1952) (¹1949): Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht. Frankfurt am Main: Verlag S. Fischer.

Stéphanie Moeller (2017): „Kultur des Spektakels: Vergnügung in der Weimarer Republik“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik (Katalog zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 27.10.2017-25.02.2018). Frankfurt am Main und München: Schirn Kunsthalle und Hirmer Verlag, S. 119-126.

Robert Nippoldt und Boris Pofalla (2017): Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger. Köln: Taschen-Verlag.

Dorothy Price (2017): „Glanz und Elend der Neuen Frau in der Weimarer Republik“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik (Katalog zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 27.10.2017-25.02.2018). Frankfurt am Main und München: Schirn Kunsthalle und Hirmer Verlag, S. 153-159.

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

13 Responses to Tanz am Abgrund: Zu Severijas „Zu Asche, zu Staub“ (2017) – Eine Interpretation unter Einbeziehung der Fernsehserie Babylon Berlin

  1. Stefan B says:

    wow, der Artikel schlägt einen riesigen Bogen um „Babylon Berlin“ und ist damit für mich mit Abstand das Interessanteste, das ich zu den Themen rund um diesen Film gelesen habe! Danke für diesen Artikel!

  2. Wolltraud says:

    Danke an Isabel für die sehr interessante und lesenswerte Interpretation! es war wunderbar, diese zu lesen!

  3. Pingback: >> Ja, mir gefällt die Serie auch ganz gut. Obwohl ich nicht immer ganz folgen kann. Das liegt aber auch am Alter. Früher konnt ich das besser. | Zweitesselbst's Blog

  4. Clara says:

    Ach , schon wieder dein blog, danke für die interpretatation 🙂, mal eine erweiterte Sichtweise.

  5. Manuela Stangier says:

    Hervorragender Text! Danke dafür 🙂 Verblüffend oder beängstigend die Parallelen zum Jetzt?

  6. Sibylle says:

    Toller Artikel, danke dafür! Die Serie hat insbesondere durch das Lied auf mich eine unheimliche Sogwirkung und wir freuen uns gerade an der 2. Staffel, die dank der Mediathek bereits jetzt vollständig abrufbar und sehbar ist, so dass wir nicht immer eine Woche warten müssen
    Aber die Serie verlangt tatsächlich die volle Aufmerksamkeit. Keine schnelle Zigarette auf dem Balkon oder ein kleiner Toilettengang ist möglich, ohne dass man wichtiges versäumt.
    Ich werde sie mir sicher nicht nur einmal ansehen.

  7. Ludger says:

    Ein wunderbarer, kenntnisreicher Kommentar zu einer grandiosen Serie. Bravo!

  8. Pingback: Severija-Babylon Berlin – kulturbytes2

  9. Tina says:

    Ein wirklich lesenswerter Artikel – vielen Dank! Nur eine kleine Anmerkung sei mir erlaubt: Die Protagonistin Charlotte Ritter wird in der Serie Babylon Berlin nicht „Charly“ genannt, sondern „Lotte“. Charly ist der Spitzname aus der Romanvorlage „Der nasse Fisch“. Siehe dazu auch: https://babylon-berlin.fandom.com/de/wiki/Charlotte_Ritter (ganz unten, „Unterschied zur Romanvorlage“).

    Die Abänderung des Spitznamens im Rahmen der Serie in einen eindeutig weiblichen finde ich sehr schade. „Charly“ unterstreicht viel besser die androgynen bzw. die geschlechtsidentätsübergreifenden Selbstinszenierungen dieser Zeit.

  10. Birgit_1960 says:

    Mit einiger Zeitverzögerung und um die 12 000 km Entfernung zu Berlin schauen auch wir nun „Babylon Berlin“, wir sind gerade in der 2. Staffel und ich empfinde jetzt schon Sorge vor dem Moment, wenn wir bei der letzten Folge landen. Vergänglichkeit, Tanz auf dem Vulkan, Begehren und Aufbegehren, ob in der ersten Reihe tanzen oder aus der Reihe tanzen — dieses Lebensgefühl ist für mich immer mit Berlin verbunden. Als ich 1980 nach Berlin zog, machte ich mich auch auf die Suche nach Spuren der 20er Jahre, in den 80er Jahren (Nato-Nachrüstungsbeschluss, Tschernobyl…) gab es noch eine, im Vergleich zu den 20er Jahren, sehr abgespeckte Subkultur, aber immerhin es gab diese Orte, die man heute so gut wie nicht mehr findet.Ich denke da v.a. an queere Lokale. Es gibt sie sicherlich auch heute, aber anders. Diese Serie zieht mich in den Bann, sie hat markante Gesichter, gute Schauspieler, die Weimarer Republik mit der Weltwirtschaftskrise vor der Türe ist nicht nur ein gestriges Geschichtsereignis, Rezession und Corona sind heute und schreiben ihr eigenes Drehbuch..Und wenn dann Severija „Zu Asche, zu Staub“ darbietet, und Charlotte mit den anderen in der ersten Reihe tanzt, dann gerate ich für einen Moment in eine ähnliche ekstatische Begeisterung gepaart mit einem langen Moment Wehmut. Man kann auch Verlust empfinden über etwas, das man nie hatte und von dem man weiß, dass es auch besser so ist.

    Danke für die lesenswert herausgearbeiteten Facetten und Hintergründe des Liedes im Film.

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