„Unruhig ist unser Herz“ – Das Lied „Räume räumen“ von PeterLicht

PeterLicht

Räume räumen

Der Raum ist voll, doch keiner ist da
Das hier erreicht mich
Erreicht mich nicht 

So viele Sekunden hat mein Tag nicht
Die ich bräuchte, um mein 'Nein' zu sagen
Meine Neine.. nein, nein, nein
Meine Neine.. nein, nein

Nein, nein, nein

Der Raum ist voll, doch keiner ist da
Wer stört, fliegt
Raus, raus, raus

Stören und fliegen und Räume räumen
Hier muss ich nicht sein, hier möcht ich nichtmal fehlen
Lieber draußen auf den Wegen im Septemberregen
Der warme Regen
Der warme Regen
Nein, nein, nein

Ich glaube, wen immer ich sehe, müsste glücklich sein
Wir mögen das Land, wir akupunktieren den Boden
Wir massieren die Straßen, wir cremen die Häuser
Wir wischen die Städte, wir kühlen die Motoren
Wir mögen das Land, wir akupunktieren den Boden
Mit großen Stahlstangen
Mit großen Stahlstangen

Wir salben den Beton, wir verbinden die Drähte
Wir trösten die Maschinen, wir besprechen die Membranen
Der Infrastruktur legen wir die Hände auf
Mit großen Händen
Mit großen Händen

Und dann dein Bild in den Wolken und der Wind von oben
Du da - Ich hier
Mit großen Herzen
Mit großen Herzen

Ja, Ja, Ja

Lass uns glücklich sein
Oder verschwunden sein
Lass uns kleiner werden
Am Horizont
Was anderes sehe ich nicht
Am Horizont
Lass uns weiter gehen
Als unsere Augen sehen
Was anderes sehe ich nicht
Als in weiter Ferne lauter Licht
In weiter Ferne lauter Licht
In weiter Ferne lauter Licht

     [PeterLicht: Melancholie und Gesellschaft. Motor 2008.]

„Wenn die Leute in der Kirche so laut singen: katholischer Mundgeruch“ – Ein Satz, der nicht nur christlich/katholisch sozialisierte Menschen schmunzeln lässt. Hier werden zwei Sinneswahrnehmungen miteinander in Beziehung gebracht: Gesang und Geruch. Assoziationen von Orgelmusik, leicht schiefem Gemeindegesang, Weihrauch und Kerzenwachs drängen sich auf. Sie vermitteln – leicht spöttisch – einen Eindruck davon, was landläufig als „katholisch“ gilt.

Der kurze Satz stammt von PeterLicht und ist seinem Buch Wir werden siegen! Buch vom Ende des Kapitalismus entnommen. Der Songpoet und Schriftsteller steht eigentlich nicht im Verdacht, sich in seinem Werk mit dem Christentum oder gar dem Katholizismus auseinanderzusetzen. Sicherlich ist der humorvoll-ironische Gedanke über den „katholischen Mundgeruch“ auch überinterpretiert, wenn man ihn verwendet, um PeterLicht in die Tradition christlich geprägter Schriftsteller zu stellen. Als Anstoß zu einer kleinen Spurensuche kann der Aphorismus allerdings durchaus dienen.

Dem erwähnten Buch ist ein Motto vorangestellt. Es lautet „Unruhig ist unser Herz“ und stammt aus den „Confessiones“ des patristischen Theologen Augustinus. Was nicht gekennzeichnet wird, ist, dass nur der erste Teil eines längeren Satzes abgedruckt wird. Auch an dieser Stelle soll der Satz zunächst noch nicht vervollständigt werden. Stattdessen wird zuerst genauer auf das Lied Räume räumen eingegangen.

Das Lied ist in zwei große Bereiche aufgeteilt, die durch die Wörter „Nein“ (vgl. V. 1-17) und „Ja“ (vgl. V. 30-46) abgegrenzt werden. Dazwischen befindet sich ein Abschnitt, der sich durch die Wir-Form vom ersten Teil absetzt (vgl. V. 18-29). Am Anfang beschreibt das Sprecher-Ich seine momentane Situation. Es befindet sich in einem Raum und fühlt sich fehl am Platz. Obwohl offensichtlich noch andere Menschen anwesend sind, fühlt es sich allein und wäre lieber draußen im Regen als in diesem Raum. Die Häufung des Wortes „Nein“ im Refrain macht deutlich, wie unerwünscht diese Gedanken sind. Das Gefühl der Einsamkeit, dem „Nein“ entgegengerufen wird, erfährt nun eine starke Kontrastierung durch den Mittelteil des Liedes.

Geschäftigkeit und Tatendrang werden hier durch Metaphern dargestellt, die teilweise auf religiöse Handlungsweisen verweisen. So wird beispielsweise gesalbt (vgl. V. 25), getröstet (vgl. V. 26) und besprochen (vgl. V. 26). Eine Handauflegung gibt es ebenfalls (vgl. V. 27).

Die Formulierung „Und dann“ (V. 30) markiert den Wendepunkt des Liedes. Es wird ein „Bild in den Wolken und der Wind von oben“ (V. 30) beschrieben. Der Refrain wechselt von „Nein“ zu „Ja“. Ausgehend von diesem Satz soll im Folgenden eine theologische Lesart des Liedes entwickelt werden.

Im altorientalischen Kulturkreis, dem auch die alttestamentlichen Schriften entstammen, spielen Wetterphänomene vor allem im Zusammenhang mit Gotteserscheinungen eine große Rolle. Für das vorliegende Lied wird nun die Bedeutung von Wolken und Wind interessant werden. Sie stehen beide für die Anwesenheit und das Handeln Gottes, was exemplarisch durch Psalm 104 verdeutlicht werden soll: „Du nimmst dir die Wolken zum Wagen, du fährst einher auf den Flügeln des Sturmes [Windes]“ (Ps 104,3-4).

Der – auch musikalisch spürbare – Wendepunkt des Liedes wird also durch zwei Wetterphänomene eingeleitet, die im Zusammenhang mit Gotteserfahrung gelesen werden können. Parallel dazu wird ein „Du“ in den Text eingeführt, das dem

Der abschließende Teil des Liedes – von einer melodischen Wiederholung des Wortes „Ja“ untermalt – besteht aus vielen Imperativen, die zu einem glücklichen Leben aufrufen. Außerdem erkennt das Sprecher-Ich „in weiter Ferne lauter Licht“ (V. 44) und bezieht sich damit auf eine zentrale Metapher des Christentums: Licht.

„Unruhig ist unser Herz“, so überschreibt PeterLicht seine Texte in Wir werden siegen! Buch vom Ende des Kapitalismus. Augustinus stellt an den Beginn der Confessiones den Satz „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir, o Herr“. Aber reichen der Bezug auf alttestamentliche Literatur in einem Lied und ein Zitat eines Kirchenvaters aus, um aus PeterLicht einen religiösen Songschreiber zu machen? Sicher nicht! Im Gegensatz zu seinem Lied Unsere Zeit, das von Hans-Peter Ecker interpretiert wurde, ist der Himmel in Räume räumen aber nicht „mit sich selbst beschäftigt“, schließlich wird eine Beziehung zwischen „Du“ und „Ich“, zwischen oben und unten gestaltet. Ein gemeinsamer Weg wird vorgeschlagen (vgl. V. 41).

Trotz des pessimistischen Beginns verbreitet das Lied also die Hoffnung auf ein gutes Ende. Auch wenn es manchmal so aussieht, als sei der Himmel mit sich selbst beschäftigt, in weiter Ferne sieht man es: lauter Licht!

Michael Winklmann, Augsburg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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