Stimmung in der Umbruchkrise. Zu „Bruttosozialprodukt“ von Geier Sturzflug

Geier Sturzflug 

Bruttosozialprodukt

Wenn früh am morgen die Werksirene dröhnt
und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt,
in der Montagehalle die Neonsonne strahlt
und der Gabelstaplerführer mit der Stapelgabel prahlt.

Ja dann wird wieder in die Hände gespuckt,
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. 

Die Krankenschwester kriegt 'nen Riesenschreck,
schon wieder ist ein Kranker weg.
sie amputierten ihm sein letztes Bein
und jetzt kniet er sich wieder mächtig rein.

Ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt,
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. 

Wenn sich Opa am Sonntag auf sein Fahrrad schwingt
und heimlich in die Fabrik eindringt,
dann hat Oma Angst, dass er zusammenbricht,
denn Opa macht heute wieder Sonderschicht.

Ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt,
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. 

An Weihnachten liegen alle rum und sagen pu-uh-uh-uh,
der Abfalleimer geht schon nicht mehr zu.
die Gabentische werden immer bunter
und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt sich einen runter.

Und sagt: "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt,
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt."

Wenn früh am morgen die Werksirene dröhnt
und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt,
dann hat einen nach dem ander'n die Arbeitswut gepackt.
Und jetzt singen sie zusammen im Arbeitstakt-takt-takt-takt-takt-takt-takt.

Ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt,
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt.
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt.
wir steigern das Bruttosozialprodukt.
Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt.

[Geier Sturzflug: Bruttosozialprodukt. Ariola 1982.]

Zum Ende des Jahres 2012 vermeldeten die Medien eine Nachricht, die man schon länger befürchten musste (vgl. Süddeutsche Zeitung). Der Autohersteller Opel plant, die Fertigung in seinem Bochumer Werk einzustellen. Das bedeutet wohl den Verlust von 3000 Arbeitsplätzen und einen schmerzhaften Schlag in die Magengrube einer Stadt, die von vielen noch immer mit Maloche assoziiert wird und etwa von Herbert Grönemeyer mit nachhaltiger Wirkung als „vor Arbeit ganz grau“ beschrieben wurde.

Aus Bochum stammt schließlich auch der Popsong über den „typisch deutschen“ Arbeitsethos schlechthin: der NDW-Hit „Bruttoszialprodukt“, mit dem die Band Geier Sturzflug vor mittlerweile 30 Jahren, Anfang 1983, auf Platz 1 der deutschen Hitparade landete. Das Lied war schon einige Jahre zuvor im Rahmen eines früheren Projekts des Sängers und Texters Friedel Geratsch entstanden und auch veröffentlicht worden (vgl. hierzu den Wikipedia-Eintrag zu „Bruttosozialprodukt [Lied]“), zündete aber erst im Stile und zum Scheitelpunkt der „Neuen Deutschen Welle“. In Verbindung gebracht wurde der Durchbruch zu diesem Zeitpunkt auch mit der politischen „Wende“ 1982/83, also dem Übergang von der rot-gelben Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zu einer schwarz-gelben Regierung unter Helmut Kohl. Besonders aufschlussreich ist hier ein Zeit-Artikel, in dem der Autor u.a. zusammenfassend Pressestimmen von damals zitierte. Demnach titulierte man das Lied nicht nur als „´zynische Ballade vom deutschen Arbeitsethos´ (Vorwärts)“ (zitiert nach Die Zeit 49/1983), sondern auch als „´das neue Evangelium´ (Bunte), ´Mailied, das die Gewerkschafter lieber nicht mehr mitsummen´ (Die Welt) und ´Parteitags-Song der CDU´ (Quick)“ (ebd,). Als vermeintlich Kohl-nahes Stück wurde es von den Radiosendern vor der Bundestagswahl vom 6. März 1983 vermieden, der erste Fernsehauftritt von Geier Sturzflug fand erst nach dem Sieg des neuen Kanzlers gegen SPD-Kandidat Hans-Jochen Vogel statt (vgl. wiederum Die Zeit 49/1983).

Dass der Song vom „Bruttosozialprodukt“ auch abseits des Wahlkampfs als optimistisch und tendenziell wirtschaftsnah gedeutet wird, lässt sich auf der Homepage des „Entscheidermagazin(s) für Vertrieb und Marketing“ salesbuisness  lesen. Hier heißt es: „Dieses Lied von Geier Sturzflug spiegelt ausgezeichnet die Stimmung nach einer Umbruchkrise wider. Management und Mitarbeiter haben sozusagen das Tal der Tränen durchquert und legen wieder richtig mit Tatendrang los.“ Elemente der Satire oder ironische Brechungen werden scheinbar nicht wahrgenommen.

Dabei ist die heiteren Überzeichnung der Arbeitswelt recht offensichtlich: „Wenn die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt“, wenn „der Gabelstapler mit der Stapelgabel prahlt“ und sich ein Beinamputierter reinkniet, ja dann wird mit einfachen Wortspielen übertriebene „Arbeitswut“ karikiert. Im zitierten Zeit-Artikel wird betont, dass Lied-Texter Geratsch mehrere Jahre als Kaufmann im Elektrogroßhandel tätig war, also wusste, wovon er schrieb: „In der Firma mit ihren 30 Angestellten hat er die sechs bergbaugeschädigten Rentner erlebt, die zwar eine dicke Rente bekamen, es aber trotzdem nicht lassen konnten, zu arbeiten und auf einem kleinen Posten im Lager oder im Magazin irgendetwas zu verwalten.“ Auch unter den Rezipienten mag mancher einen älteren „workaholic“ wie den Opa, der „heimlich in die Fabrik eindringt“, kennen; ihn belächeln und bewundern.

In die Hände gespuckt wird allerdings nicht bloß für die persönliche finanzielle Sicherheit oder eine innere Befriedigung; auch nicht nur zum Wohle des Arbeitgebers. Hier geht es um das übergeordnete Ziel der Steigerung des Bruttosozialprodukts. Unter der „Neonsonne“ in der „Montagehalle“ hat das westdeutsche Kollektiv nur ein Ziel: das fortwährende Ausweiten der Grenzen des Wachstums. Es gilt, im gemeinsamen „Arbeitstakt-takt-takt-takt-takt-takt-takt“ gegen die Konjunkturkrisen nach der ersten (1973) und der zweiten Ölkrise (1979) anzuschuften. In den Jahren 1981 und 1982 war dauernd von Rezession die Rede. Der Großkonzern AEG und zahlreiche weitere Firmen gingen Pleite (siehe Beitrag der ARD-Reihe 60xDeutschland). Mit dem Hit des Frühjahrs 1983 konnte man demgegenüber die Bereitschaft feiern, als nützliche Glieder der freien Marktwirtschaft immer mehr zu produzieren und immer mehr zu konsumieren. Weihnachten erscheint so vor allem als Zeit der Hochkonjunktur für Einzelhandel und Müllabfuhr: unsere „Gabentische werden immer bunter“ und unser „Abfalleimer geht schon nicht mehr zu“.

Dass die Auswüchse der Konsum- und Wegwerfgesellschaft hier nicht etwa von räsonierenden  Liedermachern, eindeutig als Kabarett ausgewiesen oder in Form eines weich intonierten Betroffenheitsschlagers besungen wurden, sondern in Dur und mit sehr tanzbarem Rhythmus, erklärt sowohl den Erfolg des Liedes als auch die Irritationen, die es auslöste. Mit der Nachfolge-Single Besuchen Sie Europa (Solange es noch steht), also mit friedensbewegtem Anti-Amerikanismus und Sarkasmus im bewährten „Wenn, dann“-Prinzip, versuchte die Band, einige Missverständnisse auszuräumen und „wieder in so ne bestimmte Szene zu kommen“ (Bandmitglied Klaus Fiehe zitiert in Die Zeit) So hielten sie sich noch bis zu ihrer Auflösung 1986. Erst nach einer mehrjährigen Pause wurde wieder unter dem Namen Geier Sturzflug und mit den alten Hits getourt. Letztlich blieben freilich vor allem die heitere „Hymne“ auf ein wachsendes Bruttosozialprodukt sowie der Stimmungskracher über die Pure Lust am Leben bekannt. Es ist zu wünschen, dass die Bochumer Autobauer auf kommenden Feiern zu beiden Liedern ordentlich abgehen.

Martin Kraus, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

2 Responses to Stimmung in der Umbruchkrise. Zu „Bruttosozialprodukt“ von Geier Sturzflug

  1. hpecker says:

    Zunächst mal danke, ein schöner Artikel zu einem tollen Song, der Geschichte geschrieben hat. Selbstverstaendlich teile ich die im Beitrag vertretene Meinung, dass dieses Lied alles andere als „wirtschaftsnah“ intendiert ist. Insofern hier auch keine Kritik, sondern nur der Hinweis auf eine bestimmte Ebene des beissenden Witzes in diesem Lied – die Sexualisierung der Arbeit. Fuer die hier vorgeführten Akteure ist produktive Arbeit keine ‚Ersatzbefriedigung“, sondern absolut lustvoll besetzt. Natürlich ist hier das Klischee von der deutschen Arbeitsmentalitaet extrem ueberzeichnet und als Zynismus markiert, könnte aber – speziell im heutigen politischen Kontext – von unseren europäischen Nachbarn im Süden leicht fuer bare Münze genommen werden. M.E. ist der Song heute wieder hochaktell, ihm sind sogar noch neue Aspekte zugewachsen. HPE

  2. Pingback: Meine 10 Schritte zu einem stabilen Finanzplan | Deine Finanzrebellion

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