Ach leck mich, Katze. Zu Rainald Grebes „Am Ofen“
9. Januar 2012 1 Kommentar
–
Rainald Grebe Am Ofen draußen fallen dicke flocken der dezemberschnee wir sitzen hier am ofen und das herz tut weh wir sind wieder rausgefahren in die wallachei wir lesen viel im kaffeesatz und wir gießen blei das sind die rauen nächte zwischen weihnacht und neujahr die hexen fliegen übers haus und der mond scheint in ihr haar und wir sitzen am ofen ... wieder ein jahr um huch wie schnell das geht der kalender liegt im feuer wie sich alles dreht wo bin ich überall gewesen die katze leckt mein ohr all die kilometer die ich dieses jahr gefressen hab what for what for und wir sitzen am ofen ... und wir rauchen das gras von diesem jahr wir sitzen am ofen die mäuse trippeln über mir kaffee satt heißt jetzt lattemachiatoflatrate berlin berlin wir sitzen am ofen ... einer sagt er hat viel geld verdient doch er weiß nicht wozu er sagt daß er viel mit seinem konto spricht doch es antwortet nicht wir reden viel über carsharing und alternative medizin und der peymann sollte endlich mal in rente gehen der sack berlin berlin wir sitzen am ofen laß dein blackberry an hier gibts eh kein empfang wir sitzen am ofen und die katze auf den knien berlin versinkt in kokosmilch berlin berlin wir sitzen am ofen und wir rauchen regionale drogen ich sage ich will aus den städten weg doch das ist gelogen das ist gelogen wir sitzen am ofen und die katze auf den knien wir sitzen am ofen und die katze sagt wenns dir hier so gut gefällt warum bleibst du nicht hier wir sitzen am ofen ... [Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung: Zurück zur Natur. Versöhnungsrecords 2011. Die Textfassung folgt dem Booklet.]
–
In diesem Winter war hierzulande bisher zwar noch vergleichsweise wenig von ‚dicken Flocken‘ zu sehen, aber die Zeit ‚zwischen Weihnachten und Neujahr‘ hat es wie immer gegeben. Und welche Tage (und Nächte) hätten sich besser angeboten, um über die Situation und Stimmung nachzusinnen, die Rainald Grebes Lied Am Ofen entfaltet?
Die Sache liegt recht klar: Jemand, der offenbar in Berlin wohnt und beruflich viel unterwegs ist, verbringt die Zeit zwischen den Jahren wieder einmal mit anderen Leuten (ob mit Freunden oder Verwandten, bleibt unbestimmt) auf dem Land. Dort ist es winterlich schön, draußen kalt, drinnen behaglich warm, gesellig und geruhsam zugleich. In der so charmanten Urigkeit stören selbst die Mäuse unterm Dach nicht. Wehmütig blickt man auf das zurückliegende Jahr zurück und stimmt sich beim Kaffeesatzlesen und Bleigießen ebenso spielerisch wie abergläubisch auf das kommende Jahr ein. Man redet über das moderne Leben in Berlin, wie es wohl alle Anwesenden führen und von dem sie sich hier, kiffend am Ofen sitzend, eine kurze Auszeit gönnen. Raus aus der Stadt – „zurück zur Natur“, zurück zu sich selbst – aber in dem vollen Bewusstsein, nirgendwo anders hinzugehören und hinzuwollen als eben doch in die Stadt.
Aus der Ruhesituation erwächst ein Gefühl von Melancholie. Denn befindet man sich nicht mehr inmitten des aktiven Alltagslebens, sondern betrachtet es von außerhalb, wird einem plötzlich klar, dass das ganze eigene Handeln ständig von der Entwertung bedroht ist. So fragt sich der moderne Melancholiker: Wofür arbeite ich denn eigentlich? Was soll ich mit dem vielen Geld, das ich wer weiß wie verdient habe? Taugt alternative Medizin etwas und welche ist die richtige? Lebe ich verantwortungsvoll genug? Was sollen Moden wie „[L]attemachiatoflatrate“? Davon schmerzt das Herz, zumal angesichts der Einsicht, dass man trotzdem nicht „aus den [S]tädten weg“ will. Die von der Katze am Schluss gestellte Frage – Die Katze spricht! –, „warum bleibst / du nicht hier“, „wenns dir hier / so gut gefällt“, unterstreicht noch einmal dieses Dilemma.
Die auf der CD Zurück zur Natur gesungene Fassung weicht an dieser Stelle auffallend vom Booklet-Text ab. Grebe spart in der Einspielung die Frage der Katze aus. Stattdessen ist im Fadeout neben dem wiederholten „und die Mäuse trippeln über mir“ das Vorhaben „und ich epilier mich gleich mein Nasenhaar“ zu hören. (In einer Live-Version von einem Konzert in Leipzig singt Grebe beides – die Katzenfrage und das mit dem Nasenhaar.)
Die Vorstellung, dass sich jemand das Nasenhaar epiliert, desavouiert endgültig die ohnehin schon ironisch gebrochene Melancholie und konterkariert als Beispiel zivilisatorischer Überzüchtetheit die eingangs evozierte Atmosphäre. Die der urbanen Arbeitswelt und Lebenskultur für ein paar Tage Entflohenen sind in eine urtümlich anmutende Gegenwelt geraten, die sich nach und nach als eine Sphäre des Unwirklichen erweist: Die Städter sitzen hier an einem Ofen, nicht an einer Heizung; sie geben sich der Melancholie hin, anstatt produktiv und erfolgreich unterwegs zu sein; sie vollziehen Praktiken des Aberglaubens (Kaffeesatzlesen, Bleigießen). Die um und über das Haus wehenden Winde oder Schneewirbel erscheinen als Hexen. Im Zusammenspiel mit anderen Textelementen tendiert diese Metapher für Wettererscheinungen mehr und mehr ins Unwirklich-Dämonische (das Gras tut hier offenbar sein Übriges).
Denn „die rauen [N]ächte“ lassen die Raunächte bzw. Rauchnächte (u. a. 25. Dezember und Neujahrsnacht oder auch die Zwölf Nächte/Zwölften zwischen Weihnachten und Dreikönigstag insgesamt) anklingen, in denen laut Volksglauben Dämonen umherziehen, zu deren Abwehr Häuser und Anwesen mit Weihrauch eingeräuchert werden. Hexen sagt man besondere Macht in den Raunächten nach. Außerdem sollen sie fliegen und sich in Tiere verwandeln können – in Katzen beispielsweise. Diese gelten auch als typische Begleittiere von Hexen. Deshalb soll man sie in Raunächten auch besser aus dem Haus schaffen. Zu den Dämonenwesen, die in den Raunächten ihr Unwesen treiben sollen, zählt auch Frau Holle (ähnlich der Perhta), die von einer Schar, dem Totenheer, begleitet wird. Auf sie könnte man die „dicke[n] [F]locken“ aus der ersten Textzeile beziehen. Zudem gilt die Katze als Lieblingstier der Frau Holle. (vgl. zu den hier herangezogenen Vorstellungen des Volksglaubens z. B. die Einträge Hexe in Bd. 3, insbesondere Sp. 1839, 1851, 1869 u. 1871, Perhta in Bd. 6, Sp.1478-1486 und Rauchnächte in Bd. 7, Sp. 529-532 des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens)
Der zauberisch-unwirklichen Situation, dem Verharren am Ofen, in dessen Feuer mit dem Kalender das vergangene Jahr und damit symbolisch auch der rasche Lauf der Zeit verbrennt, wird bald – zumindest in Gesprächen – das ‚wirkliche‘ (d. h. tätige, verantwortungsvolle, kulturelle, vernetzt-kommunikative usw.) Leben entgegengesetzt. Dessen Funktionieren wird in der irreal ruhigen Abgeschiedenheit auf dem Land sichtbar und erzählbar. Die Flucht aus der Stadt an einen unwirklichen – stillen, abgetrennten („kein Empfang“) – Andersort (markiert durch die vom tatsächlichen geographischen Raum abgelöste Bezeichnung „Wallachei“) führt doch nur zur Beschäftigung mit dem wirklichen Leben. Die verzweifelt wirklichkeitssüchtigen Menschen achten selbst hier draußen noch als umsichtige Konsumenten auf die regionale Herkunft des Grases, das sie rauchen.
Der Lauf der Zeit scheint angehalten – symbolisch eingefroren im Schnee – in der Nichtzeit zwischen den Jahren, bevor das neue Jahr anspringt und es zurück geht in die Stadt. Die kalte Erstarrung und die dämonische Atmosphäre werden aufgefangen durch das anheimelnde Bild des wohl Wärme verströmenden Ofens und das Mondlicht. Warum schrillt „berlin berlin“ immer wieder in diese Sehnsuchtsstimmung hinein? Warum will das Ich des Textes nicht hier bleiben? Es gefällt ihm doch hier, und die Arbeit oder das verdiente Geld provozieren rückblickend doch nur die letztlich unbeantwortete Frage „what for“ bzw. ‚Wozu‘? – „die ewige Frage“ schon in Gottfried Benns Gedicht Nur zwei Dinge.
Das Problem liegt vielleicht darin, dass sich diese Frage genau hier, am Ofen, stellt. Der brennende Kalender im Ofen kündet von der Vergänglichkeit, vom Tod. Der steht dem Leben gegenüber, aus dem er als unwirklich ausgegrenzt wird. So lassen sich die Anspielungen aufs Dämonische (Hexen, Frau Holle, sprechende Katze) integrieren.
Das alltägliche Leben macht blind für die Leere des Treibens in seiner Wirklichkeit und lässt die Ahnung des naturgesetzlich unausweichlichen Todes vergessen, paradoxerweise auch obwohl es schnell vergeht in der Eile von Termin zu Termin, im Wechsel der Moden, auf kilometerlangen Fahrten. Berlin erstarrt nicht im Schnee, sondern versinkt in Kokosmilch (das Gras wirkt). Das macht es zwar nicht gleich zu einem Ort, an dem Milch und Honig fließen, aber hier bewegt sich etwas, man lebt modern und ernährt sich bewusst – am besten vegan mit Kokos- statt Kuhmilch.
Solang man aber räumlich und zeitlich noch vom Alltag und dem aktiven, zivilisierten Leben abgetrennt ist, erzählt man ersatzhalber zumindest davon. Das Ich in diesem Text verweigert sich dezidiert dem Verharren in Melancholie, indem es sich auf die Wirklichkeit, also auf das Leben verlegt, so absurd das in seiner Zwecklosigkeit („what for“), seinem Schweigen (das Konto „antwortet nicht“) oder seinen Handlungen (Nasenhaar epilieren) auch sein mag.
Denise Dumschat-Rehfeldt, Bamberg
Pingback: Rabe schwarz auf Weiß. Zu Rainald Grebes „Der Rabe“ « Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie