Definition eines Berufsbildes, Lebensberatung, nett verpackter Korb oder Trost für sitzengelassene Mädchen? Lolitas „Seemann (deine Heimat ist das Meer)“ (1960)

Lolita (Text: Fini Busch)

Seemann 

Seemann, laß das Träumen, 
denk nicht an zuhaus, 
Seemann, Wind und Wellen rufen 
dich hinaus. 
 
Deine Heimat ist das Meer, 
deine Freunde sind die Sterne, 
über Rio und Shanghai, 
über Mali und Hawaii. 
Deine Liebe ist dein Schiff, 
deine Sehnsucht ist die Ferne, 
und nur ihnen bist du treu, 
ein Leben lang. 
 
Seemann, laß das Träumen, 
denke nicht an mich, 
Seemann, denn die Fremde wartet 
schon auf dich. 
 
Deine Heimat ist das Meer [...]

     [Lolita: Seemann. Polydor 1960.]

Zu den Schlagern meiner Kindheit, an die ich mich noch ganz genau erinnern kann, zählt mit Sicherheit Lolitas Ratgeberlied für Männer in nautischen Berufen. Lolita war der Künstlername der Österreicherin Edith Einzinger (geb. Zuser, 1931-2010), die schon als ,Ditta Zusa‘ gut im Geschäft gewesen war, mit ihrem Seemann dann aber auch die internationalen Hitparaden stürmte. Mit Sicherheit zählt das von Fini Busch getextete und Werner Scharfenberger komponierte Lied zu jenen Schlagern, die „wir“ (d.h. die Generation der Zeitgenossen) nie vergessen; so wurde der Titel auch mit vollem Recht in der Moritzschen Anthologie berücksichtigt. Elmar Kraushaars Besprechung (Männerwelten, in: Schlager, die wir nie vergessen. Verständige Interpretationen. Hg. v. Max & Moritz. Leipzig: Reclam 1997, S. 107-110) zählt nicht zu den schlechtesten Beiträgen jenes Readers und trägt bereits einige Aspekte zur Wirkungsgeschichte zusammen.

Kraushaar platziert den Schlager im historischen Kontext einer mitteleuropäischen Nachkriegsgesellschaft, die einerseits von abwesenden, gefallenen, versehrt und traumatisiert zurückgekehrten Männern geprägt war, anderseits von Frauen, die an der Heimatfront vielfältige Ersatzfunktionen auszufüllen gehabt und dabei an ,Macht‘ und Einfluss gewonnen hatten. 1960 sei es gesellschaftspolitisch darum gegangen, „das beschädigte kollektive Selbstwertgefühl“ zu entlasten, die altüberlieferte Genderrolle des Mannes als Abenteurer und Eroberer zu restaurieren (vgl. ebd. S. 108  f.) und die Frau wieder in die klassische untergeordnete Stellung zurückzudrängen (vgl. ebd. S. 109 f.). Diese These soll hier nicht rundweg bestritten, aber doch durch andere Beobachtungen und Kontextualisierungen sowie einige Lesarten ,gegen den Strich‘ ergänzt werden.

Der Künstlername der Sängerin steht heute wahrscheinlich einer unvoreingenommenen Rezeption ihrer Auftritte und Songs im Wege: Im Jahre 1960 konnte „Lolita“ mit dem warmen Timbre ihrer Stimme allerdings weder lustige Assoziationen zu Fußballer-(Ex-)Frauen noch zu Nabokovs Romanfigur wecken, war der gleichnamige Roman doch gerade erst im Herbst 1959 in deutscher Sprache erschienen und auch noch nicht verfilmt (Stanley Kubrick 1962). Wenn „Lolita“ beim damaligen Schlagerpublikum irgendwelche Erinnerungen ausgelöst hat, dann vermutlich an Rosita Serrano (1914-1997), die in den 1930er und 40er Jahren als ,Chilenische Nachtigall‘ in Deutschland Erfolge feierte (Roter Mohn). In der miefigen Enge der deutschen (bzw. österreichischen) Nachkriegsgesellschaft boten Namen wie Rosita, Lolita, Dalida oder Melina (Mercouri) eskapistischen Träumen von exotischer Ferne Anknüpfungspunkte, und Liedtexte wie Seemann halfen dabei kräftig nach: Rio und Shanghai, Mali und Hawaii mochten bei den Zeitgenossen, deren Urlaubsziele eher an der Nordsee, in der Wachau oder im Bayerischen Wald als in Karibik, Fernost oder gar im Pazifik lagen, schon ein wenig verführerischer durchs Ohr gegeistert sein als Baltrum, Melk oder Zwiesel.

Ironischerweise hatte die Österreicherin ihre ersten Erfolge mit Schlagern der Heimatwelle eingefahren (vgl. Weißer Holunder). Mit dem Namenswechsel zu Lolita folgte sie nur einem Trend der Zeit und entwickelte sich darin bald zur Spezialistin für exotische Fernwelten (Der weiße Mond von Maratonga, Mexicano, Melodia Ba-Bahia, Manana Caballero, Stern der Tropennacht, Sterne der Prairie usw.), ohne freilich den Bezug zum Volkstümlichen völlig aufzugeben. Ab Mitte der 1960er Jahre setzte sie wieder verstärkt auf das Pferd „Heimatverbundenheit“ und startete in diesem Unterhaltungsgenre eine zweite bzw. (je nach Zählung) dritte erfolgreiche Karriere als Moderatorin einschlägiger Fernsehsendungen (Im Krug zum grünen Kranze, Lustige Musikanten). Insofern verwundert es nicht, wenn man von ihr – auf 1993 datiert – auch die Antithese zu ihrem Erfolgsschlager von 1960 findet: „Seemann, bleib zu Hause, / fahr nicht hinaus aufs Meer, / da draußen sind die Nächte kalt / und ich brauch dich so sehr, / Seemann, bleib zu Haus!“

Im späteren Schlager von 1993 verkörpert die Sängerin – logisch unproblematisch – die Geliebte des angesungenen Seemanns, die sich nach ihrem Mann sehnt, Angst um ihn hat und eine gewisse Eifersucht gegen dessen Schiff erkennen lässt, das sie als ,alten Kahn‘ tituliert. Dagegen ist die Haltung der Sprecherinstanz im wesentlich bekannteren Lied von 1960 für den durchschnittlichen Schlagerkonsumenten einigermaßen schwer durchschaubar, ja eigentlich unplausibel. Sie ist zwar eindeutig weiblich, aber schon wenn man entscheiden sollte, ob es die Stimme der Freundin des Seemanns ist oder die seiner Mutter, beginnen die Schwierigkeiten. Genregemäß hätten aber sowohl Geliebte (Ein Schiff wird kommen etc.) als auch Mutter (Junge, komm bald wieder) einem geliebten (?) Mann, der sich dem ungewissen Element anvertraut, von Rechts wegen einen anderen Text einzusagen, als dass er aufhören solle zu träumen und endlich einsehen müsse, dass das Meer seine Heimat und das Schiff seine Liebe ist. Das ist doch reichlich seltsam, oder? Wenn es eine männliche Sprecherinstanz wäre, könnte man vielleicht sagen, das Ganze sei der Ruf der ,archaischen Männerhorde‘, die den Kumpel aus seinen familiären Bindungen herauslösen und zur infantilen Regression anstiften wolle (etwa im Sinne von Brechts Ballade von den Seeräubern). Aber so?

Neben Kraushaars ideologiekritischer Deutung, die sich allerdings mehr auf die politischen Verhältnisse im Lande zu Zeiten Adenauers bezieht als auf die textinterne Sprechsituation im Schlager, scheinen mir noch folgende Interpretationen der Situation – zumindest theoretisch – denkbar:

a) Die Sprecherinstanz – also Lolita, die in dieser Deutungsvariante als Freundin bzw. Geliebte aufgefasst wird, – hat noch einen zweiten, attraktiveren Lover; sie gibt also ihrem Seemann auf nette Art den Laufpass, indem sie ihm nicht einfach sagt, dass sie was Solideres in der Hinterhand habe, sondern ihm suggeriert, dass er nicht für die Liebe im klassischen Sinne geschaffen sei, sondern im Grunde mehr auf Wasserfahrzeugen stehe.

b) Sie – Lolita, jetzt aber als Mutter gedacht, – will noch was vom Leben haben, nachdem sie Deutschland gerade als Trümmerfrau (vgl. Kraushaars Situationsbeschreibung!) wieder aufgebaut und ihr Blag durch die schlechte Zeit gebracht hat. Der Nesthocker soll jetzt das mütterliche Sofa räumen und hinaus in die weite Welt. So verständlich uns diese Sicht der Dinge aus heutiger Zeit vielleicht anmutet, so wenig plausibel erscheint sie doch für die psychologische Situation für Mütter nach dem großen Krieg.

c) Lolita hat sich an Hapag Lloyd oder ein sonstiges Unternehmen der christlichen Seefahrt verdingt, dem in Zeiten des legendären Wirtschaftswunders (1960!) der nötige Nachwuchs zur Steigerung des Bruttosozialprodukts abgeht. Sie stellt deshalb im Werbejingle bzw. Rekrutierungs-Schlager ihre Stimme bewusst auf einen Sound zwischen mütterlicher Autorität und Sirene (Odysseus, nicht Polizei!) ein. Der Text entwirft dann ganz konsequent das Bild eines ultraromantischen Matrosenlebens und lockt vermutlich Scharen unbedarfter Landratten zu Mindestlöhnen auf die Seelenverkäufer der Auftraggeber, zumal ihnen versprochen wird, dass ,die Fremde schon auf sie warte‘.

Bleibt noch Variante d): Lolita – nun als verlassene Seemannsbraut gedacht oder als Freundin einer solchen – tröstet sich oder besagte Freundin mit der Einsicht, dass man Männer mit Salzwasser im Blut und Möwengeschrei in den Genen ziehen lassen muss. Zweifel an der eigenen Attraktivität sind in solchen Fällen unangemessen, gegen die Natur ist nun einmal nichts zu machen…

Hans-Peter Ecker, Bamberg