Väterchen Franz als Godfather of Punk. Wie der Liedermacher Franz Josef Degenhardt textlich die Ästhetik der Sicherheitsnadel im Gesicht vorwegnahm

Franz Josef Degenhardt

Väterchen Franz

He, Väterchen Franz,
versoffner Chronist,
he, Väterchen Franz,
sag du, wie es ist.
He, Väterchen Franz, he, Väterchen Franz,
erzähle die Geschichte, erzähle sie ganz.
Nun gut. Väterchen Franz hebt an: 

Seht ihr drüben, Mitbewohner, das Hygieneinstitut,
da, wo heut die weißen Riesen die Gehirne waschen? – Gut,
genau bis dorthin reichte damals unsre Vaterstadt,
und da lebten die im Aussatz, die man nicht ertragen hat:
Der SS-Offizier, der nachts nicht schlief, sondern schrie,
und der Zoodirektor abgehalftert wegen Sodomie,
der schwule Kommunist mit TBC und ohne Paß
und der abgefallne Priester, der noch schwarze Messen las,
das Hasenschartenkind, das biß, wenn’s „bitte“ sagen sollt’,
und der Schreiner, der partout so wie Jesus leben wollt’.

He, Väterchen Franz,
versoffner Chronist,
he, Väterchen Franz,
sag du, wie es ist.
He, Väterchen Franz, he, Väterchen Franz,
erzähle die Geschichte, erzähle sie ganz.
Nun gut. Väterchen Franz fährt fort.

Viele Jahre lebten sie dort zwischen Trümmern, Schrott und Müll,
aßen Krähen, tranken Wermut, rauchten Pfefferminz mit Dill.
Ihre Haare waren lang und ihre Bärte kraus und dick,
und sie stanken wie die Füchse, jeder hatte seinen Tick:
Der SS-Offizier, der suchte Massengräber und
stach überall mit einer Eisenstange in den Grund.
Der Zoodirektor schuf aus Pappe, Polsterzeug und Draht
ein riesengroßes Tier, das seufzen konnte, wenn man’s trat.
Der Kommunist, der malte rote Sonnen, prophezeite schon
für das nächste Wochenende die Weltrevolution.

He, Väterchen Franz, […]

Und der Priester psalmodierte monoton von früh bis spät
ein aus Kurs-, Konzils- und Kriegsbericht bestehendes Gebet.
Und der Schreiner, der vermehrte meist den Wermutweinvorrat,
und das Kind baute den Ratten eine richt’ge Rattenstadt.
Und so hätten sie gelebt, vielleicht bis heute irgendwann.
Doch es fing dann diese peinliche Geschichte plötzlich an:
Töchter und die Söhne aus den allerbesten Familien
zogen, zunächst heimlich, später offen nach dorthin,
sangen rohe Lieder, tranken, liebten sich wie kreuz und quer,
und sie ließen ihre Haare wachsen, wuschen sich nicht mehr. 

He, Väterchen Franz, […]

Viele schlugen sogar mit den Fäusten ihre Erbschaft aus,
schütteten die Mitgift in das Faß voll Saus und Braus.
Sie verbannten – dazu tanzend – gar den Abendlandaltar
und verleugneten ganz öffentlich die gelbe Gefahr.
Das ging nun freilich weiter als ein High-life-Schabernack.
Voll Angst verschloß man alle Tempeltüren, auch am Tag.
Doch im Hirtenbrief erklärte unser Zeitungszar zuletzt
das saubere Empfinden unsrer Stadt als grob verletzt,
sprach dem Senat das Mißtraun aus, befahl im barschen Ton
dem fetten Polizeichef eine Säuberungsaktion.

He, Väterchen Franz, […]

Es war an einem Montag, als die Säuberung begann.
Zwanzig Bagger robbten sich zum Aussatzrevier ran.
Das Hasenschartenkind, das mit den Ratten spielte, das
bemerkte sie als erstes, brüllte, hüpfte in ein Faß.
Der SS-Offizier, der grade bohrte, hört’ es schrein,
gab Alarm, legte die Stange so wie eine Lanze ein,
galoppierte auf die Bagger zu, sang das Horst-Wessel-Lied,
der Baukolonnenführer riß die Hand hoch und sang mit.
Die Baggerrachen - tief am Boden - fauchten, und in ein’
preschte, blind vor Glück und Wut, der SS-Ritter hinein.

He, Väterchen Franz, […]

Es formierten sich die Bagger dann zu einem offnen Kreis,
rollten vor zu jenem Panzerlied. Der Tag war glühend heiß.
Mit riesengroßen Seufzern fiel das riesengroße Tier
ineinander. Ein paar Eisenraupen knirschten drüber her.
Dann zunächst fing man mit Netzen alle Bürgerkinder ein,
warf den zappeligen Fang in große Waschtröge hinein.
Nur die Aussätzigen ließ man, und die rannten hin und her.
Doch der Kreis wurd’ enger, schloß sich, und dann sah man sie nicht mehr.
Schließlich spritzte man noch Napalm. Wollt ihr wissen, was geschah,
wie das Hasenschartenkind zum Beispiel hinterher aussah?

Nee, Väterchen Franz,
versoffner Chronist,
nee, Väterchen Franz,
sei’s, wie es ist.
Nein, Väterchen Franz, nein, Väterchen Franz,
hör auf mit der Geschichte, Kunst ist doch Genuß.
Nun gut. Väterchen Franz macht Schluß.

     [Väterchen Franz. Chansons von und mit Franz Josef Degenhardt. Polydor 1966.]

Wir sind die Ratten / Wir leben in der Scheiße / Wir sind die Ratten / Wir leben im Dreck“ sang 1983 die Berliner Hardcore-Punkband Vorkriegsjugend und formulierte damit einen zentralen Aspekt der Punk-Attitüde: das Bekenntnis zur Hässlichkeit. In Gottfried Benns Skandalgedicht Schöne Jugend von 1913 existierte mit dem Pathologen, der der Sektion einer Mädchenwasserleiche beiwohnt und dabei mehr Anteilnahme für die jungen Ratten, die in und von der Leiche gelebt haben, aufbringt als für das Mädchen, immerhin noch eine menschliche Vermittlungsinstanz; bei Vorkriegsjugend hingegen ist die Faszination für die Ratten zur Identifikation mit ihnen geworden. In den Strophen werden die Parallelen zwischen Sprecher-Wir und Ratten weiter ausgeführt:

Ihr wollt uns vernichten
mit eurem Alltagsscheiß.
Ihr wollt uns vergiften
und das um jeden Preis.
Ihr wollt uns das Leben nehmen
und wißt nicht mal warum.
Ihr wollt uns doch verscheißern,
verkauft uns doch für dumm.

[…]

Wir soll’n euch gehorchen,
euch, den hohen Herrn.
Ihr wollt uns unterdrücken
und unsere Welt zerstören.
Ihr wollt uns kasernieren
und laßt uns überwachen.
Ihr wollt uns umerziehen,
zum braven Bürger machen.

In den ersten sechs Versen wird – abgesehen vom „Alltagsscheiß“ – das Bild der Ratten durchgehalten und im Sinne der faschistischen „Ungeziefer“-Rhetorik, die filmisch im berüchtigten Umschnitt von Juden auf Ratten in Veit Harlans Jud Süß kulminiert, verwendet. Anschließend passen die Maßnahmen und Absichten der „hohen Herrn“ zunehmend weniger in ein Szenario mit Ratten im wörtlichen Sinn, sondern in eines mit als schädlich eingestuften Menschen, die sich offenbar eine Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft erschaffen haben – im historischen Kontext der 1980er Jahre lässt sich dies auf besetzte Häuser und selbstverwaltete Jugendzentren beziehen.

Was hier in punktexttypischer Kürze und Vulgarität skizziert wird, hatte Franz Josef Degenhardt siebzehn Jahre zuvor seinen Erzähler Väterchen Franz, der in der Situation einer aus wenigen Details erschließbaren Dystopie („Sehr iht drüben, Mitbewohner, das Hygieneinstitut, / da, wo heut‘ die weißen Riesen die Gehirne waschen?“) elaboriert schildern lassen. Am Anfang der Geschichte, die mit einem Massaker endet, stehen mehrheitlich existentielle Außenseiter, deren Verhalten so weit von der Norm abweicht, dass sie nicht mehr in die bürgerliche Gesellschaft integrierbar sind – sei es aufgrund von Traumata, sexuellen Aberrationen, der Infragestellung herrschender religiöser oder politischer Vorstellungen oder, beim „Hasenschartenkind“, einer Kombination aus äußerer Entstellung und der Weigerung, sich an alltägliche Konventionen zu halten. Diese im „Aussatz“ – die Ratten-Assoziation wird über die Verbindung mit Ekel und infektiöser Krankheit hier vorbereitet – Lebenden bauen sich eine eigene Lebenswelt, in der sie ungestört ihren Vorlieben nachgehen können, – gespiegelt in der „Rattenstadt“, die das Kind den Ratten baut. Die Außenseiter werden zunächst geduldet, weil sie räumlich separiert und auf nicht genutztem Territorium leben.

Dies ändert sich, als die friedlichen Koexistenz verschiedenartig Versehrter Anziehungskraft auf junge Menschen aus der bürgerlichen Gesellschaft ausübt, die dem Beispiel der existentiellen Außenseiter folgen und freiwillige Außenseiter werden. Dadurch drohen der Gesellschaft nicht nur zukünftige Arbeitskräfte verloren zu gehen, sondern wird die Lebensform der Ausgestoßenen von gesellschaftsstützenden mahnenden Beispiel zum gesellschaftlichen Gegenentwurf, wird politisch und ästhetisch aufgeladen („Sie verbrannten – dazu tanzend – gar den Abendlandaltar“) – spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem die Besuche der Bürgerkinder nicht mehr als guilty pleasures wie das verbotene Spielen mit den „Schmuddelkindern“ in Degenhardts bekanntestem Lied verheimlicht werden, sondern offen stattfinden und auch Konsequenzen für das Erscheinungsbild der Kinder haben. Was hier 1966 skizziert wird, findet seine realweltliche Entsprechung nicht in den Hippie-Landkommunen der 1960er und 1970er Jahre, sondern in den Gelagen von Punks auf Bahnhofsvorplätzen – Suff und rohe Lieder statt Kiffen und Folksongs, Hässlichkeit als ästhetisches Ideal, inszenierte Selbstzerstörung als Lebensweise, „Abschaum“ und „Zecke“ als Selbstbezeichnung, Kunst, die nicht mehr Genuß ist, sondern wehtut (Industialbands haben dieses Kunstverständnis akustisch wie optisch – etwa mit Videoprojektionen von KZ-Aufnahmen – noch weiter radikalisiert).

Degenhardt, der Liedermacher mit dem Oberstudienratsbart, der elaborierte Texte schrieb und sich nicht für Popmusik interessierte, erweist sich so in „Väterchen Franz“ als pophistorischer poeta vates. Lediglich bezüglich der faschistischen Reaktion seitens der Mehrheitsgesellschaft traf seine Prognose nicht zu. Zwar kann eine sich als alternativlos inszenierende Leistungsgesellschaft einen Gegenentwurf tatsächlich nicht hinnehmen; jedoch hat sie im Großen und Ganzen die Strategie der repressiven Toleranz und der Kommerzialisierung gewählt – am Markantesten sichtbar an der ‚Karriere‘ der Londoner Punks vom Schandfleck zum Postkartenmotiv.

Franz Josef Degenhardt, dessen Lieder mehrfach von Punkbands gecovert wurden (Abstürzende Brieftauben: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern; NoRMAhl: Sacco und Vancetti L.a.R.S.: Zug durch die Gemeinde), hat die Punk-Ästhetik nicht nur mit Sympathie antizipiert, ohne sie selbst radikal zu kultivieren – er lässt sein Alter Ego mit dem Erzählen aufhören, als das Publikum darauf insistiert, Kunst sei schließlich Genuß (auch wenn der Hohn in seiner Stimme, mit dem er diese Einlassung vorträgt, seine Verachtung vor einem solchen Kunstverständnis deutlich macht); er hat auch ein Wort erschaffen, dass das Selbstbild von Punks im Gegensatz zu den verhassten, sich als „Blumenkinder“ verstehenden Hippies im Deutschen formuliert: „Schmuddelkinder“.

Martin Rehfeldt, Bamberg