Ein Künstlerleben als Ritt auf der Rasierklinge oder Die Hemshof-Friedel und ihr „Hemshof-Boogie“

Es geht in diesem, seiner Form nach vielleicht etwas ungewöhnlichen Beitrag, um vier Themen und einen Einschub, die nachfolgend abgearbeitet werden:

a) Eine Frau namens Elfriede Kafschinsky (1914-1979), die als Straßensängerin unter dem Künstlernamen ,Hemshof-Friedel‘ in der Vorderpfalz zu einem gewissen Ruhm gekommen ist.

b) Ein legendenumwobenes Stadtviertel einer größeren Kommune im Südwesten Deutschlands, die man – auch falls man dort weder aufgewachsen ist, noch da lebt oder beruflich zu tun hat – vielleicht deshalb ,kennt‘, weil ihr 2018 in einer populären Fernsehsendung ein bemerkenswerter Superlativ zuerkannt wurde.

(Video-Einschub)

c) Fragmente eines Liedtextes.

d) Appell an die Nutzer dieses Blogs, seine interaktiven Möglichkeiten zu nutzen.

(a) Sichere Informationen über die Hemshof-Friedel sind spärlich. Sie wurde Ende Dezember 1914 geboren, laut Wikipedia wahrscheinlich am 29. Dezember. Die Unsicherheit ergibt sich daraus, dass der Säugling im Braunschweiger Stadtpark ausgesetzt worden war. Katholische Ordensschwestern sollen das Baby ins Waisenhaus gebracht haben, wo man sich seiner annahm. Vermutlich haben die Schwestern ihm auch seinen Vornamen gegeben. Ein Zwillingsbruder sei andernorts ausgesetzt worden, zufällig aber ins gleiche Waisenhaus gekommen. Ein paar Jahre später habe sich ein Mann namens Kafschinsky nach den Kindern erkundigt und eine Wilhelmine Kills als Mutter angegeben. Als Elfriede 12 Jahre alt war, habe man ihren Bruder verlegt und ihr zum Trost eine Gitarre geschenkt. Darauf zu spielen habe sie sich selber beigebracht, von einem absoluten Gehör ist nichts überliefert …

Vieles, was man über das Leben der Elfriede Kafschinsky zu wissen glaubt, klingt so, als wäre es erfunden. Nicht von ungefähr bezeichnet Martin Huber seine Schrift „Hemshof-Friedel“ (Neustadt: Weinstraßenverlag, 1986) im Untertitel als „Biographie einer legendären Musikantin“. Sind einzelne Lebensstationen tatsächlich zu dokumentieren, gehen viele andere Abenteuer der ,Heldin‘ auf Erzählungen zurück, die sie selbst bei unterschiedlichen Gelegenheiten und in entsprechenden Varianten in die Welt gesetzt hat. Diese Geschichten wurden von den jeweiligen Zuhörern nach ihren jeweiligen persönlichen Interessen verstanden, beim Nacherzählen modifiziert, wobei die Einzelheiten durcheinander gerieten, – kurz: sie wurden dem normalen Prozess mündlicher Überlieferung ausgesetzt, der im Laufe der Zeit aus einem diffusen Material markante, eingängige Narrative herauspräpariert, die verwundern, berühren, unterhalten und letztlich auf den großen Erzähler warten, der in ihnen den potenten Rohstoff für einen ,großen‘ Künstler-, Zeit- und Gesellschaftsroman erkennt.

Als Appetithäppchen für einen solchen Autor hier wenigstens einige der vielen legendenumwaberten Stationen aus dem Leben der Elfriede K. zusammengestellt, z.B. dass sie fünfzehnjährig in einem ,Haus für gefallene Mädchen‘ bei Paderborn auftaucht (bei dem es sich übrigens nicht, wie Wikipedia berichtet, um ein ,Salzkortener Hauswildei‘ handelte, sondern um die Betreuungs- und Ausbildungsstätte des Sozialdienstes katholischer Frauen, Ortsverein Paderborn, ,Haus Widey‘ in Salzkotten, Ortsteil Scharmede), diese Einrichtung achtzehnjährig verlässt, um als Schaffnerin bei der Deutschen Reichsbahn zu arbeiten. Ein Kind, das seinen Ursprung der Sage nach einem Besuch des Kölner Karnevals verdankte, nimmt man der jungen alleinerziehenden Mutter weg. Vorher soll sie noch mit diesem Kind nach einem Fliegerangriff zwei Tage lang verschüttet gewesen sein.

In den Nachkriegsjahren arbeitet Elfriede, nun knapp über 30 Jahre alt, vorübergehend in Halle als Elektroschweißerin, unterhält als Schwarzhändlerin aber auch Geschäftsbeziehungen nach Ludwigshafen. Doch das Schicksal ist nicht auf ihrer Seite. Sie wird erwischt und verschwindet für zwei Jahre im Gefängnis. Thommy Müller berichtet auf seiner Internet-Seite, dass Elfriede K. 1950 endgültig nach Ludwigshafen gezogen sei. Sie schlägt im Stadtteil Hemshof Wurzeln und erlangt dort als Straßen- bzw. Kneipensängerin – und speziell als Schöpferin des sog. ,Hemshof-Boogie‘ – mit der Zeit den Status eines Originals. Es ist gesichert, dass die ,Hemshof-Friedel‘, wie sie nun jedermann nennt, in ihren späteren Lebensjahren einige (wenige) Schallplattenaufnahmen und auch den einen oder anderen Rundfunkauftritt als Höhepunkte ihrer Künstlerkarriere feiern durfte. Ihren Aktionsradius dehnt sie mit wachsender Bekanntheit über die Grenzen des Heimatbezirks aus, so dass man sie dann auch im Ludwigshafener Umland auf Volksfesten leibhaftig  – d.h. 145 cm lang, ebenso rund und wiederum 145 Pfund schwer – erleben konnte.

Den Dürkheimer Wurstmarkt des Jahres 1979 sollte sie allerdings nicht mehr überleben. Nach einem Zusammenbruch transportierte man sie noch in eine Ludwigshafener Klinik, wo sie nicht mehr aus dem Koma erwachte und an den Folgen einer Leberzirrhose verstarb. Einige alte Weggefährten aus dem Hemshof mobilisierten die Öffentlichkeit, so dass die Hemshof-Friedel ein Ehrengrab auf dem Hauptfriedhof erhielt. Die Wirtin ihrer Stammkneipe stiftete die Grabplatte mit der eingemeißelten Gitarre. Außerdem ziert eine Skulptur der Straßensängerin als zeitgenössische Muse des Gesangs neben Fritz Walter, dem Jäger aus Kurpfalz und einer Tänzerin den ,Brunnen Pfälzer Lebensfreude‘ von Bonifatius Stirnberg. Standort dieses Ensembles ist der Ludwigsplatz im Zentrum; aber bis zum Hemshof ist es von diesem Standort nur ein Katzensprung. Das passt.

Beinahe hätte ich jetzt vergessen zu erwähnen, dass 2020 der Ortsbeirat der Nördlichen Innenstadt einen Antrag der Linken ablehnte, die Signalanlagen des Hemshofs mit Ampelmännchen der Friedel auszurüsten, womit er die einzigartige Chance verspielte, den Mainzelmännchen der Landeshauptstadt etwas Gewichtiges entgegenzusetzen. Diese Entscheidung war vermutlich unter Kostengesichtspunkten vernünftig, boogiemäßig  bleibt sie jedoch jammerschade!

(b) Ohne ihr Quartier, diesen absolut speziellen Ludwigshafener Stadtteil zwischen BASF und den Gleisanlagen des ehemaligen Kopfbahnhofs, die die Hemshöfer einigermaßen von der ,feinen Innenstadt‘ (Anführungszeichen als Ironie-Signal, denn in Ludwigshafen gab es, wenigstens zu Lebzeiten der Friedel, die hier verhandelt werden, nie etwas richtig ,Feines‘; wer sich solchen Perversionen hingeben wollte, musste sich schon nach Mannheim bequemen!) fernhielten,  ist die Hemshof-Friedel gar nicht vorstellbar. Da ich das erste Drittel meines Lebens in Ludwigshafen zugebracht und u.a. Geographie studiert habe, halte ich mich für einigermaßen befugt, etwas zur Lokalität zu sagen.

Bevor zu diesem Thema aber überhaupt etwas gesagt wird, sollten wir uns darauf verständigen, dass es sehr viele unterschiedliche, gleichwohl authentische Hemshofbeschreibungen und -vorstellungen gab und gibt. Ein Teil der Unterschiede ergibt sich aus dem historischen Referenzhorizont, ein anderer Teil aus der räumlichen, disziplinären, sozialen und persönlichen Perspektive. Reden wir über das gegenwärtige, nach Jahrzehnten der Sanierung entstandene, trendige, schicke, multikulturell geprägte Ausgehviertel  (mit gelegentlichen Massenschlägereien zwischen verfeindeten Familien) oder über den früheren ,sozialen Brennpunkt‘ mit überwiegend maroder Bausubstanz zur Lebenszeit unserer Straßensängerin? (Ein kurzer informativer Abriss der Geschichte des Hemshofs findet sich auf www.ludwigshafen.de.) Blicken wir mit den Augen eines Gastronomen, Soziologen, Schauspielers, Immobilienmaklers oder Polizisten auf dieses Stadtviertel? Sind wir jung oder alt, haben wir hier die Liebe unseres Lebens gefunden oder hat man uns in den Straßen zwischen Goerdeler- und Carl-Wurster-Platz verprügelt und ausgenommen?  Schaut man ,von draußen‘ auf das Viertel oder erlebt man es als stets gegenwärtige Nachbarschaft?

Meine Eltern wohnten zwar nicht im Hemshof, „awwer net weit devunn wegg“, gerade einmal hinter einem Bahnübergang zum Stadtteil West. Und natürlich hatten wir ständig im Hemshof zu tun,  befanden sich dort doch der nächstgelegene Wochenmarkt, das Postamt, mein erster Kindergarten bei der Apostelkirche,  eine kleine Trainingshalle sowie, gleich gegenüber und nur einen Steinwurf vom berühmten ,Maffenbeier‘, wo sich die Hemshof-Friedel gerne sehen ließ, entfernt, die Stammkneipe unseres Basketball-Teams. Ich kannte mich mit dem Hemshof also schon ein bisschen aus, vor allem aber was den einschlägigen Tratsch anging: Kriminal- und Sittengeschichten, Anekdoten, Streiche, Gruseliges usw. Urbane Legenden, die sich vielleicht wirklich so ähnlich im Hemshof zugetragen hatten oder die sich dort wenigstens hätten zugetragen haben können.

Mein Vater war ein leidenschaftlicher Erzähler und viele seiner Geschichten spielten noch vor dem Weltkrieg, war er doch in den 1920er Jahren am nördlichen Rand des Hemshofviertels in den sog. ,Gartenwegen‘, einer BASF-Arbeitersiedlung mit kleinen Doppelhäuschen aufgewachsen, deren Leute ganz anders (tendenziell kleinbürgerlich) dachten und fühlten als die  ,Hemshöfer‘ in ihren Mietskasernen (letztere, den Erzählungen meines Vaters zufolge, gefährliche Burschen, Schläger, Schwarzhändler, leichte Mädchen, Säufer, Schnorrer, wenn nicht gar radikale Kommunisten, die auf einen Konvoi Hitlers kurz vor der ,Machtergreifung‘ so viele Ziegelsteine von den Hausdächern geschmissen hätten, dass der bei späteren ,Führerbesuchen‘ in Ludwigshafen um den Hemshof immer einen großen Bogen gemacht hätte). Die Friedel wurde von ihm nicht oft erwähnt, obwohl er von ihr wusste. Sie war ja bloß eine ,Zugereiste‘, die nicht einmal pfälzisch sprach. Und mit der amerikanischen Musik hatte es mein Vater ohnehin nicht.

So passte diese in den Sechzigern und Siebzigern schon etwas angejahrte, habituell anarchistische Stimmungskanone – außer natürlich zu ihrem alkoholisierten Stammpublikum in Hemshof-Kneipen  – paradoxer Weise besser zu einer jüngeren Generation  von Gymnasiasten, die sich antiautoritär gebärdeten und zumindest in Teilen den Gammellook für angesagt hielten, die sich für Folkmusik jeglicher Art interessierten, den heimatlichen Dialekt für sich entdeckten und kultivierten, schon länger die ,Mannheimerin‘ Joy Fleming verehrten und abends am Baggersee eben auch einmal Strophen des Hemshof-Boogie zwischen Songs von Bob Dylan, Donovan oder Joan Baez einstreuten.

Ich erzähle so ausgiebig von meiner Rezeption dieser Straßenkünstlerin, weil sie die grundsätzliche Platzierung dieser Gestalt zwischen Realität und Fiktion verdeutlicht, die mir als die eigentlich angemessene und realistische Sichtweise erscheint. Denn nur sie transzendiert sowohl das pure Elend einer verzweifelt prekären Existenz als auch unsere Reaktion darauf, die Empörung über den Zustand einer Welt, die solches Leid zulässt und anscheinend leichthin erträgt. Besagte Sichtweise korrespondiert mit der menschlichen Neigung, das krude Gegebene mit Bedeutung aufzuladen, es im weitesten Sinn ,poetisch zu verwandeln‘, die natürlich in einem tiefen Bedürfnis wurzelt, uns mit dieser defizienten Welt (die wir eigentlich verdammen sollten!) irgendwie zu versöhnen, um sie einigermaßen ertragen zu können. So dürfen wir beispielsweise in der Hemshof-Friedel einen Menschen sehen, der (analog zu Thomas Manns Adrian Leverkühn, wenngleich auf einem entgegen gesetzten Niveau) alle Höhen und Tiefen der Künstlerexistenz durchlebt, genauer gesagt durchlitten hat. (Den Beleg dafür liefert sie selber, und zwar ganz explizit im Prolog zu ihrem Hemshof-Boogie, wie wir noch sehen werden. )

Nun, zum Hemshof, aber auch zu Ludwigshafen als größerem Rahmen könnte ich noch sehr viel sagen, was aber den Rahmen dieses Blogs sprengen und die Geduld der meisten geneigten Leser, vermutlich sogar der Mehrheit der verehrten Leserinnen, die bekanntlich in dieser Hinsicht strapazierfähiger sind, vorzeitig erschöpfen würde. Ich belasse es deshalb bei zweien, mir noch wichtigen Bemerkungen: Jeder ,Raum‘ um einen Künstler ist viel mehr als eine topographisch und soziologisch zu fassende Angelegenheit. Und jeder, der Ludwigshafen oder Solingen oder Delmenhorst (oder sonst eine Kommune) zur ,hässlichsten Stadt Deutschlands‘ kürt, sollte sich klarmachen, dass Schönheit genau wie deren Gegenteil immer im Auge des Betrachters liegt!

Einschub: Mangels Verfügbarkeit eines Videos, in dem die Künstlerin ihren populärsten Titel, den Hemshof-Boogie zusammenhängend vorträgt, schiebe ich hier ein Feature über Eindrücke und Erinnerungen ein, die bei den Menschen haften geblieben sind. Ich hoffe, dass auf diese Weise meine vorangestellten Bemerkungen ein wenig ausgefleischt werden:

c) Ich vertrete die Meinung, dass es keinen ,kanonischen‘ Text des Hemshof-Boogies gibt, ja gar nicht geben kann. Es gehört zum Wesen der Kunst von Barden, Vaganten und Straßensängern, dass sie über große Textbestände verfügen, die sie der jeweiligen Situation eines Auftritts anpassen. Außerdem beherrschen sie in der Regel das Improvisieren und können bei Bedarf neue Strophen zu bekannten Melodien gewissermaßen aus dem Hut zaubern. Nicht zuletzt verzichte ich hier darauf, alle möglichen Strophen des Hemshof-Boogies aus dem Internet zusammenzusuchen und beschränke mich auf Prolog, Refrain und jene drei Strophen, an die ich mich selbst am besten erinnern kann.

Prolog und Refrain (nach www.tominfo.de):

Jeder möcht' einmal ein großer Star sein,
Auf der großen Bühne steh'n wie ich,
Jeder möchte mal den Applaus haben,
So wie ich, so wie ich.

Meine Damen, meine Herren,
Schau'n Sie mich doch bitte einmal an,
Vor Ihn'n steht der Hemshof-Boogie,
Der ja alles singen kann:

Der Bahnhof is' der Kampfplatz,
Da paßt ein jeder auf,
Der Ami schmiß die Kippe weg,
Und zwanzig stürzen drauf!

Ja, das is' der Hemshof-Boogie,
Oh, Camel oder Lucky, oh-oh die Schnucki,
Die Länge ist egal!
Ja, das is' der Hemshof-Boogie,
Ob Camel oder Lucky, oh-oh die Schnucki,
Die Länge ist egal!

In den ersten beiden Versgruppen stellt sich die Sängerin ihrem Publikum vor: erstens als ,großer Bühnenstar‘, zweitens als Epiphanie des Hemshof-Boogies. Ich gestehe, diese beiden Aussagen, die auf grotesk anmaßende Weise der Realität widersprechen, die (wahrscheinlich) zugleich ernst gemeint und sarkastisch-ironisch sind,  tieftraurig und komisch und noch alles Mögliche mehr zum Ausdruck bringen, zu bewundern. Sie berühren mich. Ich stelle mir die Friedel in einer schäbigen, verräucherten Hemshof-Kneipe vor, wie sie die Aufmerksamkeit der Saufbrüder auf sich zieht und deren vernebelte Hirne so verzaubert, dass sie ihr glauben, dass sich für den Augenblick eine Stimmung einstellt, die wir heute als ,großes Kino‘ bezeichnen würden. Und sobald die Sängerin spürt, dass sie ihr Publikum wirklich eingefangen hat, verwandelt sich auch für sie die Welt und sie fühlt sich allmächtig. Natürlich romantisiere ich jetzt, aber nur ein bisschen und das mit Vorsatz, Spaß an der Sache und bestem Gewissen! 

Mit der dritten Strophe nimmt die Sängerin dann erstmals Melodie und Rhythmus des Boogie auf. Auch inhaltlich repräsentieren diese vier Verse bereits weitgehend das typischen Schema aller mir bekannter Hemshof-Boogie-Strophen.  Die ersten beiden Zeilen leiten eine exemplarische Situation im Hemshof-Milieu ein, die Folgeverse bringen diese Situation mehr oder minder witzig pointiert zu ende. Mindestens die Verse eins, zwei und vier enden mit einer betonten Silbe. Hinter dem vordergründig irgendwie ,komisch‘ (mir fällt kein besseres Wort ein, ,humorvoll‘ würde gar nicht passen!) präsentierten Geschehen kommt eine brutale Lebenswirklichkeit zum Vorschein, die von der Sängerin als schlichte Gegebenheit gesetzt und hingenommen wird. Es bleibt dem Publikum überlassen, wie es mit dieser ,Realität‘ umgehen will. Für Nicht-Hemshöfer bzw. Angehörige privilegierter Schichten ist es relativ einfach, sich emotional abzugrenzen, indem man die geschilderten Vorgänge historisiert, fiktionalisiert oder sozial und räumlich distanziert. Wie Menschen auf dieses Lied reagieren, die unter einschlägigen Bedingungen leben müssen, kann ich mir nicht wirklich vorstellen.

Inhaltlich schildert die Strophe eine bekannte, absolut nicht Hemshof-typische Alltagsszene aus der Nachkriegszeit: Am Bahnhof prügeln sich Deutsche um die von Besatzungssoldaten weggeworfenen Zigarettenstummel. Die Zeiten sind schlecht, und wer hungert oder von einer Sucht abhängig ist, kann sich keinen Stolz leisten. Diese kleine Schilderung aus der Nachkriegszeit macht den Refrain verständlich: Camel bzw. Lucky (Strike) waren bekannte, den Soldaten der Siegermächte und bald auch den Deutschen vertraute Zigarettenmarken der Nachkriegszeit. Obwohl ,Lucky Strike‘ auf Deutsch ,Glückstreffer‘ bedeutet und seinerzeit den ,american way of life‘ mit allen möglichen positiven Attributen (Wohlstand, Freiheit usw.) verkörperte, muss man m.E. jetzt nicht allzu viel Bedeutung in die Wahl gerade dieser Namen hineingeheimnissen. Dass Ludwigshafen zur französischen Besatzungszone geschlagen wurde, ist mir bewusst, aber die Amerikaner logierten in Mannheim und waren also nicht weit. Möglicherweise griff die Friedel bei ihrer Namenswahl ja auch auf Produkte zurück, die ihr als Schwarzhändlerin bestens vertraut waren …

Wichtiger erscheint mir die dritte Refrain-Zeile „Die Länge ist egal!“ Im wörtlichen Sinne bezieht sich der Satz, der eine Wertung vornimmt, auf die Zigarettenkippen, um die man sich prügelt: Derjenige, dem es am Lebensnotwendigen mangelt, fragt nicht nach Menge oder Qualität, wenn er nur überhaupt etwas davon bekommen kann. Es macht – nicht nur meiner Meinung nach – durchaus Sinn, diese Feststellung ins Generelle auszuweiten. So interpretiert der ,kosmopfälzische‘ Entertainer Alexander Entzminger in einem seiner Musikprogramme die Zeile plausibel als Lebensmotto der Hemshof-Friedel:

Von den mir seit Jugendzeiten im Gedächtnis verhaftet gebliebenen Strophen des Hemshof-Boogie ist die lustigste (natürlich im oben ausgeführten Sinne!) die mit den Fitness-Übungen an der Brotschublade:

De Vadder is mallaad,
Die Mudder is mallaad,
Die Kinner machen Glimmzieg
An de Brodschubblaad.

Die Situation bedarf keiner großen Erklärung, allenfalls könnte es hilfreich sein, den Bedeutungsumfang des vom frz. ,malade‘ (= ,krank‘) abgeleiteten Wortes in den ersten beiden Versen im Ludwigshafener Sprachgebrauch zu diskutieren. „Mallaad“ bedeutet hierzulande natürlich auch ,krank‘, aber dabei schwingt massiv mit, dass diese Krankheit auf reichlich Alkoholgenuss am Vortag rückführbar sein könnte. Oder dass die Person, die erklärt, „mallaad“ zu sein, einfach keine Lust hat, das Bett zu verlassen, geschweige denn, sich um quengelnde Blagen (pfälzisch: ,die Bagaasch‘ oder auch ,die Freckling‘ usw.) zu kümmern.

Ganz ähnlich aufgebaut ist die folgende Strophe, die mir vermutlich deshalb so gut erinnerlich ist, weil sich das Kohlenklauen in den Nachkriegsjahren direkt vor den Fenstern unseres Wohnblocks abgespielt hatte, wie mir meine Eltern oft erzählten. Viele Güterzüge mussten dort ihr Tempo drosseln, bis die Einfahrt zum alten Kopfbahnhof oder auch die Strecke nach Mannheim endlich freigegeben wurde. Nicht selten kamen sie sogar ein paar Minuten lang ganz zum Stillstand. Bei diesen Gelegenheiten enterten junge Burschen, offensichtlich nicht nur solche aus dem Hemshof, die Waggons und warfen bzw. traten so viel nur möglich war von den Kohlehalden herunter.

De Vadder liggd im Kahn,
Die Mudder liggd im Kahn,
Die Kinner klaue Kohle
Bei de Bundesbahn.

Im Lied der Hemshof-Friedel sind die Eltern mal wieder ,mallaad‘ und die Kinder müssen die ganze Arbeit selber machen. Das ist, wenigstes den Berichten meiner Eltern zufolge, als üble Nachrede einzustufen, denn beim Kohlenklau war immer alles auf den Beinen, was nur vor Ort war. Das wäre nun wirklich der denkbar ungeeignetste Zeitpunkt dafür gewesen, mallaad sein zu wollen! Schließlich musste das schwarze Gold schnellstmöglich geborgen und in den Kellern verstaut oder abtransportiert werden, bevor Bahnpolizisten auftauchten, die die Schwachstellen ihres Systems natürlich genauso gut kannten wie ihre frierenden Mitbürger. Wären wir päpstlicher als der Papst, was uns natürlich völlig fern liegt, würden wir vielleicht noch einwenden, dass es in der ,schlechten Zeit‘, in der diese Szene angesiedelt ist, noch gar keine ,Bundesbahn‘ gegeben hat, wurde in den unmittelbaren Nachkriegsjahren das pfälzische Transportwesen auf der Schiene doch noch von der ,Betriebsvereinigung der Südwestdeutschen Eisenbahnen‘ mit Sitz in Speyer besorgt. Aber bevor wir uns jetzt einen abbrechen, auf die SWDE einen passablen Reim zu finden, belassen wir es lieber gleich bei der ,Bundesbahn‘!

Im oben gezeigten Feature über die Hemshof-Friedel wurde sie des Öfteren als Sängerin der derberen Art klassifiziert, gelegentlich fiel auch der Ausdruck ,ordinär‘. Darüber will ich nicht richten. Tatsächlich gibt es Strophen des Hemshof-Boogies, die man nur dann singt, wenn die Kinder ihre Freiübungen machen, Kohlen klauen oder aus anderen wichtigen Gründen nicht zuhören können. Eine davon ist mir wieder eingefallen, als ich beim Recherchieren für diesen Artikel auf eine Information gestoßen bin, der zufolge die Friedel auch als Prostituierte gearbeitet haben soll. Die folgende Strophe zeigt keinerlei Scheu, selbst solche Facetten prekärer Lebenswirklichkeit im Lied preiszugeben, über die man selbst im soziologischen Fachdiskurs wohl lieber schweigt als redet:

De Vadder is im Puff,
Die Mudder is im Puff,
Dehääm liggd de Bruder
Uff de Schwester druff.

Erfunden? Peinlich? Darf man so etwas singen? Ist das doch noch irgendwie lustig rezipierbar? Wieviel Alkohol bräuchte es gegebenenfalls dazu? Wie immer man diese Fragen beantworten mag – auch diese Strophe gehört fraglos zum Hemshof-Boogie.

d) Ich betrachte meinen Essay zur Hemshof-Friedel und zu ihrem populärsten Song einerseits als Hommage, andererseits als Beitrag zur Ludwigshafener Erinnerungskultur. Selbstverständlich leistet er nicht mehr, als einige Bruchstücke auszugraben und zusammenzustellen. Dass ich nebenbei auch mein eigenes lebensgeschichtliches Wurzelwerk erkundet habe, mich beim Schreiben über die Friedel und den Hemshof nicht zuletzt die Frage bewegt hat, ob mich noch irgendetwas – und falls dies der Fall sein sollte, was denn konkret? – an die linksrheinische Agglomeration im Schatten der BASF bindet, habe ich nicht versteckt.

Völlig klar sollte sein, dass mir Ergänzungen über die Kommentarfunktion dieses Blogs hoch willkommen sind! Als Adressaten hatte ich beim Schreiben die alten Klassenkameraden von der Bliesschule und vom Max-Planck im Kopf, meine Kumpels vom Basketball, ehemalige Freunde und Bekannte, die ich seit Jahren aus den Augen verloren habe. Und noch ein paar mehr … Ich würde mich sehr freuen, auch Reaktionen von jüngeren Menschen zu bekommen, z.B. solchen, die heute einen ganz anderen, schicken Hemshof bewohnen dürfen – tolle Lofts in der Prinzregentenstraße etc. (Unn wo mer des grad eifalld: die Faulbelze vunn der Tangente, die isch emol an moi Unni in Bambersch eigelade habb, ohne dodruff aa nur irgend ä änzisch Reaktion zu krigge, kennde sisch eigentlisch aach emol en Satz abringe, odder? Dess awwer nur newebei.)

Gibt es aktuelle NachfolgerInnen der Friedel? Was singen die so, wenn die Nächte lang sind? Gibt es noch die kleine gemütliche Kneipe gegenüber der Apostelkirche, deren Name mir ,ums Verrecke nimma eifalle duud‘. Fragen über Fragen!

Na alla, jedzat heer isch awwer werklisch uff, bevors riehrseelisch werd.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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