Herz der Trostlosigkeit. Stiller Has’ poetisiertes Schweizer Ortsnamenverzeichnis „Walliselle“ als Abgesang auf ein tückisches Heimatgefühl
19. Dezember 2016 Hinterlasse einen Kommentar
Stiller Has Walliselle Mir sy Schwyzer Mir sy Walser Mir sy Gänfer, Bärner, Fricker Schaanfigger Mir sy Niederbipper, Oberdeppe Mir sy Usterner, mir sy Fruster Mir sy Schwarzeburger, Rotheburger, Wysseburger Mir sy Luganese Mir sy Zürcher, Briger Mir sy Zigertiger Mir sy Thurgauer, Aargauer, Hallauer, Basler, Rothrister Mir sy Bieler, Oberwiler, Lengwiler, Dagmerseller, Kanderstäger, Solothurner, Badener, Nidwaldner u Urner Mir sy Fribourger u mir sy Appizäller Aber irgendwo töif, töif dinn i üs sy mer alli Walliseller [Wir sind Schwyzer Wir sind Walser etc. Aber irgendwo tief, tief in uns drin sind wir alle Walliseller] Walliselle, Walliselle Was söll i nume in Walliselle In Walliselle Walliselle, Walliselle Uh Walliselle [Wallisellen, Wallisellen, Was soll ich nur in Wallisellen etc.] Hesch du en Ahnig, Balts, wo mir hei härewelle Emel nid nach Walliselle O nid nach Aarou Ou ou ou, Aarou Aarou ar Aare - dürefahre! Aarou het zwöi Outobahnzuebringer, Aarou-Ost und Aarou-West U beidi göh uf Walliselle, beidi göh uf Walliselle [Hast du ne Ahnung, Balts, wo wir nochmal hinwollten Jedenfalls nicht nach Wallisellen Auch nicht nach Aarau Ou ou ou, Aarau Aarau an der Aare – durchfahren! Aarau hat zwei Autobahnzubringer, Aarau-Ost und Aarau-West Und beide führen nach Wallisellen, beide führen nach Wallisellen] Walliselle, Walliselle Was söll i nume in Walliselle In Walliselle Oder in Olte Uuh... Olte Früecher hets öppis golte, Olte Hüt wott niemer meh holte in Olte, alli fahre uf Walliselle Uf Walliselle, uf Walliselle Uf Walliselle [Oder in Olten Uuh… Olten Früher hat’s noch was gegolten, Olten Heute will niemand mehr halten in Olten, alle fahren nach Wallisellen etc.] Oder Spreitebach Hunzenschwil - friss nid so viel! Schön singen in Oensingen Kolike in Köllike U Zofinge isch so schwierig z finde E Chue muhet in Muhen Aber d Tankstell isch zue U när düre bi rot durch Dürrenroth Wohäre wettsch? Nach Gletsch Muesch zrugg gäge Brugg U nid Richtig Walliselle [Oder Spreitenbach Hunzenschwil – friss nicht so viel! Schön singen in Oensingen Koliken in Kölliken Und Zofingen ist so schwierig zu finden Eine Kuh muht in Muhen Aber die Tankstelle ist zu Und nachher durch bei Rot in Dürrenroth Wohin willst du? Nach Gletsch Dann musst du zurück gen Brugg und nicht Richtung Wallisellen] O nid nach Luzärn Uh Luzärn S brönnt gärn z Luzärn, s brönnt gärn z Luzärn Zrügg uf Walliselle Uh Walliselle, uh Walliselle Zrügg uf Walliselle Uh Walliselle Walliselle, Walliselle Mir hätte doch is Wallis sölle U nid uf Walliselle [Auch nicht nach Luzern Uh Luzern Es brennt gern [öfter mal] in Luzern, es brennt gern in Luzern Zurück nach Wallisellen etc. Wir hätten doch ins Wallis sollen und nicht nach Wallisellen] Schaffhuse - fahr use Uuuh Z Schaffhuse, z Schaffhuse, da isch sie mer druus Aber mach der nüt druus, das isch so im Blues Abzelle, Bölle schelle Der Moudi geit uf Walliselle Chunnt är ume hei, het är chrummi Bei Piff, paff, puff u du bisch duss In Walliselle, in Walliselle, in Walliselle Mir hätte doch is Wallis sölle u nid uf Walliselle Walliselle, Walliselle Uh Walliselle Uh Walliselle, uh Walliselle Walliselleeeee [Schaffhausen – fahr raus In Schaffhausen ist sie mir draus Aber mach dir nichts draus, das ist so im Blues Abzählen, Zwiebeln schälen, Der Kater geht nach Wallisellen Kommt er wieder heim, hat er krumme Beine Piff, paff, puff und du bist raus In Wallisellen etc.] Anmerkung:Ein Lied, das Stiller Has seit September 1998 spielen. Angeblich soll es auf Merle Haggard's "Baton Rouge" basieren (allerdings konnte ich im ganzen Internet keinen Hinweis auf ein solchen Titel finden). Später korrigierte sich Endo: in Amerika würde das Lied "Beton Rouge" heissen - deutsch übersetzt: Rothrist. Als Tourband reisen Stiller Has durch die ganze Schweiz, schon fahren sie auf der N1 in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig los, aber am Schluss finden sie sich immer in Wallisellen (bei Zürich). Er wisse nicht, was er in Walliselle het welle, meint der Sänger. Mer hei doch is Wallis welle, mängisch chöme mer bis Olte, das het früehner ou öppis golte, aber denn simer wieder z Walliselle und wüsse nid was mer z Walliselle sölle, denn fahre mer as Konzärt uf Luzärn, aber dert brönnts so gärn, und s het Schnee, und ou nach Gletsch glitsch, über Schanfigg im Graubünde säge mer jetz nüt, gäll Balts. Aber denn simer wieder z Walliselle, ou, dört hets nur Bordelle, was sölle mir denn z Walliselle, au z Brugg chöme mer verbii, Brugg a der Aare, und z Aarau... Ou, jetzt simer verbii a Walliselle, derbii hätte mer doch dört use sölle! Die Studioaufnahme erhielt schliesslich eine ausführliche Begrüssung der Landsleute - einschliesslich Oberdeppen, Fruster, Zigertiger und Lengwiler. Interessanterweise zitiert Endo ausserdem den Titel des alten Alpinisten-Lieds Friss nid so viel (1985). So oder so ist das Lied natürlich ausbaufähig, also seien hiermit auch die Schöftländer gegrüsst! Sofort nach Veröffentlichung der CD wurde Wallisellen zum "Herz der Finsternis" erklärt. Trotzdem spendierte die Kulturkommission der Gemeinde Wallisellen den Apèro fürs Eröffnungskonzert der "Walliselle"-Tour 2000. Endo verlegte das Herz der Finsternis sogleich nach Unterseen und Finsterhenne. Doch schliesslich meinte er: "Das absolute Niemandsland ist nicht in Aarau und nicht in Wallisellen. Es liegt zwischen Vorarlberg und Wien. Erst dort merkt man, was wir an der Schweiz haben." [Sonntags-Zeitung 03.12.2000] Endo Anaconda: Wir waren unterwegs zu einem Gig. Balts sass hinten und klimperte auf der Gitarre. Ich wusste nicht mehr, wohin wir fuhren. Und dann tauchte aus dem Nebel das Schild auf: "Wallisellen". Da fragte ich: "Balts, hesch du än Aanig, wo mer hätte häre sölle?" Und Balts: "Ämou nid uf Wallisellen". Und ich: "Bhauts, Balts, bhauts". (Sonntags-Zeitung 03.12.2000) [Stiller Has: Walliselle. Sound Service 2000. Text und Anmerkungen nach der Homepage der Band, Übersetzungen vom Verfasser.]
Provinz und Schweiz, Schweiz und Provinz – nicht erst seit Paul Nizons Diskurs in der Enge (1970) oder Dürrenmatts Definition der Schweiz als dörfischem Gefängnis, in dem alle „Gefangenen Wärter sind und sich selber bewachen“ (Dürrenmatt 1998, 180), sind literarische Selbstbeschreibungen der Schweiz oft eher problematisch als idyllisch und arbeiten sich an einer immer auch geistig und innerlich verstandenen Kleinheit und Beengtheit ab. Die im Jahr 1989 formierte Berner Blues-Rock-Band Stiller Has bildet da mit dem Mundartstück Walliselle des gleichnamigen Albums (2000) keine Ausnahme: Wallisellen, ein anonymer Vorort Zürichs, wird zum Anlass, ein Heimatgefühl zu formulieren, dass ebenso unhintergehbar wie trostlos ist.
Die Band Stiller Has verwehrt sich aufgrund der beinahe durchgängigen Verwendung der berndeutschen Mundart zwar weitgehend einer internationalen Wirkung, ist in der Schweiz aber sehr bekannt. Schweizer Mundartdichtung bringt es mit sich, über die Grenzen hinaus kaum verstanden zu werden, bietet im Vergleich zur Standardsprache aber eine Anzahl neuer poetischer Optionen, um die es im Folgenden geht. (Ich werde wegen der gebotenen Kürze den Liedtext, wo für das Verständnis notwendig, in eigener Übersetzung auf hochdeutsch zitieren.) Endo Anaconda, das Pseudonym des Sängers und Texters von Stiller Has, gehört inzwischen zu einem der meistbeachteten Produzenten bezüglich der Auslotung von mundartlichen Wortspielereien. Ein besonders schlagendes Beispiel ist Walliselle: In einer zunächst höchst einfachen, assoziativ wirkenden Aneinanderreihung schweizerischer Ortsnamen schildert der Text ein graues Bild der Schweiz und ihrer Einwohner, dessen Reiz auf den ersten Blick vor allem in einer Reihe von Binnenreimen, Paronomasien, Amphibolien und weiterer Wortspiele besteht (vgl. dazu ausführlich Sánchez 2007) – ein Bekannter von mir bezeichnete den Text zwar positiv, aber trotzdem verharmlosend als die ‚bloß am konsequentesten weitergesponnene Bieridee der Schweizer Lyrik‘.
Herz der Trostlosigkeit
Setzt man die oberflächlich nur verspielt wirkende Sprache allerdings mit den in ihr präsentierten Inhalten ins Verhältnis, wird die Sache schnell ergiebiger: Das hier präsentierte Bild der Schweiz ist dasjenige eines provinziellen, trostlosen Niemandslandes, welches aber in Kontrast dazu durch ebendiese Charakteristiken als durchaus ironisiert patriotisch verstehbare Einheit verbunden scheint: Mit „Mir sy Schwyzer“ setzt der Text ein, was sowohl ‚Wir sind Schweizer‘ wie auch auf den Kanton Schwyz bezogen ‚Wir sind Schwyzer‘ bedeuten kann, und vertieft diese Selbstzuordnung zu vielen schweizerischen Orten durch die gut ein Dutzend Mal wiederholte „Mir sy“-Anapher. Zu dem Niemandsland gehören in der Ortsnamenaufzählung eigentliche Städte (Genf, Basel, Zürich) ebenso wie kleinere Orte mit wenigen Hundert oder Tausend Einwohnern (Dagmersellen, Oberwil, Dürrenroth), denen man die Provinzialität, darauf verlässt sich jedenfalls der Text, schon am Namen anhört – ein Unterschied wird nicht gemacht, die Hierarchien sind flach: Zürich hat im Text den gleichen Status wie Gletsch oder Muhen, auch das Asyndeton „Mir sy Thurgauer, Aargauer, Hallauer, Basler, Rothrister“ verbindet Orte, zwischen denen wirklich kaum lebensweltliche Gemeinsamkeiten zu finden sind. Zusätzlich schleichen sich eine Reihe von Ort-Wortspielen ein, die keine existierenden Orte bezeichnen und im Band-eigenen Webseiten-Kommentar auch vollständig ausgewiesen werden: „Die Studioaufnahme erhielt schliesslich eine ausführliche Begrüssung der Landsleute – einschliesslich Oberdeppen, Fruster, Zigertiger und Lengwiler“ (Homepage Stiller Has, Zugriff 6.12.2016). Diese Kommentare auf der Webseite stellen meist eine Mischung aus Weiterdichtung der Texte, zufälligen Fakten und halb-mythisierten Entstehungsgeschichten dar und weisen auch auf textgenetische Unterschiede zwischen Booklet und Aufnahme hin – „Textanalysten vor!“ (Homepage Stiller Has, Zugriff 6.12.2016), wie der Kommentar zu einem anderen Song auf Walliselle („Bläue Mäntig“) ironisierend fordert. Bei Lengwil ist anzumerken, dass es einen solchen Ort (im Gegensatz zu den drei anderen) zwar gibt, aber ‚Lengwiler‘ mundartlich eben sehr nahe bei den ‚Längwilern‘, also Langweilern, liegen. Und während Oberdeppen als Paronomasie zum existierenden Niederbipp, und damit zum Herkunftsort eines der wichtigeren schweizerischen Schriftsteller, Gerhard Meier, ins (abgrenzende?) Verhältnis gesetzt wird, bezeichnen Frust und Langeweile eher die Kernbereiche der emotionalen Landkarte der dargestellten Schweiz. „Zigertiger“ bezieht sich auf den (Schab-)Ziger genannten Käse. Dabei handelt es sich nicht um irgendeinen Schweizer Käse – offensichtlichere Optionen wären ja der Emmentaler oder Gruyère gewesen –, sondern immerhin um das nachweislich älteste Markenprodukt der Schweiz, also einem Stück Nationalgeschichte. Dieses wird hier in ironischer Überhöhung nicht mit Kühen, sondern exotischen Tigern in Verbindung gebracht: ‚Wir Schweizer sind verbuchtermaßen die Dschungelkönige des Magermilchkäses‘, besagt das neologistische Binnenreimwort „Zigertiger“.
Poetisiertes Ortsnamenverzeichnis
Festzustellen bleibt: Eine tatsächliche Homogenität der aufgezählten Namen hinsichtlich Bevölkerungsgröße, Lage, wirtschaftlicher Relevanz und Kulturnähe oder -ferne etc. gibt es nicht, die Aufnahmekriterien in die Liste sind andere. In den eigentlichen Strophen werden zum Beispiel besondere Tiefpunkte hervorgehoben: Da ist zunächst das titelgebende Wallisellen, in der allgemeinen schweizerischen Wahrnehmung ein gesichtsloser Vorort Zürichs, der zwar durch eine Autobahn von diesem getrennt ist, aber immerhin das größte Einkaufszentrum der Schweiz besitzt: Ein klassischer Durchgangsort, dessen Namen man auf Autobahnschildern beim Verlassen von oder Einfahren nach Zürich begegnet, an dem man sich aber – außer zum Masseneinkauf – nicht aufhält. Dies bezeugt auch die Entstehungs-Anekdote, die auf der Webseite unter dem Songtext erscheint:
Wir [das sind die Bandmitglieder Endo Anaconda und Balts Nill, T.L.] waren unterwegs zu einem Gig. Balts sass hinten und klimperte auf der Gitarre. Ich wusste nicht mehr, wohin wir fuhren. Und dann tauchte aus dem Nebel das Schild auf: „Wallisellen“. Da fragte ich: „Balts, hesch du än Aanig, wo mer hätte häre sölle?“ [Balts, hast du eine Ahnung, wo wir nochmal hin sollten?“] Und Balts: „Ämou nid uf Wallisellen“. [Jedenfalls nicht nach Wallisellen.] Und ich: „Bhauts, Balts, bhauts“ [Behalt’s, Balts, behalt’s]. (Homepage Stiller Has, Zugriff 6.12.2016, Übersetzungen von T.L.).
Neben Wallisellen sind Aarau, Olten, Luzern und Schaffhausen von der Menge der Namen dadurch abgehoben, dass sie mehr als nur einen Reim („Schön Singen in Oensingen“) bzw. mehr als ein Wortspiel („Koliken in Kölliken“) erhalten und über mehrere Verse hinweg charakterisiert werden.
„Aarau hat zwei Autobahnzubringer, Aarau-Ost und Aarau-West / Und beide führen nach Wallisellen“ – die erste Kleinstadt, die so in einer eigenen Strophe besungen wird, ist Aarau, welche im Mittelland genannten, verhältnismäßig flachen Teil der Schweiz zwischen den größeren Städten Basel (das wäre Richtung „Aarau-West“) und Zürich (Richtung „Aarau-Ost“) liegt. Die karikierende Reduktion der Stadt auf zwei Autobahnzubringer, die beide von ihr weg führen und auch noch dasselbe Ziel haben sollen, bringt in absurder Weise die Wahrnehmung von Aarau als Ort auf den Punkt, der im Nichts liegt und ins Nichts führt.
Ähnliches widerfährt Olten: „Früher hat’s noch was gegolten, Olten / Heute will niemand mehr halten in Olten“ – die hier anzitierte vergangene Größe der Kleinstadt Olten, in der man nicht mehr (zwischen)halten möchte, bezieht sich darauf, dass sie der älteste und wichtigste Knotenpunkt des Nordwestschweizer Zugnetzes ist und als solcher Städte wie Basel und Bern mit Zürich und Luzern (und in extenso mit Lausanne und Genf) verbindet. Nach Aarau und seinen Autobahnzubringern („dürefahre!“) wird Olten ebenfalls als Durchfahrtsort charakterisiert, der darüber hinaus nichts zu bieten habe, was eine tatsächliche Oltener Werbekampagne mit Slogans wie „Fast so sportlich wie Basel. Nur viel zentraler“ oder „Fast so schön wie Bern. Nur viel schneller“ (Olten Online, Zugriff 6.12.2016) eher zementiert als dementiert.
Über die Touristenhochburg Luzern wird per gehäuftem Binnenreim vermittelt, dass es dort „gern“ (also ‚öfter mal‘) brenne. Gemeint ist der vermutlich durch eine weggeworfene Zigarette verursachte Brand der mittelalterlichen Kapellbrücke, dem bedeutendsten Wahrzeichen der Stadt, bei dem ein Großteil des Bilderzyklus’ der Brücke vernichtet wurde. Bei dem nonchalant präsentierten Unfall handelt es sich durchaus um ein traumatisches Erlebnis der Stadt, wie die Initiative von 2014 indirekt zeigt, die vorschlug, statt der verbrannten Originalbilder doch Kopien für die Touristen anzubringen: Sie wurde abgelehnt.
Zu guter Letzt wird Schaffhausen dadurch beschrieben, dass dem artikulierten Ich dort wahrscheinlich eine Liebschaft „druus“, also ‚draus‘ bzw. ‚hinaus‘, sei: „z Schaffhuse, da isch sie mer druus / Aber mach der nüt druus, das isch so im Blues“. Die Formulierung bedeutet im Dialekt eigentlich idiomatisch: ‚Sie ist fremdgegangen‘, lässt sich im Einklang mit den anderen Wortspielen des Textes aber amphibolisch, in diesem Fall auch in ihrer buchstäblichen Bedeutung, verstehen: ‚Sie ist mir draus‘. Woraus? Da Schaffhausen die einzige größere rechtsrheinische Stadt der Schweiz ist, liegt nahe, dass hier buchstäblich gemeint ist: raus aus der Schweiz, dem Land, aus dem die Liebe flüchtet, sobald sich die Gelegenheit bietet.
Die abschließende Strophe besteht aus der überraschenderweise fast wörtlichen Wiedergabe eines schweizerischen Kinderabzählverses. In diesem bekannten Vers – „Abzelle, Bölle schelle“ (Abzählen, Zwiebeln zählen) bis „piff, paff, puff u du bisch duss“ – wird nur ein Wort verändert: „Der Moudi geit auf Walliselle“ – statt einer „Chatz“ wie im Original geht der „Moudi“ nach Wallisellen (das ist das berndeutsche Wort für Kater und der albumtitelgebende Name eines anderen Stiller Has-Songs – nur eines von diversen Selbstzitaten im Song, vgl. Sánchez 2007, 77–79). Schon im schweizerischen Volksmund geht man also aus keinem anderen Grund nach „Walliselle“, als dem, dass es sich auf „Bölle schelle“ reimt. Der Vers selbst ist schweizweit geläufig, was sich etwa daran zeigt, dass er mit der Berner Mundart, in welcher „Walliselle“ gesungen wird, nichts zu tun hat: „Bölle schelle“, Zwiebeln schälen, hieße auf korrekt bernisch „Zibele schinte“. Seine Verbreitung verdankt der Abzählvers natürlich seiner Poetizität – die unrein reimende Paronomasie „Bölle schelle“ mit dem Reim „Walliselle“ eignet sich für Pausenhöfe ausgezeichnet. Der Text macht sich hier ein völlig geläufiges Stück Volksmund zu eigen, ohne dass es auffiele, und wertet dieses für seine Zwecke um: Wallisellen ist zu diesem Zeitpunkt des Liedtextes ein trostloser Nirgendort geworden, dem das Sprecher-Wir nicht entkommt.
Die zahlreichen Binnenreime, Paronomasien und weiteren Wortspiele zeigen vor allem, dass die geo- und demographisch zufällig wirkende Aufreihung von der poetischen Verwertbarkeit der Namen, von ihrem Sprachmaterial, bestimmt wird. Darüber hinaus haben die Ortsnamen eigentlich nur gemeinsam, dass sie auf Autobahnschildern auftauchen, wenn man die Schweiz – zum Beispiel auf einer Bandtour – durchfährt, also ständig sichtbar sind, aber anonym bleiben (darauf weist auch das Albumcover von Walliselle hin, wo nicht etwa eine Abbildung des Städtchens, sondern an den Stil von Autobahnschildern erinnernde Autos zu sehen sind).
Heimatgefängnis Schweiz
Trotzdem lassen sich, wie gezeigt, besonders die in den Strophen aufgerufenen und näher ausgeführten Orte an die Schweizer Wirklichkeit zurückbinden: Die Schweiz als Land, in dem die größte Attraktion eines Ortes die Autobahnzubringer sind (Aarau), in dem die zur Nationalidentität gehörenden öffentlichen Verkehrsmittel nur noch an vergangene Größe erinnern (Olten), in dem Kulturgüter nonchalant („gärn“) niederbrennen (der Brand der Luzerner Kapellbrücke), und in dem rechtsrheinische Ortschaften wie Schaffhausen zur Fluchtgelegenheit einer Liebschaft über die Grenze werden. Als Herz dieser Trostlosigkeit, sozusagen als Schweizer Seele, fungiert „Walliselle“ mit seinem Masseneinkaufszentrum. Das ist nicht unbedingt die Bergsee-Idylle der Postkarten, die die Außenwahrnehmung der Schweiz oft prägt. Dass der Song Walliselle inzwischen als Zitatschatz der Schweizer Kulturszene fungiert, sagt vielleicht einiges über die Selbstwahrnehmung bestimter Gruppen des Landes aus. Und wenn man diese in den Strophen genannten Ortschaften der Reihe nach abfahren würde (also: Wallisellen – Aarau – Olten – Luzern – Schaffhausen – Wallisellen), dann beschriebe man eine faktische Kreisroute, die bei der deutschen Grenze endet (Schaffhausen), und wo man im Gegensatz zur Geliebten nicht aus der Schweiz ausbricht, sondern per Liedtext schon wieder zurück nach Wallisellen gerät (welches man auf dem Weg Luzern–Schaffhausen ohnehin schon wieder gekreuzt hatte): „Piff, paff, puff, u du bisch duss / in Walliselle“. Die oft nah am Nonsens scheinende, zufällig wirkende Ort-Wortspielerei vollzieht so auf inhaltlicher und formaler Ebene die innere Kreisbewegung des verkorksten Heimatgefängnisses ‚Schweiz‘ nach, während dieses gleichzeitig in resignierter patriotischer Manier auch bestätigt wird. Für die Schweiz von Stiller Has gilt: Alle Wege führen zwar nach Wallisellen, aber Wallisellen ist eben auch überall, da es immer schon „töif, töif“ in einem drin ist.
Tobias Lambrecht, Fribourg/CH
Literaturverzeichnis:
Dürrenmatt, Friedrich: Versuche; Kants Hoffnung. Essays und Reden. Werke in siebenunddreissig Bänden. Band 36. Zürich 1998.
Sánchez, Yvette: Vom Wallis bis Wallisellen. Schweizerdeutscher Mundartpop am Beispiel Stiller Has. In: Die Schweiz ist Klang. Hg. v. Ottmar Ette, Joseph Jurt u. Yvette Sánchez. Basel 2007.