Vor dem Untergang. Gedanken zu „Wohin die Reise“ von STS
23. Juli 2012 2 Kommentare
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STS Wohin die Reise A Haufen nagelneue Autos, a Haufen zwid're G'sichter dran Mit dem ganzen Land, der eig'nen Wohnung und mit der Alt'n unzufried'n Im Job verbissen, sonst bist d' vierzig und niemand brauch so alte Leut' Was früher in den Köpfen war, is im Computer heut' Die Kinder in der Schul' hau'n sich die Gosch'n ein Das Rockerl von Lacoste, die Jean von Calvin Klein Der Papa hat keinen Bock, dass er mit ihnen redet Er hängt die halbe Nacht am PC in Internet Wohin geht die Fahrt, wohin die Reise Nimm mich, wenn's geht, net mit, Kapitän Es beruhigt mich auch auf gar keine Weise Wenn wir alle z'sammen untergeh'n Alles muß immer mehr werd'n und immer schneller Die Krallen g'schärft, die Ellbog'n knochenhart Das Licht am Horizont wird nur net heller Wenn man in die falsche Richtung fährt Zeitungsschlagzeilen schrei'n, dass alles völlig morsch is Im Parlament erklärt der eine, was der and're für a Arsch is Im Radio und Fernseh'n is die Werbung Hauptprogramm Als einzig wahrer Freund, am Abend allein daheim Wohin geht die Fahrt [...] [STS: Zeit. Amado 1995.]
Im westlich-kapitalistischen Denken ist die richtige Richtung immer die nach vorne und die nach oben. Fortschritt und Wachstum. Seit der Industrialisierung mischen sich dazu noch eine rasant zunehmende Beschleunigung des Alltags und urbane Reizüberflutung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führen diese Faktoren unter anderem zu nervösen Schockzuständen vereinsamter Großstädter. Zunächst durch die grausamen Kriegserfahrungen übertüncht, treten am Ende des 20. Jahrhunderts, erneut am fin de siècle, moderne Gefühlsdiagnosen und Visionen von Untergangszenarien wieder auf. Geistesgeschichte wiederholt sich.
1995 destilliert die österreichische Band STS in Wohin die Reise das Kernproblem der Moderne wie folgt: „Alles muß immer mehr werd’n und immer schneller“. Das Modalverb müssen impliziert eine zwingende Notwendigkeit. Somit zeigt sich in dieser Zeile, dass das Austropop-Lied nicht nur moderne Stoßrichtungen beschreibt, sondern auch eine gewaltige Portion an Zeitkritik beimischt.
Die Dialektik zwischen Beschreibung und Kritik lässt sich schon im elliptischen Titel des Lieds erkennen. Zum einen kann man Wohin die Reise als relativ wertfreie Frage auflösen: „Wohin soll die Reise denn gehen?“ Man erwartet die Nennung einer Reiseroute, eines Reiseziels. Im Lied entpuppt sich diese Reise allerdings als Irrfahrt mit ungewissem, wenn nicht katastrophalem Ausgang. Zum anderen schwingt im Title schon ein einhaltgebietendes „Wohin des Weges“ mit, wodurch ein mahnender Charakter hinzukommt. Der Titel und einige Zeilen des Lieds verweisen aber auch auf einen Prätext, Hans Albers‘ Nimm mich mit Kapitän aus dem Jahre 1950:
Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise!
Nimm uns mit in die weite, weite Welt!
Wohin geht, Kapitän, deine Reise?
Dieser Umgang mit Texten lässt sich vor dem Hintergrund der Appropriaton zwar als post-moderne rhetorische Technik lesen, betrachtet man aber den Inhalt des Verweislieds, wird damit die kritische Haltung gegenüber modernen Reiseplänen noch weiter unterstützt. Denn das Seefahrer-Ich des Schlagers lobt am Ende nicht den Drang in die Ferne, eine Hinwendung zum Globalen, sondern, ganz in der Tradition des Nachkriegsschlagers, die nostalgisch verklärte Heimat als überzeitlichen Bezugspunkt:
Nimm mich mit, Kapitän, aus der Ferne,
bis nach Hamburg, da steige ich aus.
In der Heimat, da glüh’n meine Sterne,
in der Heimat bei Muttern zu Haus, […]
nimm mich mit, Kapitän, nach Haus.
Die mit dem intertextuellen Verweis angedeutete Heimatverklärung und die oft damit verbundene Technologie- und Fortschrittskritik ziehen sich durch Wohin die Reise, ebenso wie modernistische Topoi. So kontrastiert das Sprecher-Ich an den mahnenden Unterton des Titels anknüpfend mit dialektal eingefärbter Umgangssprache moderne Bildästhetik: „A Haufen nagelneue Autos, a Haufen zwid’re G’sichter dran“.
An expressionistische Bildsprache erinnert das Haufenhafte der Gesichter. Menschenteile werden mit Maschinen parallelisiert. Im rhetorischen Bilderschatz der Moderne ist oft die Maschine der bessere Mensch. So überstrahlen hier auch die nagelneuen Autos die als ekelhaft beschriebenen Gesichter. Schillernd und klaustrophobisch zugleich wirkt der kondensierte Einstieg, man denkt vielleicht an Ezra Pounds imagistisches „In a Station of the Metro“. Die Gesichter erscheinen ähnlich gedrungen in diesem Zweizeiler:
The apparition of these faces in the crowd;
Petals on a wet, black bough.
Nicht nur werden im Lied Mensch und Maschine gegenübergestellt, sondern allmählich nähert sich der Mensch auch der Maschine an. Eine Entwicklung zu einer symbiotischen Lebensgemeinschaft zwischen beiden wird beschrieben: „Was früher in den Köpfen war, is’ im Computer heut’“. Als Außenstation des Körpers ersetzt der Computer das Hirn des Menschen als Wissensspeicher. Individuelle Denkfähigkeit wird auf dezimale Einheitsverfahren reduziert. Ist der nächste Schritt die gänzliche Verschmelzung von Mensch und Maschine, eine Massenproduktion von Cyborgs?
Und nicht nur das, auch die zwischenmenschlichen Beziehungen weichen der Technologie: „Der Papa hat keinen Bock, dass er mit ihnen [seinen Kindern] red’t/ Er hängt die halbe Nacht am PC im Internet.“ Wo in diesem Szenario noch rudimentäre Züge eines Familienlebens durchscheinen, ist beim alleinstehenden Großstädter das nur noch aus Werbung bestehende Hauptprogramm diverser Medien („Radio und Fernsehen“) zum „einzig wahre[n] Freund“ geworden. Der Großstadt-Single sitzt „am Abend allein daheim“.
Die Printmedien mischen ebenfalls mit. In expressionistischer Manier „schrei’n“ die personifizierten Schlagzeilen von einer nahenden Apokalypse: „[A]lles [ist] völlig morsch“. Wie in Jakob van Hoddis’ Gedicht kündigt sich das „Weltende“ unter anderem in Zeitungen an: „Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut“. Schon der expressionistische Dichter van Hoddis thematisiert den Zerfall und die Brüchigkeit einer maroden Welt: Dachdecker gehen entzwei, Eisenbahnen hupfen von den Brücken.
In der zwischenmenschlich sterilen Endzeitstimmung ist kein Platz für Anstand, die zivilisierten Umgangsformen schwinden: Kinder „hau’n sich die Gosch’n ein“, „die Krallen [werden] g’schärft, die Ellbog’n knochenhart“ und „[i]m Parlament erklärt der eine, was der and’re für a Arsch is“. Das einzige, was noch zu zählen scheint, ist das Zur-Schau-Tragen von Errungenschaften der eigenen Gewinnmaximierung: „[d]as Rockerl von Lacoste, die Jean von Calvin Klein“. Dennoch: Rechte Freude kommt im Lied nicht auf, man ist mit allem „unzufried’n“ und im Job dazu „verbissen“.
Floskelhaft wirkt diese in prosaische Bilder gepackte Fortschrittsfeindlichkeit. Genau diese Floskelhaftigkeit ist es aber auch, die den Liedtext in der anti-modernen Tradition verhaftet. Als Widerstand gegen kosmopolitische Hektik und städtisches Gewimmel bildete sich zu Beginn des vergangen Jahrhunderts die Strömung der Anti-Moderne. Aus der Rückbesinnung auf Traditionelles, Regionales und Technologiefreies entstand ein fester Bilder- und Kritikkanon für diese Denkrichtung.
Wohin die Reise bedient sich dieses anti-modernistischen Bilderschatzes. Deswegen und wegen seiner Verhaftung im österreichischen Dialekt lässt sich das Lied in die Tradition des Wienerlieds stellen. Oft heimatliche Gemütlichkeit nostalgisch verklärend ist das Genre ein probates Vehikel für anti-modernistische Propaganda. In dieser Tradition ist auch der Abgesang auf eine dekadente Kultur und die damit einhergehende, sich ständig aktualisierende Gegenwartskritik zu sehen: „Es beruhigt mich auch auf gar keine Weise/ Wenn wir alle z’sammen untergeh’n“ spiegelt die zentralen Zeilen eines frühen Wienerlieds, Johann Nestroys Kometenlied des Knieriem aus Der böse Geist Lumpazivagabundus (1833): „Da wird einem halt angst und bang,/Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang“.
Für das Genreparadigma typisch wird bei Wohin die Reise die fatalistische Untergangsstimmung durch schelmischen ‚Schmäh‘ oder zumindest Pointenhaftigkeit aufgefangen. Trotz all der Depression, gelingt es dem Sprecher-Ich nämlich, seinem Kapitän elegant dessen Dummheit vorzuhalten, da er die Schiffsmannschaft eben nicht – wie noch bei Hans Albers – zum Licht am Horizont, zu den glühenden Sternen des Heimathafens navigiert. Hanswurstisch neunmalklug erklärt das Sprecher-Ich dem Kapitän seinen grundlegenden Denkfehler in Form einer banalen Weisheit: „Das Licht am Horizont wird nur net heller/ Wenn ma in die falsche Richtung fährt“.
Florian Seubert, Bamberg
Vielen Dank für diese geistreiche und (zeit)kritische Interpretation. Ich habe dieses Lied auf dem Heimweg von einer langen und anstrengenden Dienstreise zufällig gehört und der Text hat meine Neugier geweckt. Was im Nachhinein um so mehr wundert, ist die Tatsache, wie gewisse Entwicklungen gewissermassen von STS antizipert werden (1995 steckte das Internet noch ziemlich in den Kinderschuhen) und trotzdem haben sie erkannt, wie „der Papa die halbe Nacht vor dem Internet“ sitzt. (wozu er glaube ich damals nicht wirklich die technische Möglichkeit hatte)
Man selbst ist im Zwiespalt, wenn man als nun als 37-jähriger wie ich sich dabei erwischt, zu sagen – „die Jugend von heute“. Man selber war eigentlich nicht besser – aber es scheint, als wäre es heute NOCH schlimmer.
War zu Ende des 20. Jahrhunderts wirklich eine fin de siecle Stimmung auszumachen? oder ist das noch zu zeitnah, um es zweifelsfrei festzustellen?
Abschließend wollte ich nur sowiel hinzufügen: Ist diese Gesellschaftskritik wirklich so neu ?- wenn man das zitierte Lied von Hans Albers genau betrachtet. Aber es hat den Anschein, dass immer mehr Menschen das vorherrschende System in Frage stellen und versuchen, es mit diversen Therapien und Gegenströmungen auszugleichen. Immer mehr wird man aber ganz schnell als „Gestriger und Fortschrittsverweigerer oder gar -verlierer“ abqualifiziert.
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