Romantik und Metaphysik mit Hausmeistern. „Da Schnee“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)
23. Januar 2023 2 Kommentare
Molden, Resetarits, Soyka, Wirth Da Schnee wos bei mia wichdig is kummd ollas vo dia 1 en resd hob i nua zum iagndwaun wieda valian die haubdallee mochd heid kaan don kaa geräusch mia schbüün en an schdumfüm und olle sans gleich wäus gfrian und iangdwea haud owe an schnee 5 vo gaunz gaunz weid om aum juchee un de hausmasda sogn okee gengan owe und schaufen den schnee daun ee mia schdendan in schnee und d wöd hod a end 10 mia schaub auf de fiass de ma noch und noch nimma akennd und wos mi vuan schdeam schizzd san deine hend i hoeds fest und gee duach duach oes wos en mein feia vabrennd und iangdwea haud owe an schnee […] [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]
Zugegeben, ich hab’s schon mit dem Schnee! Eigentlich mit allen seinen H2O-basierten Erscheinungsformen, die mir im Laufe meines Lebens mal mehr, mal minder freundlich begegnet sind: zu Bällen gepresst, Schaufeln beschwerend, Kufen, Brettern und zur Not auch dem Hinterteil eine rutschige Unterlage bietend, als unverzichtbares winterliches Dekomaterial ebenso wie als vermutlich eher verzichtbarer Matsch auf städtischen Straßen und Fußwegen. Und so sympathisiere ich auch schon fast grundsätzlich mit musikalischen Referenzen an die weiße Pracht – mit traditionellen Kinder- (Schneeflöckchen, Weißröckchen) und Adventsliedern (Leise rieselt der Schnee), amerikanischen Winter- und Weihnachtsschnulzen (Jingle Bells, White Christmas), Einladungen zum Winterschlaf (Ludwig Hirsch) usw. usf. Insofern war mehr oder minder zu erwarten, dass mir das hier zu besprechende Lied gefallen würde; aber dann übte Moldens Schnee-Song, den ich der Einfachheit halber wie viele andere Produktionen der Formation Molden-Resetarits-Soyka-Wirth unter ,Big City Blues‘ einsortiere, auf mich doch noch einmal eine ganz spezielle Faszination aus …
Der Dichter (die Begriffe ,Texter‘ oder ,Songwriter‘ scheinen mir in diesem Kontext nicht richtig zu passen) fügt sein Lied aus drei Inhaltskomponenten zusammen: einer Liebeserklärung, der Beschreibung einer bestimmten Wiener Lokalität und der Darstellung eines winterlichen Wetterereignisses. Wie er diese Faktoren dann allerdings sprachlich und musikalisch (langsam, leise, unaufgeregt) zur Erscheinung bringt, mit Gefühlen auflädt und diese, quasi nebenbei und ganz unaufdringlich, mit Hilfe einer dezenten Dosis Schmäh wieder einfängt, bevor das Pathos in Kitsch umschlägt, ist… na ja, zu Lesern meiner Generation würde ich jetzt sagen: große Kunst, für jüngere Zeitgenossen moderner formuliert: einfach geil! Für Wiener: leiwand!
Das Lied beginnt mit einer indirekten Liebeserklärung, die von der Sprecherinstanz in Form einer Feststellung höchster Wertschätzung vorgetragen wird: Alles wirklich Wichtige verdanke das Ich dem Du, sein ganzer übriger ,Besitz‘ (materieller oder anderer Art) sei im Vergleich dazu nur belangloses Zeug, von dem man sich irgendwann ohne größeres Bedauern wieder trennen werde. Mit dieser Aussage konstatiert das Ich eine provozierend absolute Abhängigkeit seiner Existenz und Identität von den Zuwendungen der Bezugsperson, die – zumindest mir – Assoziationen an religiöse Kontexte aufgedrängt hat, an Gebete, Bekenntnisse und Kirchenlieder, in denen fromme Autoren ihr gesamtes Sein tief dankbar auf einen Schöpfer bzw. Erlöser ausrichten.
Auf die zweite Strophe vorausblickend, dürfen wir jedoch diesen Verdacht verwerfen; mit einem Gott (oder einer Göttin) würde man doch eher nicht auf der Praterallee im Schnee herumstehen, oder? Nein, in unserem Lied geht es um Zwischenmenschliches.
Die nächsten beiden Verse der ersten Strophe benennen den Ort des Geschehens und vermitteln einen intensiven Eindruck der herrschenden Atmosphäre. Mit der „haubdallee“, die selbstverständlich im Kontext eines Wiener Großstadtblues von Ernst Molden keines erklärenden Zusatzes bedarf, kann nur die schon im 16. Jahrhundert angelegte, 1866/67 erweiterte schnurgerade Verbindung vom Praterstern zum Lusthaus gemeint sein, die an schönen Sommertagen gerne von Spaziergängern, Läufern, Fiakern frequentiert wird, natürlich auch von den allerorten unvermeidlichen Velozipedisten sowie sonstigen freizeitgestaltenden Menschen. (Der einschlägige Wikipedia-Eintrag erwähnt hier ausdrücklich Reiter und Rikschafahrer!) Man beobachtet dort neben diversen Einheimischen, die man etwa an der mitgeführten Rikscha eindeutig als solche klassifizieren kann, auch zahlreiche, ihr Besichtigungsprogramm hurtig absolvierende Touristen.
,Heute‘ jedoch, d.h. zu jener winterlichen Stunde, von der unser Lied erzählt, ist alles anders. Eine ungewohnte Stille beherrscht die Szene. Ohne dass es extra ausgesprochen werden muss, ist klar, dass eine Schneedecke alle Töne erstickt. Zwar halten sich auch an diesem Tag Menschen vor Ort auf, aber sie wirken merkwürdig anders, kaum unterscheidbar. In der Wahrnehmung des Sängers ähneln sie sich zum Verwechseln, weil alle frieren und sich wie die Figuren eines Stummfilms benehmen. Dieser Vergleich entzieht der Szene neben den Geräuschen übrigens auch die Farbe, fügt ihr dafür aber einen Schlag Schmäh hinzu; denn es scheint doch ein wenig komisch, dass ausgerechnet ein Lied, dessen Medium nun einmal die Akustik ist, eine Szenerie völliger Stille entwirft.
Im folgenden Refrain erhält Ernst Molden stimmliche Unterstützung von Willi Resetarits, so dass der Sound einen Tick opulenter wird. Auch die Melodie entwickelt jetzt mehr Schwung und klingt schon beinahe nach ,Wiener Lied‘. Touristen aus dem Rheinland haken einander unter und fangen an zu schunkeln… Schock! – Eh net! (Das war jetzt bloß ein Schmäh auf niederbairisch.)
Und jetzt, im Refrain, fällt endlich auch das Wort „Schnee“, und zwar gleich zweimal. Die beiden Kontexte, in denen vom kristallinen Nass* die Rede ist, stehen einander diametral gegenüber: Einmal richtet sich der Blick weit nach oben, bis zum „Juchee“ hinauf, das andere Mal nach unten, auf die profane Sphäre der Großstadtgassen, wo die armen Hausmeister ihren Job erledigen müssen, um das überirdische weiße Zeugs wieder wegzuschaufeln.
An Vers 5 scheint mir die Personifizierung der Ursache des gewaltigen Schneefalls bemerkenswert: Zwar legt sich der Text auf keine konkrete Person fest – Petrus käme vielleicht in Frage oder Frau Holle, natürlich Gott höchstselbst als oberster Wettermacher, weniger wohl der Kachelmann –, aber er ordnet das Geschehen doch „iangdwea[m]“ zu und macht das Bild dadurch konkreter. Dieser „iangdwea“ agiert jedenfalls in erhabener Höhe, „gaunz gaunz weid om aum juchee“. Nun bezeichnet der Begriff ,Juchee‘ im östlichen Österreich einen ,Berggipfel‘, referiert aber zugleich auch auf die höchste Galerie im Theater. Beide Bezüge ergeben für unser Lied Sinn und ich denke, dass es Molden nur recht ist, wenn sich beim Zuhörer die Bildvorstellungen von Natur- und Kunstkulisse überlagern. Letztere Vorstellung würde unaufdringlich an die barocke, in den Künsten der Donaumetropole lange lebendig erhaltene Idee eines ,Welttheaters‘ anschließen und dabei selbstreflexiv (und insofern auch selbstironisch) die poetisch-artifizielle Inszenierung des Schnee-Erlebnisses hervorheben.
Mit Vers 7 richtet die Sprecherinstanz weniger ihren Blick als ihre Gedanken auf die ,Leidtragenden‘ des sie selbst zu romantischen Bekenntnissen beflügelnden Witterungsgeschehens, auf die arbeitende Klasse der Wiener Hausmeister, die sich vorgeblich willig in ihr Schicksal fügen. Wir wissen nicht, woher der Sänger das so genau wissen will. Selber ist er gewiss kein professioneller Schneeräumer und von seinem Standpunkt in der Prater-Hauptallee aus kann er wohl kaum sehen, was die Hausmeister in den Hauptstadtstraßen und -gassen treiben, und noch weniger hören, ob sie dem heftigen Wintereinbruch tatsächlich ihr ,o.k.‘ gegeben haben. Nein, hier beweist sich keineswegs die ,prästabilierte Harmonie‘ einer vom großen Uhrmacher wunderbar eingerichteten Schöpfung im Sinne des Leibnizschen Vorschlags zur Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, 1714), sondern da erlaubt sich Ernst Molden mit seinen zwischenzeitlich (vielleicht?) romantisch und/oder metaphysisch ergriffenen Zuhörern einen ordentlichen Schabernack.
Macht man sich die Fallhöhe zwischen dem großen Unbekannten „gaunz weid om aum juchee“ und den Wiener Haumeistern bei ihrer Schaufel-Arbeit klar, kann an einer sehr wohl intendierten Komik dieser Kontrastierung kein Zweifel bestehen. Und falls jetzt doch noch jemand einwenden wollte, dass der Dichter mit dem Blick auf die Hausmeister vielleicht sein soziales Gewissen für die unteren Klassen entdeckt haben könnte, verweise ich auf die letzten Worte dieser Passage: „daun ee“. Das „ee“ ist bekanntlich ein Lieblingswort des Wiener Dialekts. Es besitzt mindestens 1001 Bedeutungsnuancen und mit den meisten davon verbindet sich eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit. Unsere Sprecherinstanz bringt damit zum Ausdruck, dass sie aus langjähriger Erfahrung weiß, dass am Ende des Winterzaubers ,selbstverständlich‘ die Hausmeister zur Schaufel greifen müssen, um die normalen Verkehrsverhältnisse wieder herzustellen, ohne die eine große Stadt nun einmal nicht funktionieren kann. So war es schon immer und so wird es auch dieses Mal sein. Man weiß das, aber das Wörtchen „ee“ macht darüber hinaus deutlich, dass es im Grunde keinen interessiert. Schmäh in Reinkultur!
Nachdem die Refrain-Strophe das ,große Ganze‘ des Witterungsereignisses betrachtet und den Weg der weißen Pracht von ihrem himmlischen Ursprung bis zu ihrer unspektakulären Beseitigung verfolgt hat, geht es in den nächsten vier Versen wieder um das Private. Da der dichte Schneefall um das Paar herum den Horizont verengt, kommt es dem Sänger so vor, als sei die Welt hier an ihr Ende gekommen. In der Naheinstellung des Blicks verschwinden die eigenen Beine („fiass“) im Tiefschnee, wodurch sich das gute Gefühl von Bodenhaftung (,Erdung‘) und damit verbundener Sicherheit auflöst. Das Versinken im Schnee erinnert an die Situation des Ertrinkens im Wasser,* Gedanken an das Ende der eigenen Existenz drängen sich auf. Allerdings bleiben der Sprecherinstanz als letzte Rettungsanker noch die Hände der geliebten Bezugsperson, die sie festhält und von denen sie sich durch alle Gefahren leiten lässt. Der zweite Teil von Vers 13 gibt dem Interpreten allerdings noch einmal eine ordentliche Nuss zu knacken …
Eigentlich würde man angesichts des gewaltigen Schneefalls erwarten, dass sich das Ich von der Kälte, die allen Personen auf der Hauptallee ins Gebein kriecht (vgl. Vers 4), bedroht fühlen und sich an die wärmenden Hände der Geliebten halten würde, um diese Gefahr zu bannen. Diese Erwartung wird von Molden aber sofort gnadenlos abgeschmettert. Eine Gedankenführung nach diesem Schema wäre poetisch einfach zu konventionell. Kitschalarm! Stattdessen geleiten im vorliegenden Liedtext die schützenden Hände des Partners das Ich durch eine ,hausgemachte‘ Flammenhölle: „duach oes wos en mein feia vabrennd“. Die äußere Bedrohung durch Kälte und Schnee weicht überraschend einer neuen, nun aber inneren, seelischen Bedrohung. Für diese ist keine höhere Instanz im Wolken- oder Theaterhimmel verantwortlich zu machen, sondern sie entspringt einzig und allein der Sprecherinstanz, die ihr ,Feuer‘ nicht beherrschen, ihr hitziges Temperament, ihre Triebe etc. nicht zügeln kann, dadurch im Laufe ihres Lebens so manches verbockt hat und nun mit dieser Schuld zurecht kommen muss. (Zum Glück nicht allein!)
Welcher Art aber könnte dieses Flammeninferno, das von keinem Schneegestöber zu ersticken ist, sein? Und was könnte darin verheert worden sein?
Schwer zu sagen, das Lied gibt dazu – soweit ich sehe – keine hilfreichen Hinweise. Also reicht der Dichter/Sänger das Problem höchstwahrscheinlich an seine Zuhörer weiter: Mögen die sich doch selber erforschen, ob sie dergleichen destruktive Mächte – schlechte Gefühle, Wut, Hass, Neid, Eifersucht – in sich verspüren. Ob Ihnen bei der Selbsterkundung womöglich ,Dinge‘ (Chancen, Beziehungen, Freundschaften…) einfallen, die sie im Laufe ihres Lebens ,verbrannt‘, d.h. ruiniert haben und deren kokelnde Überreste ihnen noch immer gewaltig an die Nieren gehen.
Hans-Peter Ecker, Bamberg
* Viele Lieder auf dem Album Ho rugg, haben in dieser oder jener Form mit dem feuchten Element zu tun, wobei dieses Blog allerdings nicht das geeignete Format bietet, solche einzeltextübergreifenden Zusammenhänge näher zu verfolgen.
Literatur:
Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden. Hrsg. von Irene Suchy. Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Weitra: Bibliothek der Provinz, 2015.
Michael Schophaus: Schnee: Eine Liebeserklärung an den Winter. Aarau und München: AT Verlag, 2019.