Romantik und Metaphysik mit Hausmeistern. „Da Schnee“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)

Molden, Resetarits, Soyka, Wirth

Da Schnee

wos bei mia wichdig is kummd ollas vo dia				 1
en resd hob i nua zum iagndwaun wieda valian
die haubdallee mochd heid kaan don kaa geräusch
mia schbüün en an schdumfüm und olle sans gleich wäus gfrian

und iangdwea haud owe an schnee 	    				 5
vo gaunz gaunz weid om aum juchee
un de hausmasda sogn okee
gengan owe und schaufen den schnee
daun ee							

mia schdendan in schnee und d wöd hod a end				10
mia schaub auf de fiass de ma noch und noch nimma akennd
und wos mi vuan schdeam schizzd san deine hend
i hoeds fest und gee duach duach oes wos en mein feia vabrennd

und iangdwea haud owe an schnee […]

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]

Zugegeben, ich hab’s schon mit dem Schnee! Eigentlich mit allen seinen H2O-basierten Erscheinungsformen, die mir im Laufe meines Lebens mal mehr, mal minder freundlich begegnet sind: zu Bällen gepresst, Schaufeln beschwerend, Kufen, Brettern und zur Not auch dem Hinterteil eine rutschige Unterlage  bietend, als unverzichtbares winterliches Dekomaterial ebenso wie als vermutlich eher verzichtbarer Matsch auf städtischen Straßen und Fußwegen. Und so sympathisiere ich auch schon fast grundsätzlich mit musikalischen Referenzen an die weiße Pracht – mit traditionellen Kinder- (Schneeflöckchen, Weißröckchen) und Adventsliedern (Leise rieselt der Schnee), amerikanischen Winter- und Weihnachtsschnulzen (Jingle Bells, White Christmas), Einladungen zum Winterschlaf (Ludwig Hirsch) usw. usf. Insofern war mehr oder minder zu erwarten, dass mir das hier zu besprechende Lied gefallen würde; aber dann übte Moldens Schnee-Song, den ich der Einfachheit halber wie viele andere Produktionen der Formation Molden-Resetarits-Soyka-Wirth unter ,Big City Blues‘ einsortiere, auf mich doch noch einmal eine ganz spezielle Faszination aus …

Der Dichter (die Begriffe ,Texter‘ oder ,Songwriter‘ scheinen mir in diesem Kontext nicht richtig zu passen) fügt sein Lied aus drei Inhaltskomponenten zusammen: einer Liebeserklärung, der Beschreibung einer bestimmten Wiener Lokalität und der Darstellung eines winterlichen Wetterereignisses. Wie er diese Faktoren dann allerdings sprachlich und musikalisch (langsam, leise, unaufgeregt) zur Erscheinung bringt, mit Gefühlen auflädt und diese, quasi nebenbei und ganz unaufdringlich, mit Hilfe einer dezenten Dosis Schmäh wieder einfängt, bevor das Pathos in Kitsch umschlägt, ist… na ja, zu Lesern meiner Generation würde ich jetzt sagen: große Kunst, für jüngere Zeitgenossen moderner formuliert: einfach geil! Für Wiener: leiwand! 

Das Lied beginnt mit einer indirekten Liebeserklärung, die von der Sprecherinstanz in Form einer Feststellung höchster Wertschätzung vorgetragen wird: Alles wirklich Wichtige verdanke das Ich dem Du, sein ganzer übriger ,Besitz‘ (materieller oder anderer Art) sei im Vergleich dazu nur belangloses Zeug, von dem man sich irgendwann ohne größeres Bedauern wieder trennen werde. Mit dieser Aussage konstatiert das Ich eine provozierend absolute Abhängigkeit seiner Existenz und Identität von den Zuwendungen der Bezugsperson, die – zumindest mir – Assoziationen an religiöse Kontexte aufgedrängt hat, an Gebete, Bekenntnisse und Kirchenlieder, in denen fromme Autoren ihr gesamtes Sein tief dankbar auf einen Schöpfer bzw. Erlöser ausrichten.

Auf die zweite Strophe vorausblickend, dürfen wir jedoch diesen Verdacht verwerfen; mit einem Gott (oder einer Göttin) würde man doch eher nicht auf der Praterallee im Schnee herumstehen, oder? Nein, in unserem Lied geht es um Zwischenmenschliches.

Die nächsten beiden Verse der ersten Strophe benennen den Ort des Geschehens und vermitteln einen intensiven Eindruck der herrschenden Atmosphäre. Mit der „haubdallee“, die selbstverständlich im Kontext eines Wiener Großstadtblues von Ernst Molden keines erklärenden Zusatzes bedarf, kann nur die schon im 16. Jahrhundert angelegte, 1866/67 erweiterte schnurgerade Verbindung vom Praterstern zum Lusthaus gemeint sein, die an schönen Sommertagen gerne von Spaziergängern, Läufern, Fiakern frequentiert wird, natürlich auch von den allerorten unvermeidlichen Velozipedisten sowie sonstigen freizeitgestaltenden Menschen. (Der einschlägige Wikipedia-Eintrag erwähnt hier ausdrücklich Reiter und Rikschafahrer!) Man beobachtet dort neben diversen Einheimischen, die man etwa an der mitgeführten Rikscha eindeutig als solche klassifizieren kann, auch zahlreiche, ihr Besichtigungsprogramm hurtig absolvierende Touristen.

,Heute‘ jedoch, d.h. zu jener winterlichen Stunde, von der unser Lied erzählt, ist alles anders. Eine ungewohnte Stille beherrscht die Szene. Ohne dass es extra ausgesprochen werden muss, ist klar, dass eine Schneedecke alle Töne erstickt. Zwar halten sich auch an diesem Tag Menschen vor Ort auf, aber sie wirken merkwürdig anders, kaum unterscheidbar. In der Wahrnehmung des Sängers ähneln sie sich zum Verwechseln, weil alle frieren und sich wie die Figuren eines Stummfilms benehmen. Dieser Vergleich entzieht der Szene neben den Geräuschen übrigens auch die Farbe, fügt ihr dafür aber einen Schlag Schmäh hinzu; denn es scheint doch ein wenig komisch, dass ausgerechnet ein Lied, dessen Medium nun einmal die Akustik ist, eine Szenerie völliger Stille entwirft.

Im folgenden Refrain erhält Ernst Molden stimmliche Unterstützung von Willi Resetarits, so dass der Sound einen Tick opulenter wird. Auch die Melodie entwickelt jetzt mehr Schwung und klingt schon beinahe nach ,Wiener Lied‘. Touristen aus dem Rheinland haken einander unter und fangen an zu schunkeln… Schock! – Eh net! (Das war jetzt bloß ein Schmäh auf niederbairisch.)

Und jetzt, im Refrain, fällt endlich auch das Wort „Schnee“, und zwar gleich zweimal. Die beiden Kontexte, in denen vom kristallinen Nass* die Rede ist, stehen einander diametral gegenüber: Einmal richtet sich der Blick weit nach oben, bis zum „Juchee“ hinauf, das andere Mal nach unten, auf die profane Sphäre der Großstadtgassen, wo die armen Hausmeister ihren Job erledigen müssen, um das überirdische weiße Zeugs wieder wegzuschaufeln.

An Vers 5 scheint mir die Personifizierung der Ursache des gewaltigen Schneefalls bemerkenswert: Zwar legt sich der Text auf keine konkrete Person fest – Petrus käme vielleicht in Frage oder Frau Holle, natürlich Gott höchstselbst als oberster Wettermacher, weniger wohl der Kachelmann –, aber er ordnet das Geschehen doch „iangdwea[m]“ zu und macht das Bild dadurch konkreter. Dieser „iangdwea“ agiert jedenfalls in erhabener Höhe, „gaunz gaunz weid om aum juchee“. Nun bezeichnet der Begriff ,Juchee‘ im östlichen Österreich einen ,Berggipfel‘, referiert aber zugleich auch auf die höchste Galerie im Theater. Beide Bezüge ergeben für unser Lied Sinn und ich denke, dass es Molden nur recht ist, wenn sich beim Zuhörer die Bildvorstellungen von Natur- und Kunstkulisse überlagern. Letztere Vorstellung würde unaufdringlich an die barocke, in den Künsten der Donaumetropole lange lebendig erhaltene Idee eines ,Welttheaters‘ anschließen und dabei selbstreflexiv (und insofern auch selbstironisch) die poetisch-artifizielle Inszenierung des Schnee-Erlebnisses hervorheben.

Mit Vers 7 richtet die Sprecherinstanz weniger ihren Blick als ihre Gedanken auf die ,Leidtragenden‘ des sie selbst zu romantischen Bekenntnissen beflügelnden Witterungsgeschehens, auf die arbeitende Klasse der Wiener Hausmeister, die sich vorgeblich willig in ihr Schicksal fügen. Wir wissen nicht, woher der Sänger das so genau wissen will. Selber ist er gewiss kein professioneller Schneeräumer und von seinem Standpunkt in der Prater-Hauptallee aus kann er wohl kaum sehen, was die Hausmeister in den Hauptstadtstraßen und -gassen treiben, und noch weniger hören, ob sie dem heftigen Wintereinbruch tatsächlich ihr ,o.k.‘ gegeben haben. Nein, hier beweist sich keineswegs die ,prästabilierte Harmonie‘ einer vom großen Uhrmacher wunderbar eingerichteten Schöpfung im Sinne des Leibnizschen Vorschlags zur Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, 1714), sondern da erlaubt sich Ernst Molden mit seinen zwischenzeitlich (vielleicht?) romantisch und/oder metaphysisch ergriffenen Zuhörern einen ordentlichen Schabernack.

Macht man sich die Fallhöhe zwischen dem großen Unbekannten „gaunz weid om aum juchee“ und den Wiener Haumeistern bei ihrer Schaufel-Arbeit klar, kann an einer sehr wohl intendierten Komik dieser Kontrastierung kein Zweifel bestehen. Und falls jetzt doch noch jemand einwenden wollte, dass der Dichter mit dem Blick auf die Hausmeister vielleicht sein soziales Gewissen für die unteren Klassen entdeckt haben könnte, verweise ich auf die letzten Worte dieser Passage: „daun ee“. Das „ee“ ist bekanntlich ein Lieblingswort des Wiener Dialekts. Es besitzt mindestens 1001 Bedeutungsnuancen und mit den meisten davon verbindet sich eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit. Unsere Sprecherinstanz bringt damit zum Ausdruck, dass sie aus langjähriger Erfahrung weiß, dass am Ende des Winterzaubers ,selbstverständlich‘ die Hausmeister zur Schaufel greifen müssen, um die normalen Verkehrsverhältnisse wieder herzustellen, ohne die eine große Stadt nun einmal nicht funktionieren kann. So war es schon immer und so wird es auch dieses Mal sein. Man weiß das, aber das Wörtchen „ee“ macht darüber hinaus deutlich, dass es im Grunde keinen interessiert. Schmäh in Reinkultur!

Nachdem die Refrain-Strophe das ,große Ganze‘ des Witterungsereignisses betrachtet und den Weg der weißen Pracht von ihrem himmlischen Ursprung bis zu ihrer unspektakulären Beseitigung verfolgt hat, geht es in den nächsten vier Versen wieder um das Private. Da der dichte Schneefall um das Paar herum den Horizont verengt, kommt es dem Sänger so vor, als sei die Welt hier an ihr Ende gekommen. In der Naheinstellung des Blicks verschwinden die eigenen Beine („fiass“) im Tiefschnee, wodurch sich das gute Gefühl von Bodenhaftung (,Erdung‘) und damit verbundener Sicherheit auflöst. Das Versinken im Schnee erinnert an die Situation des Ertrinkens im Wasser,* Gedanken an das Ende der eigenen Existenz drängen sich auf. Allerdings bleiben der Sprecherinstanz als letzte Rettungsanker noch die Hände der geliebten Bezugsperson, die sie festhält und von denen sie sich durch alle Gefahren leiten lässt. Der zweite Teil von Vers 13 gibt dem Interpreten allerdings noch einmal eine ordentliche Nuss zu knacken …

Eigentlich würde man angesichts des gewaltigen Schneefalls erwarten, dass sich das Ich von der Kälte, die allen Personen auf der Hauptallee ins Gebein kriecht (vgl. Vers 4), bedroht fühlen und sich an die wärmenden Hände der Geliebten halten würde, um diese Gefahr zu bannen. Diese Erwartung wird von Molden aber sofort gnadenlos abgeschmettert. Eine Gedankenführung nach diesem Schema wäre poetisch einfach zu konventionell. Kitschalarm! Stattdessen geleiten im vorliegenden Liedtext die schützenden Hände des Partners das Ich durch eine ,hausgemachte‘ Flammenhölle: „duach oes wos en mein feia vabrennd“. Die äußere Bedrohung durch Kälte und Schnee weicht überraschend einer neuen, nun aber inneren, seelischen Bedrohung. Für diese ist keine höhere Instanz im Wolken- oder Theaterhimmel verantwortlich zu machen, sondern sie entspringt einzig und allein der Sprecherinstanz, die ihr ,Feuer‘ nicht beherrschen, ihr hitziges Temperament, ihre Triebe etc. nicht zügeln kann, dadurch im Laufe ihres Lebens so manches verbockt hat und nun mit dieser Schuld zurecht kommen muss. (Zum Glück nicht allein!)

Welcher Art aber könnte dieses Flammeninferno, das von keinem Schneegestöber zu ersticken ist, sein? Und was könnte darin verheert worden sein?

Schwer zu sagen, das Lied gibt dazu – soweit ich sehe – keine hilfreichen Hinweise. Also reicht der Dichter/Sänger das Problem höchstwahrscheinlich an seine Zuhörer weiter: Mögen die sich doch selber erforschen, ob sie dergleichen destruktive Mächte – schlechte Gefühle, Wut, Hass, Neid, Eifersucht – in sich verspüren. Ob Ihnen bei der Selbsterkundung womöglich ,Dinge‘ (Chancen, Beziehungen, Freundschaften…) einfallen, die sie im Laufe ihres Lebens ,verbrannt‘, d.h. ruiniert haben und deren kokelnde Überreste ihnen noch immer gewaltig an die Nieren gehen.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

* Viele Lieder auf dem Album Ho rugg, haben in dieser oder jener Form mit dem feuchten Element zu tun, wobei dieses Blog allerdings nicht das geeignete Format bietet, solche einzeltextübergreifenden Zusammenhänge näher zu verfolgen.

Literatur:

Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden. Hrsg. von Irene Suchy. Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Weitra: Bibliothek der Provinz, 2015.

Michael Schophaus: Schnee: Eine Liebeserklärung an den Winter. Aarau und München: AT Verlag, 2019.     

Rummelplatz mit Herz. „Rudschduam“ – Wiener Big City Blues von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)

[Video: Es ist bereits dunkel, drei Jungs checken ihre Barschaft: drei Euro-Münzen. Leuchtschriften über Prater-Schaustellerbetrieb, Schaustellerin am Kassenhäuschen lehnend: „Calypso“, „Spaß für Alle“. Schaustellerin, gesprochen: „Na, meine Herrn!“Sie lächelt die Jungs an, Einsetzen der Musik. Sie weist auf ein Schild „Heute gratis!“ Sie lässt die Jungs eintreten und dreht hinter ihnen das Schild um, dessen Rückseite den unterstrichenen Schriftzug „geschlossen“ aufweist.]

Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth

Rudschduam

aum rudschduam sogd de mama					1
aum rudschduam gesd ma ned
wäu do mittn en da kuavm a muadsdrumm schiefa ausseschded
und dea  foad da duach dei hosn
und dea foad da duach dei lem					5
s muass en proda jo doch wiagglech aa no aundare sochn gem

mia foan ned med da hochschaubaun
de hochschaubaun is hi
mia schiassn med de luftdruggwea
bis s weg is de marie						10
jo da proda jo da proda
dea red mea oes wos a kaun
owa drodsdem owa drodsdem 
oaw drodsdem schau dan aun

mia fliagn ned med da prodafee					15
de prodafee is fuat
und um de zeid sogn da easchde
naa des is kaa guada uat
und da proda jo da proda
dea schreid vua lauta schmeaz 					20
des beweisd uns des beweisd uns
ea hod a heaz

nua da rudschduam hod heid offn
oes wiara leichduam en da nochd
schdeig ma auffe rudsch ma owe					25
wäu da mama ollas glaum
hods ee ned brochd

schdeig ma auffe rudsch ma owe					
wäu da mama ollas glaum
hods ee ned brochd						30

schdeig ma auffe rudsch ma owe					
wäu da mama ollas glaum
hods ee ned brochd

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]

Für Menschen, die sich mit dem Wienerischen schwer tun, nachfolgend ein Übersetzungsversuch von mir:

Auf den Rutschturm, sagt die Mama, / auf den Rutschturm gehst du mir nicht! / Weil dort mitten in der Kurve ein Riesenspreißel herausragt. / Und der fährt dir durch die Hose / Und der fährt dir durch dein Leben. / Es muss im Prater doch wirklich noch andere [interessante] Sachen geben.

Wir fahren nicht mit der Achterbahn, / die Achterbahn ist kaputt. / Wir schießen mit dem Luftgewehr, / bis das ganze Geld weg ist. / Ja der Prater, ja der Prater, / der verspricht mehr als er hält. / Aber trotzdem, aber trotzdem / aber trotzdem solltest du ihn dir ansehen.

Wir fliegen nicht mit der Praterfee, / die Praterfee ist fort. / Und um die Zeit sagt der Erste: / „Nein, das ist kein guter Ort!“ / Und der Prater, ja der Prater, / der schreit vor lauter Schmerz. / Das beweist uns, das beweist uns: / Er besitzt ein Herz.

Nur der Rutschturm hat heute offen / wie ein Leuchtturm in der Nacht – / Steigen wir hinauf, rutschen wir runter, / Weil der Mama alles glauben / hat es sowieso nicht gebracht.

Steigen wir hinauf, rutschen wir runter […]

Anfang dieses Jahres sind mir Ernst Molden und seine musikalischen Mitstreiter zum ersten Mal ,untergekommen‘ und haben mich spontan ganz außergewöhnlich beeindruckt. Meine Besprechung von Awarakadawera zeugt von dieser Begegnung, bei der es in den Folgewochen nicht geblieben ist. Ich habe mir die Alben besorgt und darauf viele Titel gefunden, die mir sowohl von den Texten als auch von den Kompositionen her so gut gefallen, dass ich darüber am liebsten eine ganze Reihe von Beiträgen für dieses Blog verfassen möchte. Fangen wir mit dem Rudschduam an, nicht zuletzt deshalb, weil es dazu ein kongeniales Video gibt…

Das Lied, eigentlich eine Ballade im literarischen Sinne, handelt vom Praterbesuch dreier Jungs (die Zahl ergibt sich lediglich aus dem Video), die dabei das mütterliche Verbot übertreten, den „Rudschduam“ zu betreten. Meine nachfolgende Interpretation wird erklären, warum die Mutter ausgerechnet über diese Lokalität des Vergnügungsparks ein Tabu verhängt, wie es zum Ungehorsam der Jungs kommt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Am Ende gehe ich der Frage nach, welcher Sinn dieser merkwürdigen Geschichte innewohnen könnte.  

Die einleitende Videosequenz greift der im Liedtext erzählten Handlung vor, indem sie schon deren Ausgang vorwegnimmt: Die Jungs lassen sich verlocken, den von Muttern verbotenen Ort zu besuchen. Sie folgen mehr oder minder widerstandslos der Einladung der Schaustellerin, obwohl deren ganzer Habitus keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck macht. Ihre Anrede („Na, meine Herrn!“) klingt wie eine – natürlich ironisch grundierte – Anmache und ihr süffisantes Lächeln verstärkt das Zwielichtig-Schlüpfrige der Situation. Dass das Vergnügen (große Leuchtreklame: „Spaß für Alle“) auch noch gratis zu haben sein soll, bricht den letzten Widerstand der Jungs. Wie hypnotisiert durchschreiten sie die ihnen aufgehaltene Pforte und betreten das verbotene Terrain. Die Schaustellerin – Verführerin, gute Fee, Hexe? Man erinnere sich an die Leuchtschrift „Calypso“! – schließt hinter ihnen ihr Geschäft. Klappe zu, Affe tot…

Nun setzt die Sängerstimme ein. An den Anfang setzt sie das mütterliche Gebot, dem Rutschturm fernzubleiben. Sie redet ihren Sprößling im Singular an, also müssen wir uns die beiden anderen Jungs im Video als seine Kumpels denken. Der Anordnung folgt eine vordergründig vernünftig klingende Begründung: In der Kurve der Rutschbahn rage ein gewaltiger „Schiefer“ (Splitter, Spreißel) hervor, der dem Kind nicht nur durch die Hose, nein, durch sein ganzes Leben fahren werde. Diese Gefahr müsse unbedingt gemieden werden; schließlich sollten in einem solch großen Vergnügungspark wie dem Prater auch noch andere, weniger riskante Belustigungen zu finden sein. Der Fortgang des Liedes wird allerdings zeigen, dass dem nicht so ist. 

Aber so weit sind wir noch nicht, zur geschilderten Ausgangslage bleiben noch einige wichtige Aspekte anzumerken. Da ist zunächst die seltsame Begründung des mütterlichen Verbots. So plausibel sie sich vielleicht für den Knaben anhört, so unglaubwürdig klingt sie für den literaturgeschichtlich bewanderten Interpreten, dem sofort allerlei Assoziationen und Bedenken durch den Kopf schießen.  Falls es denn tatsächlich stimmen sollte, dass man sich auf der Praterrutsche – die sicherlich regelmäßig gewartet und vom TÜV kontrolliert wird – mächtige Spreißel einziehen kann, hört es sich doch reichlich übertrieben an, dass so ein Schiefer einem gleich ,durch das Leben‘ fahren sollte. Da trägt die Mutter doch ziemlich dick auf, oder? Oder versteht sie den Splitter womöglich nicht wörtlich, sondern nimmt ihn als Symbol für etwas anderes, ihrem Empfinden nach viel Schlimmeres?

Erst einmal auf dieser Spur, liegt es nahe, in Symbol-, Ikonographie- und Traumdeutungs-Lexika nachzuschauen, ob die nicht etwas zu Rutschbahnen, Rummelplätzen und Spreißeln zu sagen haben. Und in der Tat findet man in der einschlägigen Literatur Erklärungen, die auch recht naheliegen: Rutschen wie Rummelplätze sind hinsichtlich ihrer symbolischen bzw. psychologischen Nebenbedeutungen recht ambivalente Örtlichkeiten. Sie repräsentieren Kommunikation, Leichtigkeit und Lebensfreude, aber auch damit verbundene Risiken, wie den Halt verlieren, nicht ,die Kurve kriegen‘, auf die schiefe Bahn bzw. in schlechte Gesellschaft geraten, Enttäuschungen erleben und Verletzungen erleiden zu müssen. Die Mutter imaginiert den großen Schiefer in der Rutschbahn, analog zu funktional ähnlichen Traum-Objekten wie Dornen oder Nägeln. Im Volksaberglauben warnt man die Rutschenden speziell vor Neidern und Enttäuschungen in Liebesdingen. Während das Neid-Thema im Zusammenhang unseres Liedes – jedenfalls soweit ich sehe – keine Rolle spielt, passt der andere Aspekt durchaus zur unterschwelligen Sexualisierung der Einladung, die im Video als eine Art ,Verführung‘ inszeniert wird. Von der Mutter und ihrem Verbot her gedacht, darf man wohl unterstellen, dass sie ihrem Sohn gerne sein Kindheitsparadies möglichst lange bewahren möchte und ihn deshalb von einschlägigen Gefahrenzonen fernzuhalten trachtet.

Mich erinnert diese Konstellation massiv an zwei andere bekannte Narrative, in denen naiv-unschuldige Protagonisten von ihren Altvorderen mit strikten Verboten belegt werden, um sie vor Bösem zu bewahren – natürlich auch dort ohne Erfolg: Rotkäppchen fällt auf die List des Wolfes ebenso (bereitwillig) herein wie Stammmutter Eva auf die Schlange oder eben unser vorpubertärer Sohnemann auf das Gratisangebot der Schaustellerin. Am Ende zeigen alle drei Geschichten auf ihre je spezifische Art, dass Vorbote, so gut gemeint sie auch sein mögen, nicht verhindern können, dass Menschen ihre eigenen Wege gehen, weil sie irgendwann erwachsen werden müssen, dabei zwangsläufig der eigenen Sexualität begegnen, ihre Kindheits-Paradiese verlieren und als Konsequenz das Auf und Ab des Lebens aushalten und verantworten müssen: „Steign mer aufi, rudsch mer obi“ …

Die drei Jungs machen es sich (im Lied, nicht im Video, wo sich alles ,ratz-fatz‘ abspielt!) übrigens nicht so leicht wie Eva, Adam und Rotkäppchen, bemühen sie sich doch eine geraume Weile redlich, dem mütterlichen Gebot Folge zu leisten. Aber die Umstände sind gegen sie… Zunächst steuern sie die „Hochschau-Bahn“ an. Dabei handelt es sich um eine gemütliche Holzachterbahn mit relativ bescheidenen Gefäll-Passagen, die man durchaus als kindgerecht bezeichnen kann, wenngleich sie – wie ihre Geschichte ausweist – auch nicht völlig ungefährlich gewesen ist; denn die erste, 1909 eröffnete Ausgabe dieses Kirmesvergnügens brannte ein paar Jahrzehnte später aufgrund eines Kurzschlusses ab, wobei meines Wissens aber niemand zu Schaden gekommen ist, so dass unsere Mutter ihren Kleinen bei dieser Einrichtung gut aufgehoben gewusst hätte. Zumal das 1950 eröffnete Nachfolgermodell, dessen Strecke durch ein Alpenpanorama führt und mit Gartenzwergen dekoriert wurde, weshalb es sowohl als „Alpenbahn“ wie auch als „Zwergerlbahn“ bekannt geworden ist, durch einen stets mitfahrenden Bremser noch einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor aufzuweisen hat. Pech für unsere Jungs, dass diese schöne Anlage gerade defekt (im Liedtext „hie“) war.

Vgl. zu diesem vielsagenden Dialektausdruck des Wienerischen und Oberbairischen das wohlklingende Stimmungslied der Münchner Dixieband Hot Dogs: „Schaug hi, da liegt a toter Fisch im Wasser, / den mach ma hi, den mach ma hi.“

Besagter Oktoberfesthit referiert musikalisch, darin berühmten Vorbildern von Richard Strauss bis Nicolai Rimski-Korsakow nacheifernd, auf eine populäre italienische technische Einrichtung mit (seinerzeit) beachtlicher Gefällstrecke, deren erste Version, fast drei Jahrzehnte vor der ersten Wiener Hochschaubahn unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Betrieb genommen, 1944, d.h. im selben Jahr, als die erste Praterbahn abbrannte, spektakulär durch elementares Wüten vulkanischer Natur zerstört und deren erneuerte Variante seit 1984 stillgelegt wurde  – so dass sie heute wohl ebenfalls als ,hi‘ bezeichnet werden kann. Dies aber nur am Rande…

Ihre weitere Praterrunde führt die Jungs zu einer Schießbude, wo sie ihre vermutlich karge Barschaft (im Lied „Marie“ tituliert – gleichbedeutend mit Flocken, Kröten, Penunzen, Knete, Schotter, Mäuse, Kohle, Moos, Pulver etc. etc.) loswerden. ,Verpulvern‘ kann ich hier schlecht sagen, weil ihre Schießprügel – ganz kindgerecht! – nur per Luftdruck arbeiten, sodass Muttern gegen dieses jungmännliche Vergnügen höchstwahrscheinlich keine ernsteren Einwände erhoben hätte. Als hellwache Beobachter des Vorgangs notieren wir an dieser Stelle, dass die jungen Praterbesucher jetzt ,blank‘ sind und schließen daraus messerscharf, dass sich ihre Anfälligkeit für Gratisangebote von nun an erheblich gesteigert haben dürfte.

Ich überspringe die nächsten vier Liedzeilen (11-14), die nicht nur den Handlungsgang unterbrechen, sondern auch dem Verständnis einigen Widerstand entgegensetzen. Wir werden uns ihnen aber noch ausführlich widmen, dann auch gleich im Zusammenhang mit den ähnlich gebauten und kontextualisierten Zeilen 19-22.  Dazwischen berichtet der Liedtext von einem weiteren, zugleich letzten Versuch der Jungs, sich ein ,erlaubtes Vergnügen‘ zu gönnen, einen Besuch der „Praterfee“. Dabei handelt es sich um ein Traditionsrestaurant mit angeschlossenem ,Kinderparadies‘ aus Trampolinen, Luftburgen und einer Kinderautobahn. (Details und Vorgeschichte spare ich aus.) Laut einer Pressenotiz des Wiener Kuriers vom 15. März 2018 sperrte die Besitzerin ihre Anlage noch vor der Saison für den öffentlichen Betrieb und wollte sie nur noch für Privatpartys vermieten. Damit standen unsere Jungs auch bei dieser Bemühung um ein kindgerechtes Vergnügen vor verschlossenen Türen, wobei offenbleibt, wie sie sich ohne „Marie“ hätten Zugang verschaffen wollen. (Schon 8 Minuten Trampolinspringen, das preiswerteste Angebot der Praterfee, hätte sie pro ,Mann‘ € 3,- gekostet …)

In diesem Augenblick wird es dem ersten der Jungs (nun rechnet auch der Liedtext mit mehr als einem kindlichen Praterbesucher!) mulmig. Ihm drängt sich das Gefühl auf, dass hier einiges schief läuft und man sich an einem verhexten Ort befindet. Zu spät! Wie ein ,Leuchtturm in der Nacht‘ verkündet der Rutschturm, dass er offen ist, und er zieht die Knaben an wie das Licht die Motten … Was dann passiert, wissen wir aus der Eingangssequenz des Videos. Man steigt hinauf und rutscht hinab. Ob es wirklich Vergnügen macht, ist schwer zu sagen. Auf den Bildern des Videos schauen die Burschen eher neutral. Schiefer scheinen sich ihnen nicht in den Hintern zu bohren. Die Rutschfahrt führt am Ende des Videos ins Schwarze. Ich würde das so interpretieren, dass uns die weitere Zukunft der Jungs, die früher oder später erwachsen und das Auf und Ab des Lebens mehr oder minder gut bestehen bzw. ertragen werden, verborgen bleibt. Auch die Schweige-Geste der Schaustellerin, die zuvor mit einer Glaskugel hantiert hat und deshalb vielleicht etwas von der Zukunft weiß, deutet für mich in diese Richtung.

Mit einem schlechten Gewissen scheinen sich die Jungs nicht mehr groß herumzuplagen, sobald sie das mütterliche Gebot einmal verletzt haben. Ihre Haltung ist durch und durch pragmatisch. Eine neue Regel begründet die über Bord geworfene alte, an der man umständehalber nicht festhalten konnte oder wollte: „Weil der Mama alles glauben / Hats eh ned bracht.“ Ziemlich cool, will sagen abgebrüht… schon fast erwachsen.

So bleiben denn noch acht vertrackte Liedzeilen zu erklären, die in gewisser Weise außerhalb der ,normalen‘ Erzählung vom Praterbesuch der Jungs und ihrer Verführung zum Ungehorsam stehen. Wenn man sie nebeneinander stellt, erkennt man leicht, dass sie formal und inhaltlich parallel geführt sind. Beide personifizieren den Wiener Vergnügungspark und sprechen ihm menschlich-individuelle Eigenschaften zu.

jo da proda jo da proda                               und da proda jo da proda
dea red mea oes wos a kaun                    dea schreid vua lauta schmeaz 				
owa drodsdem owa drodsdem                 des beweisd uns des beweisd uns
drodsdem schau dan aun                          ea hod a heaz

Meine folgende Interpretation verstehe ich als Lektüre-Vorschlag, als Angebot; ich halte sie nicht für zwingend begründbar und schon gar nicht für den einzig denkbaren Weg zu einem befriedigenden Verständnis dieser Liedzeilen. Wenn man andere Vergleichstexte im Hinterkopf hat als ich oder eine andere Auffassung von Kunst, kommt man praktisch zwangsläufig auf andere Ideen.

Ich beginne mit dem Versuch, die Redesituation zu klären, was sich allerdings als gar nicht so einfaches Unterfangen erweist. Einigermaßen unstrittig dürfte sein, dass sich die Redesituation dieser acht Zeilen radikal von jener des übrigen Liedtextes unterscheidet. Dort haben wir einen Erzähler, der in personaler Perspektivierung das Prater-Abenteuer einiger Jungs zum Besten gibt. Zum Ablauf des Geschehens gibt es keine historische Distanz, sondern die Erzählinstanz stellt die Vorgänge wie bei einer Reportage synchron im Vollzug dar. Die oben zitierten acht Zeilen sprengen nun sowohl die Perspektive als auch den naiven Bewusstseinshorizont der jungen Protagonisten. Diese Verse werden von jemandem gedacht und ausgesprochen, der über eine intime Kenntnis des Wurstelpraters verfügt, mit dessen ,Innersten‘ vertraut ist. Wer könnte das sein?

Die Kostümierung und Gestik der Sänger im Video gibt dafür einen Hinweis. Die Kleedage der Musiker kommt tendenziell ,unbürgerlich‘, fast schon ,halbweltartig‘ daher, ist aber alles andere als schäbig oder abgerissen. So könnten vielleicht Besitzer von Rummelplatz-Etablissements, von Fahrgeschäften und Prater-Restaurants in ihrem Milieu auftreten. Die Zauberkunststückchen, mit denen Leadsänger Willi Resetarits in seiner Rolle als Praterexperte die Jungs fasziniert, würden dazu passen. Freilich kann man die Interpretation auch noch etwas kühner, nämlich traumartiger oder ,surrealer‘ konzipieren; dann könnte man sich vorstellen, dass die Sprecherinstanzen der hier diskutierten acht Verse Prater-Geister sind, Verkörperungen des ,Wesens‘ dieses kulturgeschichtlich bedeutsamen Rummelplatzes, der im Laufe seiner Geschichte die Glücksphantasien vieler Menschen bewegt und nicht selten bitter enttäuscht hat. Dabei denke ich jetzt eher an Charaktere aus fiktionalen Genres (Novellen, Theaterstücken, Filmen) als an reale Personen. (Eine Verbindung zu dem Spielfilm „Praterherzen“ von Paul Verhoeven, 1953, sehe ich übrigens nicht.) Würde man hier konkret werden wollen, käme ganz schnell ein Büchlein zusammen …

Für besagte ,Geister‘ könnte man konkrete Figuren andenken, wie den historischen Hanswurst Joseph Anton Stranitzky (1676-1726, Begründer des Alt-Wiener Volkstheaters), den legendären Schausteller, Gasthausbesitzer und Zauberkünstler (!) Basilio  Calafati (1800-1878), Arthur Schnitzler (Verfasser des „Lieutenant Gustl“) usw., wovon ich aber abrate, da das Lied dafür m.E. keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte aufweist. Interessanter scheint es mir, in die umgekehrte Richtung zu gehen, d.h. zu abstrahieren statt zu konkretisieren. Auf diese Weise würde ich es für nicht unplausibel halten, den Prater – Vergnügungs-Ort und Wunschmaschine in einem – als Stellvertreter für alle Künste zu nehmen, die mit Fiktionen operieren, um Menschen zu faszinieren und in ,andere Welten‘ (als die des kruden Alltags) zu entführen. Selbstverständlich wird dabei meistens mehr versprochen als gehalten; aber dafür gibt es auch spezielle Gratifikationen (ästhetische Sensationen, große Gefühle – Stichwort „Herz“), die anderswo zu kurz kommen bzw. gar nicht zu haben sind.

Nach dieser Interpretation würden Ernst Molden und seine Kollegen in den besagten acht Versen aus ihrer Erzähler-Funktion heraustreten und sich dem Publikum als prototypische Künstler zu erkennen geben und fundamentale Statements zu ihrem Beruf abgeben.   

Jetzt ist das Musikalische völlig zu kurz gekommen, schade, schade! Aber die Fachleute dürfen sich aufgefordert fühlen, fleißigen Gebrauch von der Kommentierungsoption zu machen. Für das Genre würde ich als Eingangsthese meinerseits (durchaus in Anlehnung an Christian Seiler, der bei seinen einleitenden Worten zum booklet von ,Hauptstadtblues‘ spricht) den Begriff „Big City Blues“ in den Raum stellen…

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur: Wikipedia-Artikel zu den im Beitrag genannten (und vielen dort bewusst ausgesparten) Örtlich-, Persönlich-, Lustbar- und Peinlichkeiten.

Ballade über die Schrecken des öffentlichen Nahverkehrs aus der Sicht eines für die gesamte Menschheit stehenden Wiener Sandlers: „Awarakadawara“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth

Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka, Hannes Wirth

Awarakadawara

Aans, zwaa, drei, vier …

Awarakadawara, wo san meine Hawara?
Wo san meine Freind, wann die Sonn net scheint?
Hokuspokus fidibus, i foa mitn schwoazn Autobus.
Wo san die Kollegn, wann i ausse muaß in' Regn?

Awarakadawara […]

I hob a schwers Pinkerl zum Trogn,
I schlof auf'd Nocht im Stroßngrobn.
I hob an Rausch und i suach den Mond,
I woat auf eich, so bin i's gwohnt.

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

I woa auf da Wiedn und in Bradenlee,
I woa ganz unt und in da Heh.
I woa in Dornbach und Stadlau,
Ka Spur von euch, wohin i schau.

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Yeah. Monkey 2017.]

Es passiert mir heute nicht mehr allzu oft, dass mich irgendetwas – sei es nun ein Sportereignis, eine Naturstimmung, ein Gedanke, ein Leberwurstbrot oder ein Lied – so sehr packt, dass ich sage „Yeah, das isses!“ Bei Awarakadawara (sinnigerweise 2017 auf einem Album namens „Yeah“ veröffentlicht) ist das kürzlich aber tatsächlich so passiert. Das letzte Mal hatte ich, meiner vagen Erinnerung nach, dieses Gefühl 2015, als mir Ham kummst von Seiler & Speer (Interpretation hier) begegnet ist. Nun wieder ein packender Sound mit Ohrwurmqualität, wieder aus Österreich. Präsentiert von vier Künstlern, die nicht nur technische Kompetenz, sondern auch eine perfekte Harmonie ausstrahlen, und obendrein noch als i-Tüpfelchen für den gelernten Germanisten ein ziemlich unverständlicher Text, der gewissermaßen nach Erklärung schreit.

Awarakadawara muss man Österreichern nicht mehr vorstellen, Bundesdeutschen durchaus. Vermutlich auch Deutschschweizern und vielen Deutschsprechenden in der Diaspora, die – wie ich weiß – zu den besten Nutzern dieses Blogs gehören. Der Wiener Dialekt wird hierzulande noch halbwegs von den sog. Altbayern verstanden, aber schon in Franken gibt es eine ziemliche Verständnisbarriere, sodass derartige Titel von Rundfunksendern weitgehend ignoriert werden. Über die Verhältnisse in den Ländereien jenseits des Weißwurstäquators will ich erst gar keine Spekulationen anstellen… Nun fühle ich mich ja durchaus nicht zum Apostel des Neuen Wiener Liedes berufen und für diese Rolle auch nur sehr begrenzt qualifiziert, aber schließlich MUSS sich irgendeiner für solche Lieder in die Bresche schmeißen. Und wenn sich dafür nun mal kein Wiener findet, muss den Job eben ein in Oberfranken lebender Pfälzer erledigen, der immerhin einige Jahre lang Mitglied der Nestroy-Gesellschaft gewesen ist und (seiner Meinung nach) einen gewissen Sinn für schwarzen Schmäh mitbringt.

Obwohl „Awarakadawara“ also, wie oben betont, in Österreicher hinreichend bekannt ist, mangelt es eventuell selbst dort noch am Verständnis des Textes, denn merkwürdigerweise habe ich im Internet weder etwas Hilfreiches zu seiner Bedeutung noch der musikalischen Zuordnung finden können. Natürlich gibt es viele biographische Informationen zu den beteiligten Künstlern und begeisterte Kommentare in Hülle und Fülle, aber eben keine Interpretation, nicht einmal ansatzweise. Für jemanden, der einen Artikel für dieses Blog schreiben will, ist das eine ziemlich komfortable Ausgangslage, weil man sich auf unerforschtem Terrain bewegen kann! Aber auch für unsere schlauen LeserInnen dürfte diese Situation reizvoll sein, weil sie bestimmt noch dies & das wissen oder herausfinden werden, was meiner Deutung abgeht oder sogar widerspricht. Im Folgenden organisiere ich meine Interpretation nicht wie üblich als Erklärung der einzelnen Verse hübsch der Reihe nach, sondern gebe einen chronologischen Bericht meiner Annäherung an den Text. Zum Abschluss schiebe ich dann noch ein paar Bemerkungen zu den beteiligten Künstlern nach und versuche mich an einer musikalischen Verortung des Liedes.

Von Anfang an war mir klar, dass der Text dieses Songs nicht einfach ,für sich‘ zu sehen ist, sondern als integraler Teil der Musik verstanden werden muss, also selber einen Klangkörper darstellt. Das hört man sofort, denke ich jedenfalls. Außerdem ist diese Ansicht bei den meisten, vielleicht sogar allen Vertretern des Neuen Wiener Lieds  Konsens. Roland Neuwirth äußert sich im Kontext eines Bühnenauftrittes exemplarisch zu diesem Thema, vgl. seine Einleitung zu „Veranda“.  Auch Ernst Molden, der als Autor ja ursprünglich einmal vom Hochdeutschen hergekommen ist, hat in Interviews mehrfach und detailliert seine Wendung zum Wienerischen mit der spezifischen Musikalität dieses Dialekts begründet.  Dessen ungeachtet hat mich eingangs meiner Beschäftigung mit diesem Lied zunächst die Semantik einzelner Ausdrücke interessiert, beginnend mit der genauen Bedeutung des Begriffs „Hawara“, von dem ich nur eine unscharfe Vorstellung hatte.

Wörterbücher halfen schnell weiter; „H.“ (bair. „Haberer“) ist laut Österreichischem Wörterbuch ein ,Freund‘ bzw. ,Kumpel‘, in Altbayern würde man vielleicht „Spezl“ sagen. Eine Nebenbedeutung, die im Kontext unseres Liedes aber nicht in Frage kommt, wäre „Liebhaber“. War der Begriff im Jiddischen wie im traditionellen Wienerischen positiv besetzt, kamen im Gefolge diverser politischer Skandale in neuerer Zeit auch negative Konnotationen hinzu, so dass bei „H.“ auch an Vettern- oder Freundl-Wirtschaft gedacht werden kann. Die zweite Verszeile scheint allerdings gegen solche Konnotationen zu sprechen, so dass ich davon ausgehe, dass unsere Sprecherinstanz tatsächlich nach Freunden, Kumpeln bzw. Spezln Ausschau hält und diese in unguten Situationen schmerzlich vermisst.

Den titelgebenden Ausdruck „Awarakadawara“ habe ich – fürs erste – als Verballhornung der Zauberformel ,Abrakadabra‘ abgetan, was umso plausibler erschien, als in der dritten Zeile der ersten Strophe noch eine weitere klassische Zauberformel vorkommt: ,Hokuspokus fidibus‘. Vor dem Nachschlagen weiterer Dialektwörter konzentrierte ich mich dann aber zunächst einmal auf die Phrase „i foa mitn schwoazn Autobus“, weil ich hier ganz intuitiv den Knackpunkt für das Verständnis des gesamten Textes vermutete. Ein ,schwarzer Autobus‘ wirkte auf mich spontan ziemlich düster (nicht ,teuer‘ oder ,edel‘), aber beim Weiterlesen erkennt man, dass auch hier die alte Lebensweisheit gilt: ,Schlimmer geht immer!‘ Denn richtig grimmig wird die Situation offenkundig erst dann, wenn die Sprecherinstanz den Bus verlassen muss. Draußen prasselt nämlich der Regen, was eine deutliche Steigerung zum Schlechteren gegenüber der verhangenen Sonne zwei Verse zuvor darstellt. Auch die Reaktion des Ichs, das in diesem Moment nach seinen Kollegen fragt und sich diese herbeiwünscht, verrät, wie brenzlig die Lage ist.

Was aber hat man sich unter dem schwarzen Bus, der offenbar mehr bedeuten soll, als ein zufällig schwarz lackiertes Automobil,  vorzustellen? Die Hypothese ,Leichenwagen‘ scheint keine passende Idee, werden Leichen doch gemeinhin nicht in Bussen transportiert (obwohl ich Wienern im Prinzip auch einen solchen Funeral-Schmäh zutrauen würde!) und selbst wenn, würden sie später nicht mehr aussteigen, um sich im Regen zu erfrischen. Ich gebe hier nicht im Einzelnen wieder, was ich alles unternommen habe, um diesem rätselhaften Gefährt auf die Schliche zu kommen. Selbstverständlich habe ich die Streckenpläne der Wiener Verkehrsbetriebe daraufhin überprüft, ob es eine schwarze Linie gibt etc. etc. Dann stieß ich auf den Nachtbus …

Ich dachte schon, ich hätte die Nuss geknackt, als ich den ,Nachtbus‘ entdeckte, Ernst Moldens zweites Band-Kollektiv nach ,Teufel und der Rest der Götter‘. Die Bezeichnung „Kollegn“ – als Synonym für „Hawara“ – schien sich prima einzufügen, und die schwarze Farbe hätte sich mit dem Argument verteidigen lassen, dass bei Nacht nicht nur alle Katzen grau, sondern auch alle Busse schwarz sind. Aber irgendwie war ich von dieser Interpretation nicht richtig überzeugt. Warum muss die Sprecherinstanz im Regen raus? Um ein menschliches Bedürfnis zu stillen? Verdammt, dann würde wenigstens ich nicht meine Kollegen rufen! Wie sollten die dem Ich hilfreich zur Hand gehen? Es sollte eine bessere Deutung zu finden sein.

So grübelte ich eine Weile dahin, bis plötzlich die Erleuchtung kam. Die Fahrt mit dem Autobus muss (so schien es mir in diesem Augenblick jedenfalls; natürlich weiß ich, dass es beim Interpretationsgeschäft immer! Alternativen gibt) als Metapher für den menschlichen Lebensweg gesehen werden, der irgendwann einmal für jeden zu Ende ist. Der Bus ist ,schwarz‘, weil er seine Mitfahrer unweigerlich zum Grabe transportiert. (Insofern könnte man das menschliche Leben tatsächlich auch als metaphorischen ,Leichenwagen‘ verstehen.) Wer sein Ziel, d.h. die Station, für die man den Fahrschein gelöst hat, erreicht hat, der muss halt den vergleichsweise gemütlichen, trockenen Bus verlassen und aussteigen. Das ist kein schöner Moment, da schaut man sich schon nach Freunden und Beistand um. Mit dieser Deutung war ich zufrieden: sie besaß für mich die ,nötige Wucht‘, um den ganzen musikalischen Aufwand drum herum zu rechtfertigen. Wenn sich jetzt noch die weiteren Strophen sinnvoll einfügen ließen, wäre die Arbeit getan.

In der dritten Strophe lässt die Sprecherinstanz durchblicken, dass sie nicht zu den vom Schicksal verwöhnten Zeitgenossen gehört hat. Sie jammert ein bisschen über das schwere Päckchen, das ihr aufgebürdet ist, über viele unbequeme Nächte in der Gosse. Die Vorstellung eines  „Sandlers“ (Strawanzers, Streuners, vgl. hier) verdichtet sich, wenn er seinen Rausch bekennt und in diesem Zustand, offensichtlich ziemlich orientierungslos, den Mond sucht, vielleicht um ihn anzuheulen, wahrscheinlicher: um ,in den Mond zu gucken‘, was redensartlich ,zu kurz zu kommen‘ bedeutet bzw. ,das Nachsehen zu haben‘. Dieser Mensch hat nichts, was ihm Sicherheit gibt, außer seinen Kumpels. Ohne die kann er einfach nicht zurechtkommen.  Ernst Molden und seine Kollegen teilen bei ihrer Performance diese Verszeilen untereinander auf; das bringt nicht nur Abwechslung in den Vortrag, es passt auch inhaltlich: Beschrieben wird kein individuelles Schicksal, es sind die Erfahrungen eines jeden Mitglieds des Sandler-Kollektivs. Alle sind existenziell auf ihre „Hawara“ angewiesen und verlieren sie den Schutz der Gruppe, stehen sie mehr als wortwörtlich im Regen. In gewisser Weise hatte ich mich zunächst auf die Vorstellung eingeschossen, dass hier Szenen aus dem Sandler-Mileu geschildert werden. Beim späteren Nachdenken kam ich allerdings immer stärker zu der Überzeugung, dass das Sandler-Ich des Textes den Menschen schlechthin repräsentiert, der als soziales Wesen existenziell auf Artgenossen angewiesen ist und verzagt, wenn er haarigen Situationen alleine standhalten soll.

Neuen Text bringt dann noch einmal die sechste Strophe. Die Sprecherinstanz hat den Anschluss an ihre Gruppe verloren und die ganze Stadt Wien, exemplarisch repräsentiert durch vier Bezirks- bzw. Katastralgemeinden – Wieden (4. Gemeindebezirk), Breitenlee (Teil des 22. Bezirks), Dornbach (Teil des 17. Bezirks Hernals), Stadlau (Teil des 22. Bezirks) – nach seinen Hawaran abgesucht – leider vergeblich. Die Welt hat sich massiv eingetrübt. Die folgenden, von den inzwischen schon bekannten Zaubersprüchen garnierten Refrainzeilen, auf die das Ich fixiert ist, klingen jetzt ziemlich verzweifelt. Ich komme noch einmal auf diese Sprüche zurück. Welcher Art sind sie, transportieren sie im Kontext des gesamten Liedes neben ihrer suggestiven Klangwirkung, die bestimmt für einen Teil des Ohrwurm-Effekts verantwortlich ist, noch eine spezielle Bedeutung? Da ich kein gelernter Hexenmeister bin und meine magischen Kräfte gerade hinreichen, Mülleimer zu leeren, Eier zu kochen und gegebenenfalls zwei Seidl Bier ganz schnell hintereinander wegzuschlucken, ohne zu kleckern, war an dieser Stelle noch einmal mühevolle Recherche angesagt, die nach einigen Umwegen zu einem verwertbaren Ausgangspunkt führte.

Um noch einmal einen der – an sich interessanten – Umwege anzusprechen, die für die Deutung aber schlechterdings nichts bringen, sei Lord Voldemorts Todesfluch ,Avada Kedavra‘ erwähnt, der mit unserem „Awarakadawara“ den Ursprung ,Abrakadabra‘ gemein hat. Geolino weiß, dass ,Hokuspokus‘ auf eine pseudolateinische Neuschöpfung  des 17. Jahrhunderts zurückgeht, die die priesterliche Wandlungsformel bei der Eucharistie zu imitieren suchte. Ein Fidibus ist ein Holzspan oder Papierstreifen, mit dem man im Vorstreichholzzeitalter z.B. eine Pfeife anzünden konnte, die Hinzufügung zum alten Hokuspokus dürfte wahrscheinlich auf einen Studentenulk zurückgehen.  A-Bra-Ca-Dabra ruft hingegen als viel ältere, schon der Antike bekannte Zauberformel die ersten Buchstaben des lateinischen Alphabets auf. Da man mit Hilfe des Alphabets bekanntlich alle Dinge ansprechen kann, wurden ihm von Hexen und Zauberern gewaltige magische Kräfte zugeschrieben. Die Formel Abrakadabra setzte man, falls nicht von vornherein als Synonym für ,unsinniges Geschwätz‘ angesehen, bevorzugt als sog. ,Schwinde-Beschwörung‘ zum Wegzaubern böser oder missliebiger Dinge ein.

Die vorstehend skizzierte Befassung mit dem Kleinen Hexeneinmaleins brachte mich auf die Idee, mein eingerostetes Schullatein zu mobilisieren und auf  den Ausdruck „Awarakadawara“ anzuwenden. Die Umschreibung „avara cadavera“ (= gierige Leichen) war naheliegend und diese Bedeutung lässt sich auch in unseren Text integrieren. Der auf den Tod verängstigte, weil plötzlich von seinen Kumpels getrennte Sandler glaubt überall Leichen zu wittern, die es auf das Restchen Leben in ihm abgesehen haben. Ob sein „Awarakadwara“ nun als schlichte Feststellung einer erschreckenden Wahrnehmung verstanden werden soll oder als Anrede oder evtl. gar als Beschwörung im Sinne eines Schwindezaubers (die klassische Anwendung findet man auf dem Cover von ,BulldogTheMC Ft Steve Miller Band – Abracadabra‘), darf ich offenlassen; theoretisch kann sich der Sinn dieser Formel sogar während der vielfachen Wiederholungen im Laufe des Liedes verschieben – der gruselige Effekt bleibt auf alle Fälle gewahrt. Die nachfolgende Hokuspokus-Formel kann dann als versuchter Wandlungszauber verstanden werden. Ob der nun zu gelingen scheint, weil das Ich zunächst wieder im relativ sicheren Autobus sitzt, oder nicht, weil das Ende der Fahrt absehbar scheint, ist eine Frage eher optimistischer bzw. pessimistischer Interpretation. Die „Hawara“ bleiben jedenfalls bis zuletzt verschwunden. Nicht gut!  

Für mich ist es dreifach schwierig, etwas Vernünftiges zur musikalischen Struktur und Einordnung des Liedes zu sagen: erstens bin ich weder Musiker noch Musikwissenschaftler, zweitens kann ich mich keiner auch nur halbwegs aussagekräftigen Musikbeschreibung oder -kritik anschließen und drittens sind die beteiligten Musiker, speziell die beiden älteren der Gruppe, so breit aufgestellt, dass sich aus deren früheren Aktivitäten keine seriösen Eingrenzungen für eine Genrezuordnung von „Awarakadawara“ ableiten lassen. In den mir zugänglichen Interviews  finden sich öfter Aussagen zu einer Beeinflussung Moldens durch die amerikanischen Stilrichtungen Folk, Blues und Rock. Willi Resetarits, Burgenlandkroate, hat im Laufe seiner langen Karriere schon fast alles gespielt: Beat, Rock, Swing, Jazz, Country, Weltmusik usw. Fast hätte ich jetzt die kroatischen Chöre vergessen… Man sagt ihm die besondere Fähigkeit nach, Musiker unterschiedlichster Stilrichtungen zu integrieren, eine Kompetenz, die er sicher auch in die sog. ,Viererbande‘ mit Molden, Walther Soyka (Knopfharmonika) und Hannes Wirth (Gitarre) eingebracht hat. Alle vier Musiker haben ein besonderes Verhältnis zum Wiener Lied entwickelt, dessen Charakter sie alle möglichen musikalischen Stilrichtungen anverwandeln können. In diesem Zusammenhang darf zum Beispiel erwähnt werden, dass sich Walther Soyka seine ersten Sporen als Mitglied der ,Extremschrammeln‘ von Roland Neuwirth verdient hat.

In dieser schwierigen Situation fragt man natürlich ein wenig herum; und da man für einen kleinen Blog-Beitrag nicht alle Zeit der Welt hat, bei schnell erreichbaren Freunden, die ein wenig mehr von Musik verstehen als man selbst. Sehr schnell erreichte mich dankenswerterweise die Antwort von Reinhold, der sich die Akkorde zu dem Song angeschaut hat. Am besten zitiere ich auszugsweise seinen Kommentar: „Die Musik von Ernst Moldens Lied, gespielt mit Bass-Ukulele, Knopfharmonika, Gitarre, basiert für mich […] auf der Harmonie des Blues, die allerdings auch im normalen Popsong vorhanden sein kann. Die Tonart ist D-Moll – Moll ist die zentrale Tonempfindung des Blues – und arbeitet mit diminuierten, mit sus-Akkorden (suspendid) und (diatonischen) Septakkorden. Gerade letztere sind im Blues daheim. Die Harmonie ist: d-moll, A-dur, g-moll, C-dur, Fmaj (Septakkord), Bb, A7, E-dim7 (kleine Septe angefügt), und zum Schluss Asus4 (Dominant-Septakkord, bei dem die Terz durch die reine Quart ersetzt wird). Die Zählstruktur ist gut hörbar mit „ans, zwa, drei, vier“. Da erscheint der Grundzug des American Folk. Die erste Zeile des Liedes erinnert stark an einen Abzählreim von Kindern, auch wenn darin ,Kadaver‘ enthalten ist. Ich vermute einmal, dass der ,schwoaze Autobus‘ in diesen Kontext des Makaberen und der Historie gehört. Das Genre ,Pop‘ als Bezeichnung ist für mich durchaus angebracht.“

Ich erzählte das Ganze ein wenig später Tiho am Telefon und spielte ihm dazu den Titel kurz vor, worauf er meinte, er könnte da keinen Blues heraushören, sondern fühlte sich von dem gesamten Sound vielmehr an pannonische Musik erinnert, wie er sie beispielsweise schon von dem Geiger Toni Stricker gehört hätte und wie sie auch von berühmten Komponisten wie Schostakowitsch gelegentlich zitiert werde. Ich bin beiden Spuren, so gut ich konnte, ein Stück weit nachgegangen, habe mir ziemlich viele Musikvideos angehört und bin am Ende zu einem eigenen Vorschlag gekommen, der beide Hinweise zusammenführt: Wenn mir irgendein Sound bzw. Stil mit „Awarakadawara“ verwandt erscheint, dann das (in sich allerdings ausgesprochen variable) Genre „Gypsy-Jazz“ sowie diverse sich damit überschneidende Spielweisen solcher amerikanischer Klezmer-Gruppen, die sich noch ein wenig an ihre osteuropäischen Ursprünge erinnern. Allerdings muss man sich bei solchen Überlegungen immer vor Augen halten, wie die genannten Stile klingen würden, wenn sie tüchtig ,verwienert‘ werden …

Hokuspokus fidibus – mein Text ist fertig, ganz geschwindibus!

Hans-Peter Ecker, Bamberg