Ein interstellares Traumbesäufnis: Der „Uhudler Dudler“ von Roland Neuwirth und den Extremschrammeln (1994)

Roland Josef Leopold Neuwirth und die Extremschrammeln

Uhudler Dudler

Gestern tramt ma ehrlich,						1
Ein UFO groß und gfehrlich,
Is mitten in da Zeillergassn gland't.
Steigt aus ein grünes Manderl,
Und wachelt mit sein Handerl,						5
Und sagt: Heast Freind, i wirr da scho zwa Lichtjoahr ummanaund.
In unsera Galaxis, da föhlt uns hoid die Praxis,
Da wochst ka guades Tröpferl weit und breit.
Mei Durscht is mehr ois riesig,
I gib ka Rua, jetzt bis ich,						10
Ein Weinderl gfunden hob,
Noch dera trock'nen Zeit.
Da sog i glei:
Des siech i ei.
Hupf eine in dei Untertatserl,						15
Sauf ma auf an Wein.

Grüner Veltliner,
Gewürztraminer,
Oder a oida Riesling, a koida,
Und hinterdrau a, a Pinot Blanc a,					20
A Muskat Ottonel, den lass ma a net steh'.
Ein nicht zu süßer, ein Portugieser,
A Zweigelt no und a Roter Burgunder,
Und zum Schluß a Driewastrahra,
Der muaß a no her,							25
A Achterl Uhudler, sonst weiß ich leider,
Kein Weinderl mehr.
An Dudler für an Uhudler,
Wia dudeln ollas leer.
Ein Uhudler, was will der Mensch noch mehr.				30

Des Manderl, des schitt eine,
Die ganze guaten Weine.
Die Leit, die glaubm, sie spinnan und sie brülln
Mia seng normalerweise,
Im Vollrausch weiße Meise,						35
Jetzt seng ma goa scho Marsmenschen und de san grün.
Um zwöfe war'n wia praktisch,
Schon sehr intergalaktisch,
Quasi sternhoglvoi zuagschitt, olle zwa.
Da sogt des Manderl: Nicht woa,						40
Wia seng uns in zwa Lichtjoa,
Wann i dann lang gnua niacht woa,
Oba jetzt baba.
Und zischt davo,
Mit an Hallo.								45
Rasiert dabei zwa Rauchfäng ob
Und is a Punkt nua no.

Grüner Veltliner […]

     [Roland Josef Leopold Neuwirth und die Extremschrammeln: Essig & Öl. WEA 1994.]

Im Grunde habe ich mir dieses Lied für eine Besprechung ausgesucht, weil darin ein UFO vorkommt. Diese in aller Regel CO2-neutralen und damit dem politischen Mainstream entsprechenden Fahrzeuge stehen nämlich seit ein paar Wochen im Zentrum des globalen öffentlichen Interesses und müssen demzufolge auch in diesem Blog, das mindestens einen Finger immer am Puls der Zeit hat, ihren Niederschlag finden. Ich will nicht lange darüber spekulieren, wer oder was die aktuelle Faszination am interstellaren Reisen ausgelöst hat und warum das so ist: War es Elon Musk mit seiner Firma SpaceX, seinem Starlink-Projekt und seiner Idee einer Kolonisierung des Mars, war es die Star-Investorin Cathie Wood mit ihrem Gespür für disruptive Technologien, die 2021 ihr Portefeuille um den Sektor Raumfahrt erweitert hat, oder doch der kürzlich am Freaky Friday vorgelegte UFO-Bericht des Pentagons? Wie auch immer: als ich auf Roland Neuwirths gekonnt gedudeltes Uhudler-UFO gestoßen bin, begriff ich spontan, dass das kein Zufall sein konnte, sondern ein Wink des Schicksals.

Nun will ich um den mittelkleinen Schönheitsfehler, dass Neuwirths UFO nur ein geträumtes ist, nicht lange herumreden. Das ist – da sind sich alle UFO-Forscher einig – ganz klar ein Mangel unseres Textes. Ein Mangel an Mut zunächst gegenüber den mächtigen Traditionen und ungeschriebenen Gesetzen des Wiener Liedes, die UFOS weder kennen noch ästhetisch goutieren, ferner ein Mangel an Vertrauen in die Kraft der eigenen poetischen Imagination, die doch eigentlich in der Lage sein sollte, einem angedudelten Heurigen-Publikum interstellare Horizonte plausibel aufscheinen zu lassen. Besagter Schönheitsfehler würde als solcher vielleicht gar nicht auffallen, gäbe es nicht einschlägige Vorläufer im populären Liedgut, die UFOS als leibhaftige Entitäten außerhalb eines wie auch immer gemodelten Metaverses überzeugend beglaubigt haben. Exemplarisch erinnere ich nur an die von Wolle Kriwanek berichtete unheimliche Begegnung der schwäbischen Art („Guck guck i han a Ufo gsäha“), an den durchs All düsenden Liebesboten Codo (Interpretation hier) oder an den Fernreisenden Gerhard Gösebrecht.

Wurde mein Interesse an diesem Lied also anfänglich durch das UFO geweckt und durch den ,Sound‘ der Gesangsstimmen befeuert, richtete es sich doch bald auf die mir bislang unbekannten Titel-Stichwörter „Uhudler“ und „Dudler“, deren Erkundung mir ein lehrreiches Vergnügen verschafft hat, an dem ich nachfolgend die geschätzte Leserschaft teilhaben lassen möchte.      

Bei Dialektliedern sind am Anfang der Annäherung ja immer ein paar Ausdrücke zu klären, die man – als Milieu-Fremder – selber entweder gar nicht oder vielleicht hinsichtlich gewisser Nebenbedeutungen nicht richtig versteht bzw. bei denen man den geheimen Verdacht hegt, dass sie nicht jedem Menschen der geographisch weit gestreuten Leserschaft dieses Blogs geläufig sind. Bei vorliegendem ,Wiener Lied‘ (Nein, das ist jetzt kein Austropop, obwohl es in einem österreichischen Dialekt gesungen wird und Drogen thematisiert!) scheint mir die sprachliche Hürde für ,Reichsdeutsche‘ im Großen und Ganzen nicht allzu hoch, aber da täuscht man sich als südlich des Weißwurstäquators Geborener mit zusätzlichen, lebensgeschichtlich gewachsenen Verbindungen zum austriakischen Kulturkreis (durch Bergsteigerei, Sympathien für Nestroy und die Faszination für  Kaffeehäuser) leicht einmal gewaltig.

Allerdings enthält schon der Titel zwei Wörter, deren Bedeutung vielen Deutschen unbekannt sein dürfte. Zum „Uhudler“, einer burgenländischen Weinspezialität, zu der später noch mehr zu sagen sein wird, gibt es nicht einmal ein Stichwort in meinem Duden (23. Aufl.), zum „Dudler“ wohl schon, aber ohne Erläuterung der Bedeutung. Im Moment mag es hinreichen, auf den Doppelsinn letzteren Ausdrucks im Wienerischen hinzuweisen, der sich einerseits auf ein dem alpenländischen Jodeln verwandtes Element und Genre der Wiener Sangeskultur bezieht, das 2010 in die Liste des Immateriellen Kulturerbes Österreichs im Sinne der UNESCO aufgenommen worden ist, andererseits auf einen zünftigen Zechbruder, den man auch als ,Pichler‘, ,Süffel‘, Sumpfhuhn‘, ,Schluckspecht‘ oder ,Schnapsnase‘ zu bezeichnen pflegt.    

Vers 3 erwähnt die Zeillergasse als beliebte Haltebucht für Spacetaxis. Nachforschungen mit Hilfe eines Wiener Stadtplans führten mich schnell zur genaueren Lokalisierung dieser unweit der ,Vater-unser-Garage‘ (Pfarrkirche St. Joseph, Sandleiten) gelegenen, nach dem Juristen und Hofrat Franz Alois Edler von Zeiller (1751-1828), benannten Straße westlich des Mistplatzes (hochdeutsch: Recyclinghofs) Hernals, was m.E. für den Kontext des Liedes in mehrfacher Hinsicht Sinn macht, führt sie doch in ihrem Verlauf durstige Zweibeiner aus den zentralstädtischen Bezirken (bzw. von der Bahnstation Hernals) in die nordwestlichen Hügel- und Rebenbezirke der Donaumetropole und darüber hinaus auch gleich in eines der klassischen Zentren Wiener Liedguts (vgl. In einem kleinen Café in Hernals), nämlich das ehedem dem Weinbau innigst verbundene Örtchen Hernals. Dass die Friedhöfe von Hernals und Dornbach in der Nähe dieser Gasse liegen, ist nicht nur praktisch, falls bei UFO-Landungen einmal etwas schief gehen sollte, sondern auch eine atmosphärische Notwendigkeit, gehört Gevatter Tod zur rechten Wiener Gemütlichkeit doch unbedingt dazu!

Letztlich liegt die Zeillergasse auch noch ziemlich mittig zwischen den beiden Stadtteilen Hernals und Ottakring, in denen sich das Dudeln, jetzt musikalisch verstanden, einstens entwickelt hat, wie die einschlägige Laudatio der Österreichischen UNESCO-Kommission explizit festhält.

Das nächste und m.E. auch schon letzte ,schwierige‘ Wort findet sich in Zeile 24, der „Driewastrahra“ (wörtlich: Drüberstreuer). Die Rede ist hier von der Funktion des Uhudlers als ,Pfüatigottachterl‘ – hochdeutsch: ,Absacker‘ – das bei Anbruch der Sperrstunde bestellt oder dann getrunken wird, wenn man klugerweise mit dem Trinken aufhört, weil ,mit aller Gewalt nicht mehr in einen hineingeht‘. (Hier zitiere ich eine ebenso goldene wie eiserne Weintrinker-Regel aus meiner pfälzischen Heimat, die aber durchaus auch beim Genuss auswärtiger, sprich: österreichischer Sorgenbrecher mit Gewinn beherzigt werden darf!) Den schönen Ausdruck ,Pfütigottachterl‘, den ich noch nicht gekannt habe, verdanke ich übrigens einem österreichischen Gewährsmann, dem ich bei dieser Gelegenheit noch einmal öffentlich meine Reverenz erweise!

Nach diesen einleitenden Klärungen können wir den zur Rede stehenden Vorgang leicht nachvollziehen. Vers 1 erklärt alles nachfolgend berichtete als Traum, was mich – wie oben ausgeführt – ein wenig enttäuscht hat. So hätte ich mir von Herzen gewünscht, dass ein grünes Manderl von seinem Himmelsritt einen interstellaren „Durscht“ importiert und damit der europäischen Weinwirtschaft eine dauerhafte Hochkonjunktur verschafft hätte. Aber um den Traum kommen wir nicht herum, der Sänger lässt daran keinen Zweifel. So landet also ein bloß geträumtes UFO in einer geträumten Wiener Straße, ein geträumtes Männchen schifft aus und haut den nächstbesten Passanten an. Wie es der Zufall will, ist es unser Sänger, dem es sein drängendes Begehr offenbart, das sich nach zweilichtjähriger Irrfahrt durch interstellare Trockenräume zu dem plausiblen Wunsch verdichtet hat, möglichst rasch ein Weinderl zu verkasematuckeln. (Das letzte Wort muss nun vielleicht zur Abwechslung einmal den Wienern verdolmetscht werden: Ich denke, dass ,tschechern‘ so in etwa den Sinn treffen dürfte.) Auch dem Angesprochenen erscheint dieser Wunsch nachvollziehbar: „Da sog i glei, / Des siech i ei.“ Er ergreift spontan das Kommando – „Hupf eine in dei Untertatserl“ – und sofort geht’s los mit der Weinverkostung: „Grüner Veltliner, / Gewürtztraminer […]“ usw. usw.

Dem weder träumenden noch aus einer Weinverkostung entflohenen Kommentator kann nicht verborgen bleiben, dass zwischen dem – vermutlich gemeinsamen – Betreten der Untertasse und dem Auftischen diverser edler Tropfen gewisse narrative Passagen ausgefallen sind, über die man jetzt lange spekulieren könnte, wenn man nicht um die Lizenzen von Traumwelten bezüglich raumzeitlicher Abläufe wüsste. So unterstellen wir einfach, dass Sprecher und grünes Manderl mit ihrem Lufttaxi zu einem ansprechenden Wiener Beisl oder Heurigenlokal gedüst sind, dort auch schwuppdiwupp einen Gratis-Parkplatz sowie einen freien Tisch gefunden haben und sich nun ohne weitere Fisematenten (für Wiener: ohne Remassuri, bedeutet zwar etwas anderes, ist aber auch ein schönes Wort!) den edlen Tropfen des Hauses zuwenden können, als da sind:

Grüner Veltliner: Österreichische Nationalsorte, auch als Weißgipfler oder (früher als) Grüner Muskateller bekannt; hauptsächlich in Niederösterreich beheimatet und dort schon für das 16. Jahrhundert nachgewiesen. Die Sorte liefert gute Erträge und besticht bei angemessenem Ausbau durch ihre erstaunliche Gaumenfrische. (Österreichische Anbaufläche 2015: 14372 ha, zum Vergleich: Deutschland 24 ha, Südtirol 27 ha.)

Gewürztraminer: Sehr alte, gleichwohl hinsichtlich des Terroirs sehr anspruchsvolle Weißweinsorte mit ungeklärtem Ursprung. Der Name stammt aus Tramin (Südtirol, dort schon im 11. Jh. nachweisbar). Die Beeren dieser mutationsfreudigen Traube changieren zwischen gelblichen und rötlichen Tönen, aus denen viele Wein-Varianten erzeugt werden, wofür es zahlreiche Lokalbezeichnungen gibt. Der Gewürztraminer ergibt schwere, aromastarke Weine, gelegentlich mit Rosenduft-, in anderen Fällen mit Litschi-, Marzipan- oder auch Bitterorange-Akzenten. (Rebfläche in Österreich: 700 ha; zum Vergleich: Deutschland 936 ha, Elsass 3036 ha.)

Alter Riesling, „a koida“, also gut gekühlt: Sog. ,König der Weißweine‘, zu dem hier allenfalls anzumerken ist, dass er in der Wachau neben dem Grünen Veltliner die beliebteste Weißweinsorte darstellt. Das Attribut „alt“ könnte sich auf den Jahrgang beziehen, aber auch auf eine späte Lese, die dem Tröpfchen die Qualität höchster Reife bescheren würde. Über das „gut gekühlt“ ließe sich so manches erzählen, was hier aber zu weit führen würde. Bleiben wir der Einfachheit halber bei der alten Faustregel: je besser der Riesling, umso wärmer darf er sein. Vermutlich bietet das Heurigen-Beisel jetzt aber nicht die ganz großen Gewächse – da sollte man sich mit 8 Grad vor dem grünen Männchen nicht blamieren! Merke: „Wein kaltstellen ist auch irgendwie kochen!“

Pinot Blanc: Mutation des Grauen Burgunders, auch als ,Weißburgunder‘ bekannt; wird in Österreich auf gut 4% der Anbaufläche kultiviert. Da man diesen relativ dezenten Wein gerne zum Verschnitt verwendet, sind unsere durstigen Freunde sicher gut beraten, ihren Parforceritt durch die österreichische Rebenlandschaft mit Pinot Blanc abzufedern.

Muskat Ottonel: Früh reifende Weißweinsorte französischen Ursprungs mit stark wechselnden Erträgen; 1839 aus einer Kreuzung zwischen der uralten Traubensorte Gutedel und der englischen Rebe Ingram’s Muscat hervorgebracht. Mild schmeckend, vergleichsweise niedriger Alkoholgehalt, bei Spitzenprodukten feine Citrusnoten.  (Österreichische Rebfläche: 359 ha; zum Vergleich: Deutschland 12 ha, Rumänien 3641 ha.)

(Blauer) Portugieser: Hier vermutlich in halbtrockener Variante konsumiert – weich, vollmundig, fruchtbetont. Schade, dass sich unsere Protagonisten nicht dazu durchringen konnten, sich ein schönes Wildgericht dazu zu bestellen. Da alles sowieso im Traum passiert, hätte das mit dem Hasenbraten sicher geklappt!

Klar, dass am Zweigelt kein Weg vorbeiführen konnte, ist diese Neuzüchtung (1922) aus St. Laurent und Blaufränkisch inzwischen doch Österreichs am weitesten verbreitete Rotweinsorte.

Roter Burgunder: Referiert vermutlich auf eine Flüssigkeit, die in Österreich zumeist Blauburgunder, Blauer Spätburgunder oder schlicht Pinot Noir genannt wird, auf ca. 600 ha Fläche kultiviert wird (= 1,3 % der Gesamt-Weinbaufläche), die aber trotz gewisser Herausforderungen an Standorte und Kellerkompetenzen der Winzer im Kommen ist.

Als Absacker zum Schluss: Uhudler, vielleicht klugerweise lediglich in homöopathischer Dosis, weil beim Verzehr dieser Sorte immer die Gefahr im Raum steht, am nächsten Tag wie ein Uhu dreinzuschauen. So jedenfalls erklärt die Überlieferung den Namen dieses Cuvées aus diversen Ur-Rebsorten, mit der das Südburgenland – noch! – die Gaumen sehr spezieller Kenner erfreut.  Seine Geschichte geht bis in die Zeit der Reblaus-Krise des europäischen Weinbaus um 1860 zurück. Die Winzer reagierten seinerzeit, indem sie amerikanische reblausresistente mit traditionellen europäischen Sorten kreuzten, wobei zunächst in Kauf zu nehmen war, dass die sog. ,Direktträgerweine‘ ziemlich komisch schmeckten und ihnen zudem noch der Ruf anhaftete, wegen eines höheren Methanolgehalts gesundheitsschädlich zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts führte man dann das auch heute noch gebräuchliche Veredelungsverfahren ein, bei dem auf eine resistente Amerikanerrebe eine fruchttragende Europäerrebe aufgepfropft wurde.

Seit den späten 1930er Jahren kam es immer wieder zu zeitweisen Verboten bzw. unterschiedlichen Einschränkungen der Herstellung und Vermarktung des Uhudlers. Es würde hier zu weit führen, den spannenden Kampf pro und contra des Uhudlers nachzuerzählen, bei dem in den letzten Jahren insbesondere burgenländische Interessen und EU-Weingesetze kollidieren. Momentan darf das Getränk nach einem vorläufigen, bis 2030 geltenden Beschluss in 25 südburgenländischen Gemeinden verkauft werden. Wer tiefer in diese Materie eindringen möchte, sei auf die Homepage eines einschlägigen Freundeskreises verwiesen

Wie beim Uhudler handelt es sich auch beim Dudler um ein traditionelles österreichisches Kulturgut, allerdings um ein deutlich weniger existenzbedrohtes. Ganz im Gegenteil – wurde dem Wiener Dudler doch 2010durch seine Aufnahme in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich gewissermaßen Unsterblichkeit garantiert! Nur sehr ignorante Zeitgenossen, die m.E. absolut zu Recht als ,Piefkes‘ bezeichnet werden sollten, ganz gleich, ob sie einen deutschen, chinesischen oder auch österreichischen Pass mit sich herumtragen, würden den Wiener Dudler als Jodler bezeichnen und den Hirtenrufen von Gebirglern (,Almschroa‘) gleichsetzen, die damit über mehrere Talzüge hinweg verirrte Paarhufer auf die richtige Weide zurückführen.

Würdigen wir also den Dudler als urbanes Musikgenre, das seinen Platz in geschlossenen Räumen (z.B. Heurigen-Lokalen) hat und entsprechend weich intoniert wird, in der Regel von verschiedenen Instrumenten begleitet wird, auch mehrstimmig gesungen werden kann, über eine lange Geschichte bis tief ins 19. Jahrhundert hinein verfügt und sich in seinen virtuosen Varianten dem Koloraturgesang einer Opernarie annähert. Ausführlich befassen sich mit dem Dudler Fritz und Kretschmer in ihrer Abhandlung über die Musikgeschichte Wiens (vgl. S. 179 ff). An anderen Stellen werden in diesem Werk auch die engen Beziehungen zwischen Wiener Liedern und österreichischer Weinkultur erörtert und die Versuche der letzten Jahre geschildert, dem ein wenig verstaubten Genre durch Anleihen bei Jazz-, Blues- und Rock-Musik sowie satirisch-ironische Texte neue Impulse zu geben. Der Autor, Komponist, Sänger und Gitarrist Roland Neuwirth hat sich auf diesem Feld besonders hervorgetan, zumeist unterstützt von seinen ,Extremschrammeln‘ (Doris Windhager: Überstimme, Manfred Kammerhofer: Geige, Bernie Mallinger: Geige, Michael Radanovics: Geige, Marko Živadinović: Knopfharmonika).

Der Uhudler Dudler gilt heute als Klassiker des Neuen Wiener Liedes.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Elisabeth Th. Fritz und Helmut Kretschmer (Hg.): Wien. Musikgeschichte. Teil I: Volksmusik und Wienerlied. Wien 2006.

Homepage des Vereins der Freunde des Uhudler: http://www.uhudlerverein.at/

Interview mit Roland Neuwirth in der Kronen Zeitung vom 22.06.2020

Sandleiten. In: Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie.

Uhudler: Kurioser Wein aus Österreich, in: Weinfreunde Magazin (08.10.2020).

Ballade über die Schrecken des öffentlichen Nahverkehrs aus der Sicht eines für die gesamte Menschheit stehenden Wiener Sandlers: „Awarakadawara“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth

Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka, Hannes Wirth

Awarakadawara

Aans, zwaa, drei, vier …

Awarakadawara, wo san meine Hawara?
Wo san meine Freind, wann die Sonn net scheint?
Hokuspokus fidibus, i foa mitn schwoazn Autobus.
Wo san die Kollegn, wann i ausse muaß in' Regn?

Awarakadawara […]

I hob a schwers Pinkerl zum Trogn,
I schlof auf'd Nocht im Stroßngrobn.
I hob an Rausch und i suach den Mond,
I woat auf eich, so bin i's gwohnt.

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

I woa auf da Wiedn und in Bradenlee,
I woa ganz unt und in da Heh.
I woa in Dornbach und Stadlau,
Ka Spur von euch, wohin i schau.

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

Awarakadawara […]

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Yeah. Monkey 2017.]

Es passiert mir heute nicht mehr allzu oft, dass mich irgendetwas – sei es nun ein Sportereignis, eine Naturstimmung, ein Gedanke, ein Leberwurstbrot oder ein Lied – so sehr packt, dass ich sage „Yeah, das isses!“ Bei Awarakadawara (sinnigerweise 2017 auf einem Album namens „Yeah“ veröffentlicht) ist das kürzlich aber tatsächlich so passiert. Das letzte Mal hatte ich, meiner vagen Erinnerung nach, dieses Gefühl 2015, als mir Ham kummst von Seiler & Speer (Interpretation hier) begegnet ist. Nun wieder ein packender Sound mit Ohrwurmqualität, wieder aus Österreich. Präsentiert von vier Künstlern, die nicht nur technische Kompetenz, sondern auch eine perfekte Harmonie ausstrahlen, und obendrein noch als i-Tüpfelchen für den gelernten Germanisten ein ziemlich unverständlicher Text, der gewissermaßen nach Erklärung schreit.

Awarakadawara muss man Österreichern nicht mehr vorstellen, Bundesdeutschen durchaus. Vermutlich auch Deutschschweizern und vielen Deutschsprechenden in der Diaspora, die – wie ich weiß – zu den besten Nutzern dieses Blogs gehören. Der Wiener Dialekt wird hierzulande noch halbwegs von den sog. Altbayern verstanden, aber schon in Franken gibt es eine ziemliche Verständnisbarriere, sodass derartige Titel von Rundfunksendern weitgehend ignoriert werden. Über die Verhältnisse in den Ländereien jenseits des Weißwurstäquators will ich erst gar keine Spekulationen anstellen… Nun fühle ich mich ja durchaus nicht zum Apostel des Neuen Wiener Liedes berufen und für diese Rolle auch nur sehr begrenzt qualifiziert, aber schließlich MUSS sich irgendeiner für solche Lieder in die Bresche schmeißen. Und wenn sich dafür nun mal kein Wiener findet, muss den Job eben ein in Oberfranken lebender Pfälzer erledigen, der immerhin einige Jahre lang Mitglied der Nestroy-Gesellschaft gewesen ist und (seiner Meinung nach) einen gewissen Sinn für schwarzen Schmäh mitbringt.

Obwohl „Awarakadawara“ also, wie oben betont, in Österreicher hinreichend bekannt ist, mangelt es eventuell selbst dort noch am Verständnis des Textes, denn merkwürdigerweise habe ich im Internet weder etwas Hilfreiches zu seiner Bedeutung noch der musikalischen Zuordnung finden können. Natürlich gibt es viele biographische Informationen zu den beteiligten Künstlern und begeisterte Kommentare in Hülle und Fülle, aber eben keine Interpretation, nicht einmal ansatzweise. Für jemanden, der einen Artikel für dieses Blog schreiben will, ist das eine ziemlich komfortable Ausgangslage, weil man sich auf unerforschtem Terrain bewegen kann! Aber auch für unsere schlauen LeserInnen dürfte diese Situation reizvoll sein, weil sie bestimmt noch dies & das wissen oder herausfinden werden, was meiner Deutung abgeht oder sogar widerspricht. Im Folgenden organisiere ich meine Interpretation nicht wie üblich als Erklärung der einzelnen Verse hübsch der Reihe nach, sondern gebe einen chronologischen Bericht meiner Annäherung an den Text. Zum Abschluss schiebe ich dann noch ein paar Bemerkungen zu den beteiligten Künstlern nach und versuche mich an einer musikalischen Verortung des Liedes.

Von Anfang an war mir klar, dass der Text dieses Songs nicht einfach ,für sich‘ zu sehen ist, sondern als integraler Teil der Musik verstanden werden muss, also selber einen Klangkörper darstellt. Das hört man sofort, denke ich jedenfalls. Außerdem ist diese Ansicht bei den meisten, vielleicht sogar allen Vertretern des Neuen Wiener Lieds  Konsens. Roland Neuwirth äußert sich im Kontext eines Bühnenauftrittes exemplarisch zu diesem Thema, vgl. seine Einleitung zu „Veranda“.  Auch Ernst Molden, der als Autor ja ursprünglich einmal vom Hochdeutschen hergekommen ist, hat in Interviews mehrfach und detailliert seine Wendung zum Wienerischen mit der spezifischen Musikalität dieses Dialekts begründet.  Dessen ungeachtet hat mich eingangs meiner Beschäftigung mit diesem Lied zunächst die Semantik einzelner Ausdrücke interessiert, beginnend mit der genauen Bedeutung des Begriffs „Hawara“, von dem ich nur eine unscharfe Vorstellung hatte.

Wörterbücher halfen schnell weiter; „H.“ (bair. „Haberer“) ist laut Österreichischem Wörterbuch ein ,Freund‘ bzw. ,Kumpel‘, in Altbayern würde man vielleicht „Spezl“ sagen. Eine Nebenbedeutung, die im Kontext unseres Liedes aber nicht in Frage kommt, wäre „Liebhaber“. War der Begriff im Jiddischen wie im traditionellen Wienerischen positiv besetzt, kamen im Gefolge diverser politischer Skandale in neuerer Zeit auch negative Konnotationen hinzu, so dass bei „H.“ auch an Vettern- oder Freundl-Wirtschaft gedacht werden kann. Die zweite Verszeile scheint allerdings gegen solche Konnotationen zu sprechen, so dass ich davon ausgehe, dass unsere Sprecherinstanz tatsächlich nach Freunden, Kumpeln bzw. Spezln Ausschau hält und diese in unguten Situationen schmerzlich vermisst.

Den titelgebenden Ausdruck „Awarakadawara“ habe ich – fürs erste – als Verballhornung der Zauberformel ,Abrakadabra‘ abgetan, was umso plausibler erschien, als in der dritten Zeile der ersten Strophe noch eine weitere klassische Zauberformel vorkommt: ,Hokuspokus fidibus‘. Vor dem Nachschlagen weiterer Dialektwörter konzentrierte ich mich dann aber zunächst einmal auf die Phrase „i foa mitn schwoazn Autobus“, weil ich hier ganz intuitiv den Knackpunkt für das Verständnis des gesamten Textes vermutete. Ein ,schwarzer Autobus‘ wirkte auf mich spontan ziemlich düster (nicht ,teuer‘ oder ,edel‘), aber beim Weiterlesen erkennt man, dass auch hier die alte Lebensweisheit gilt: ,Schlimmer geht immer!‘ Denn richtig grimmig wird die Situation offenkundig erst dann, wenn die Sprecherinstanz den Bus verlassen muss. Draußen prasselt nämlich der Regen, was eine deutliche Steigerung zum Schlechteren gegenüber der verhangenen Sonne zwei Verse zuvor darstellt. Auch die Reaktion des Ichs, das in diesem Moment nach seinen Kollegen fragt und sich diese herbeiwünscht, verrät, wie brenzlig die Lage ist.

Was aber hat man sich unter dem schwarzen Bus, der offenbar mehr bedeuten soll, als ein zufällig schwarz lackiertes Automobil,  vorzustellen? Die Hypothese ,Leichenwagen‘ scheint keine passende Idee, werden Leichen doch gemeinhin nicht in Bussen transportiert (obwohl ich Wienern im Prinzip auch einen solchen Funeral-Schmäh zutrauen würde!) und selbst wenn, würden sie später nicht mehr aussteigen, um sich im Regen zu erfrischen. Ich gebe hier nicht im Einzelnen wieder, was ich alles unternommen habe, um diesem rätselhaften Gefährt auf die Schliche zu kommen. Selbstverständlich habe ich die Streckenpläne der Wiener Verkehrsbetriebe daraufhin überprüft, ob es eine schwarze Linie gibt etc. etc. Dann stieß ich auf den Nachtbus …

Ich dachte schon, ich hätte die Nuss geknackt, als ich den ,Nachtbus‘ entdeckte, Ernst Moldens zweites Band-Kollektiv nach ,Teufel und der Rest der Götter‘. Die Bezeichnung „Kollegn“ – als Synonym für „Hawara“ – schien sich prima einzufügen, und die schwarze Farbe hätte sich mit dem Argument verteidigen lassen, dass bei Nacht nicht nur alle Katzen grau, sondern auch alle Busse schwarz sind. Aber irgendwie war ich von dieser Interpretation nicht richtig überzeugt. Warum muss die Sprecherinstanz im Regen raus? Um ein menschliches Bedürfnis zu stillen? Verdammt, dann würde wenigstens ich nicht meine Kollegen rufen! Wie sollten die dem Ich hilfreich zur Hand gehen? Es sollte eine bessere Deutung zu finden sein.

So grübelte ich eine Weile dahin, bis plötzlich die Erleuchtung kam. Die Fahrt mit dem Autobus muss (so schien es mir in diesem Augenblick jedenfalls; natürlich weiß ich, dass es beim Interpretationsgeschäft immer! Alternativen gibt) als Metapher für den menschlichen Lebensweg gesehen werden, der irgendwann einmal für jeden zu Ende ist. Der Bus ist ,schwarz‘, weil er seine Mitfahrer unweigerlich zum Grabe transportiert. (Insofern könnte man das menschliche Leben tatsächlich auch als metaphorischen ,Leichenwagen‘ verstehen.) Wer sein Ziel, d.h. die Station, für die man den Fahrschein gelöst hat, erreicht hat, der muss halt den vergleichsweise gemütlichen, trockenen Bus verlassen und aussteigen. Das ist kein schöner Moment, da schaut man sich schon nach Freunden und Beistand um. Mit dieser Deutung war ich zufrieden: sie besaß für mich die ,nötige Wucht‘, um den ganzen musikalischen Aufwand drum herum zu rechtfertigen. Wenn sich jetzt noch die weiteren Strophen sinnvoll einfügen ließen, wäre die Arbeit getan.

In der dritten Strophe lässt die Sprecherinstanz durchblicken, dass sie nicht zu den vom Schicksal verwöhnten Zeitgenossen gehört hat. Sie jammert ein bisschen über das schwere Päckchen, das ihr aufgebürdet ist, über viele unbequeme Nächte in der Gosse. Die Vorstellung eines  „Sandlers“ (Strawanzers, Streuners, vgl. hier) verdichtet sich, wenn er seinen Rausch bekennt und in diesem Zustand, offensichtlich ziemlich orientierungslos, den Mond sucht, vielleicht um ihn anzuheulen, wahrscheinlicher: um ,in den Mond zu gucken‘, was redensartlich ,zu kurz zu kommen‘ bedeutet bzw. ,das Nachsehen zu haben‘. Dieser Mensch hat nichts, was ihm Sicherheit gibt, außer seinen Kumpels. Ohne die kann er einfach nicht zurechtkommen.  Ernst Molden und seine Kollegen teilen bei ihrer Performance diese Verszeilen untereinander auf; das bringt nicht nur Abwechslung in den Vortrag, es passt auch inhaltlich: Beschrieben wird kein individuelles Schicksal, es sind die Erfahrungen eines jeden Mitglieds des Sandler-Kollektivs. Alle sind existenziell auf ihre „Hawara“ angewiesen und verlieren sie den Schutz der Gruppe, stehen sie mehr als wortwörtlich im Regen. In gewisser Weise hatte ich mich zunächst auf die Vorstellung eingeschossen, dass hier Szenen aus dem Sandler-Mileu geschildert werden. Beim späteren Nachdenken kam ich allerdings immer stärker zu der Überzeugung, dass das Sandler-Ich des Textes den Menschen schlechthin repräsentiert, der als soziales Wesen existenziell auf Artgenossen angewiesen ist und verzagt, wenn er haarigen Situationen alleine standhalten soll.

Neuen Text bringt dann noch einmal die sechste Strophe. Die Sprecherinstanz hat den Anschluss an ihre Gruppe verloren und die ganze Stadt Wien, exemplarisch repräsentiert durch vier Bezirks- bzw. Katastralgemeinden – Wieden (4. Gemeindebezirk), Breitenlee (Teil des 22. Bezirks), Dornbach (Teil des 17. Bezirks Hernals), Stadlau (Teil des 22. Bezirks) – nach seinen Hawaran abgesucht – leider vergeblich. Die Welt hat sich massiv eingetrübt. Die folgenden, von den inzwischen schon bekannten Zaubersprüchen garnierten Refrainzeilen, auf die das Ich fixiert ist, klingen jetzt ziemlich verzweifelt. Ich komme noch einmal auf diese Sprüche zurück. Welcher Art sind sie, transportieren sie im Kontext des gesamten Liedes neben ihrer suggestiven Klangwirkung, die bestimmt für einen Teil des Ohrwurm-Effekts verantwortlich ist, noch eine spezielle Bedeutung? Da ich kein gelernter Hexenmeister bin und meine magischen Kräfte gerade hinreichen, Mülleimer zu leeren, Eier zu kochen und gegebenenfalls zwei Seidl Bier ganz schnell hintereinander wegzuschlucken, ohne zu kleckern, war an dieser Stelle noch einmal mühevolle Recherche angesagt, die nach einigen Umwegen zu einem verwertbaren Ausgangspunkt führte.

Um noch einmal einen der – an sich interessanten – Umwege anzusprechen, die für die Deutung aber schlechterdings nichts bringen, sei Lord Voldemorts Todesfluch ,Avada Kedavra‘ erwähnt, der mit unserem „Awarakadawara“ den Ursprung ,Abrakadabra‘ gemein hat. Geolino weiß, dass ,Hokuspokus‘ auf eine pseudolateinische Neuschöpfung  des 17. Jahrhunderts zurückgeht, die die priesterliche Wandlungsformel bei der Eucharistie zu imitieren suchte. Ein Fidibus ist ein Holzspan oder Papierstreifen, mit dem man im Vorstreichholzzeitalter z.B. eine Pfeife anzünden konnte, die Hinzufügung zum alten Hokuspokus dürfte wahrscheinlich auf einen Studentenulk zurückgehen.  A-Bra-Ca-Dabra ruft hingegen als viel ältere, schon der Antike bekannte Zauberformel die ersten Buchstaben des lateinischen Alphabets auf. Da man mit Hilfe des Alphabets bekanntlich alle Dinge ansprechen kann, wurden ihm von Hexen und Zauberern gewaltige magische Kräfte zugeschrieben. Die Formel Abrakadabra setzte man, falls nicht von vornherein als Synonym für ,unsinniges Geschwätz‘ angesehen, bevorzugt als sog. ,Schwinde-Beschwörung‘ zum Wegzaubern böser oder missliebiger Dinge ein.

Die vorstehend skizzierte Befassung mit dem Kleinen Hexeneinmaleins brachte mich auf die Idee, mein eingerostetes Schullatein zu mobilisieren und auf  den Ausdruck „Awarakadawara“ anzuwenden. Die Umschreibung „avara cadavera“ (= gierige Leichen) war naheliegend und diese Bedeutung lässt sich auch in unseren Text integrieren. Der auf den Tod verängstigte, weil plötzlich von seinen Kumpels getrennte Sandler glaubt überall Leichen zu wittern, die es auf das Restchen Leben in ihm abgesehen haben. Ob sein „Awarakadwara“ nun als schlichte Feststellung einer erschreckenden Wahrnehmung verstanden werden soll oder als Anrede oder evtl. gar als Beschwörung im Sinne eines Schwindezaubers (die klassische Anwendung findet man auf dem Cover von ,BulldogTheMC Ft Steve Miller Band – Abracadabra‘), darf ich offenlassen; theoretisch kann sich der Sinn dieser Formel sogar während der vielfachen Wiederholungen im Laufe des Liedes verschieben – der gruselige Effekt bleibt auf alle Fälle gewahrt. Die nachfolgende Hokuspokus-Formel kann dann als versuchter Wandlungszauber verstanden werden. Ob der nun zu gelingen scheint, weil das Ich zunächst wieder im relativ sicheren Autobus sitzt, oder nicht, weil das Ende der Fahrt absehbar scheint, ist eine Frage eher optimistischer bzw. pessimistischer Interpretation. Die „Hawara“ bleiben jedenfalls bis zuletzt verschwunden. Nicht gut!  

Für mich ist es dreifach schwierig, etwas Vernünftiges zur musikalischen Struktur und Einordnung des Liedes zu sagen: erstens bin ich weder Musiker noch Musikwissenschaftler, zweitens kann ich mich keiner auch nur halbwegs aussagekräftigen Musikbeschreibung oder -kritik anschließen und drittens sind die beteiligten Musiker, speziell die beiden älteren der Gruppe, so breit aufgestellt, dass sich aus deren früheren Aktivitäten keine seriösen Eingrenzungen für eine Genrezuordnung von „Awarakadawara“ ableiten lassen. In den mir zugänglichen Interviews  finden sich öfter Aussagen zu einer Beeinflussung Moldens durch die amerikanischen Stilrichtungen Folk, Blues und Rock. Willi Resetarits, Burgenlandkroate, hat im Laufe seiner langen Karriere schon fast alles gespielt: Beat, Rock, Swing, Jazz, Country, Weltmusik usw. Fast hätte ich jetzt die kroatischen Chöre vergessen… Man sagt ihm die besondere Fähigkeit nach, Musiker unterschiedlichster Stilrichtungen zu integrieren, eine Kompetenz, die er sicher auch in die sog. ,Viererbande‘ mit Molden, Walther Soyka (Knopfharmonika) und Hannes Wirth (Gitarre) eingebracht hat. Alle vier Musiker haben ein besonderes Verhältnis zum Wiener Lied entwickelt, dessen Charakter sie alle möglichen musikalischen Stilrichtungen anverwandeln können. In diesem Zusammenhang darf zum Beispiel erwähnt werden, dass sich Walther Soyka seine ersten Sporen als Mitglied der ,Extremschrammeln‘ von Roland Neuwirth verdient hat.

In dieser schwierigen Situation fragt man natürlich ein wenig herum; und da man für einen kleinen Blog-Beitrag nicht alle Zeit der Welt hat, bei schnell erreichbaren Freunden, die ein wenig mehr von Musik verstehen als man selbst. Sehr schnell erreichte mich dankenswerterweise die Antwort von Reinhold, der sich die Akkorde zu dem Song angeschaut hat. Am besten zitiere ich auszugsweise seinen Kommentar: „Die Musik von Ernst Moldens Lied, gespielt mit Bass-Ukulele, Knopfharmonika, Gitarre, basiert für mich […] auf der Harmonie des Blues, die allerdings auch im normalen Popsong vorhanden sein kann. Die Tonart ist D-Moll – Moll ist die zentrale Tonempfindung des Blues – und arbeitet mit diminuierten, mit sus-Akkorden (suspendid) und (diatonischen) Septakkorden. Gerade letztere sind im Blues daheim. Die Harmonie ist: d-moll, A-dur, g-moll, C-dur, Fmaj (Septakkord), Bb, A7, E-dim7 (kleine Septe angefügt), und zum Schluss Asus4 (Dominant-Septakkord, bei dem die Terz durch die reine Quart ersetzt wird). Die Zählstruktur ist gut hörbar mit „ans, zwa, drei, vier“. Da erscheint der Grundzug des American Folk. Die erste Zeile des Liedes erinnert stark an einen Abzählreim von Kindern, auch wenn darin ,Kadaver‘ enthalten ist. Ich vermute einmal, dass der ,schwoaze Autobus‘ in diesen Kontext des Makaberen und der Historie gehört. Das Genre ,Pop‘ als Bezeichnung ist für mich durchaus angebracht.“

Ich erzählte das Ganze ein wenig später Tiho am Telefon und spielte ihm dazu den Titel kurz vor, worauf er meinte, er könnte da keinen Blues heraushören, sondern fühlte sich von dem gesamten Sound vielmehr an pannonische Musik erinnert, wie er sie beispielsweise schon von dem Geiger Toni Stricker gehört hätte und wie sie auch von berühmten Komponisten wie Schostakowitsch gelegentlich zitiert werde. Ich bin beiden Spuren, so gut ich konnte, ein Stück weit nachgegangen, habe mir ziemlich viele Musikvideos angehört und bin am Ende zu einem eigenen Vorschlag gekommen, der beide Hinweise zusammenführt: Wenn mir irgendein Sound bzw. Stil mit „Awarakadawara“ verwandt erscheint, dann das (in sich allerdings ausgesprochen variable) Genre „Gypsy-Jazz“ sowie diverse sich damit überschneidende Spielweisen solcher amerikanischer Klezmer-Gruppen, die sich noch ein wenig an ihre osteuropäischen Ursprünge erinnern. Allerdings muss man sich bei solchen Überlegungen immer vor Augen halten, wie die genannten Stile klingen würden, wenn sie tüchtig ,verwienert‘ werden …

Hokuspokus fidibus – mein Text ist fertig, ganz geschwindibus!

Hans-Peter Ecker, Bamberg