Weiter, immer weiter. Zu Tim Bendzkos „Hoch“

Tim Bendzko

Hoch

Die Leute fragen: Wie viel Extrameter gehst du?
Ich fang erst an zu zählen, wenn es wehtut
Fehler prägen mich, mach mehr als genug
Bin zu müde für Pausen, komm nicht dazu
Und wenn ich glaube meine Beine sind zu schwer
Dann geh ich nochmal tausend Schritte mehr

Auch wenn wir schon weit gekommen sind
Wir gehen immer weiter – hoch hinaus
Egal wie hoch die Hürden auch sind
Sie sehen so viel kleiner von hier oben aus
Wenn dir die Luft ausgeht
Nur nicht nach unten sehen
Wir gehen immer weiter – hoch hinaus
Immer, immer weiter – hoch hinaus

Kann das nächste Level nicht erwarten
Auch wenn ich dann wieder keinen Schlaf krieg
Meine Ausreden sind hartnäckig
Aber aufgeben darf ich nicht
Manchmal löst ein Abgrund in mir Angst aus
Ich geh nicht zurück, ich nehm‘ nur Anlauf

Auch wenn wir schon weit gekommen sind […]

Auch wenn wir schon weit gekommen sind […]

[Tim Bendzko: Filter. Jive Germany/Sony 2019.]

Der massentaugliche Deutschpop hat in den letzten Jahren verstärkt positive „Motivationslieder“ für sich entdeckt. Mit einer Up-Beat-Stimmung, flott gesungen und radiotauglich wird darin eine wenig reflektierte Haltung des positiv-Denkens und immer Weitermachens propagiert. An anderer Stelle habe ich bereits den Liedtext eines ähnlich aufgebauten Liedes von Mark Forster vorgestellt, der als einzige Emotion Zufriedenheit zu akzeptieren scheint.

Tim Bendzko hat im hier besprochenen Lied eine etwas andere Schwerpunktsetzung, die zwar nicht, wie in Forsters Fall, nur Zufriedenheit zulässt, aber auf ähnliche Weise Aufgeben, Umdrehen oder Aufhören nicht akzeptiert. Hierbei stellt das Sprecher-Ich seine Gedankenwelt vor, die, würde ich sagen, sehr problematisch ist. Egal wie, geht es geht für die das Ich immer weiter, ja muss es weiter gehen. Was genau das Ziel oder avisierte Ergebnis ist, lässt der Song offen, vielleicht auch um möglichst viel Projektionsfläche für Rezipientinnen und Rezipienten zu schaffen. Geht man von den YouTube-Kommentaren unter Bendzkos Lied aus, sind viele davon Jugendliche, die vielleicht in Zeiten der Unsicherheit eine solche Projektionsfläche besonders dankend annehmen.

In Interviews lässt Benzdko selber das Ziel ebenfalls komplett offen und geht nicht näher darauf ein, was das Sprecher-Ich erreichen will: “Hoch ist für mich ein reiner Motivationssong. Ich habe mir beim Schreiben einfach vorgestellt, dass jemand kurz davor ist, sich einen großen Traum zu erfüllen, ein großes Ziel zu erreichen, aber kurz vor Schluss kurz davor ist aufzugeben. Dieser Song soll dazu motivieren, auch diese letzten Meter noch zu gehen.“ (www.n-joy.de) Es geht also letztlich um ein beliebiges Ziel, das aber anscheinend nicht leicht zu erreichen ist.

Der Text enthält dabei einige Passagen, die auf ein starrsinniges Festhalten am Erreichen dieses Wunsches hindeuten. Offensichtlich macht sich das Sprecher-Ich nicht nur selber viel Druck, sondern bereits in der ersten Zeile des Liedes wird auf „die Leute“ verwiesen, die fragen, wie viel Extrameter das Sprecher-Ich gehe. Diesen ‚Leuten‘, man könnte wohl auch ‚Gesellschaft‘ substituieren, will das Sprecher-Ich beweisen, wie weit es gehen kann. Gefolgt wird dieser Wunsch nach Bestätigung von außen vom ebenfalls problematischen Vers „Ich fang erst an zu zählen, wenn es wehtut“. Sinnvoller scheint es wohl, sich, wenn es wehtut, Gedanken über das Ziel zu machen, zu reflektieren, ob der Schmerz letztlich dem Ergebnis angemessen ist, oder ob ein Umdenken angebracht ist.

Diese körperliche Erschöpfung wird im vierten Vers des Textes nochmal aufgegriffen: „bin zu müde für Pausen, komm nicht dazu“. In der zweiten Strophe wird das Thema der Müdigkeitdann nochmals angeschnitten: „Kann das nächste Level nicht erwarten / Auch wenn ich dann wieder keinen Schlaf krieg“. Schlaflos und unter Schmerzen geht es für das Sprecher-Ich weiter.  

Der Druck, den das Sprecher-Ich fühlt, zieht sich ebenfalls durch das ganze Lied. Strophe zwei endet mit dem Kommentar „aufgeben darf ich nicht“. Warum das Sprecher-Ich nicht aufgeben darf, bleibt im Liedtext unklar. Geht es um die eigenen Ansprüche des Sprecher-Ichs? Oder geht es auch hier wieder um die eingangs erwähnten „Leute“? So oder so ist die Feststellung, dass man nicht aufgeben dürfe, höchst problematisch. Aufhören, zumal unter körperlichen Schmerzen und geistiger Belastung, ist völlig in Ordnung.

Der Refrain beschreibt das Erfüllen der Aufgabe als eine Art Aufstieg. Die Verse, z.B. „Wenn dir die Luft ausgeht, nur nicht nach unten sehen“, erinnern dabei an das Erklettern eines Berges. In diesem Kontext und zu der hier vorgeschlagenen kritischen Interpretation des Liedtextes passend erinnert das Ausgehen der Luft aber vor allem an die immer häufiger werdenden Fälle von Personen, die schlecht vorbereitet einen Berg erklimmen wollen und dabei tragisch zu Tode kommen. Dort, wie im Liedtext, wäre das kritische Hinterfragen der Ziele durchaus sinnvoll. Auf ähnliche Weise wird die Angst ausgeblendet, wenn das Sprecher-Ich kommentiert: „Manchmal löst ein Abgrund in mir Angst aus / Ich geh nicht zurück, ich nehm‘ nur Anlauf“.  

Liest man den Text auf diese Weise als die Selbstcharakterisierung eines Menschen, der eigentlich mit den gesellschaftlichen Anforderungen und selbstgesteckten Zielen überfordert ist, drängen sich auch weitere Bedeutungsebenen auf; besonders die Thematik des Laufens, Hochsteigens und Erkletterns als ein Gegensatz zu innerer Ruhe und Pause erscheint metaphorisch für eine zunehmend beschleunigte Gesellschaft. So kann der Liedtext auch als Ausdruck einer rastlos-materialistischen Gesellschaft interpretiert werden, in der es darum geht, ruhelos immer weiter zu machen und in jederlei Hinsicht zu „performen“. Durchhalteparolen werden in diesem Kontext zu reinen Floskeln, die nur dazu dienen, Personen weiterhin in dem System zu halten.   

Einen auffälligen Kontrast dazu bietet – das sei nur am Rande erwähnt – das Musikvideo, das eben nicht das Erklimmen eines Berges oder sture Vorwärtsgehen zeigt, sondern tanzende Menschen, die, einem kultisch-religiös anmutendem Ritual folgend, in eine Art farbenfrohe Ekstase verfallen, was schließlich zu einer anderen Art des „Aufsteigens“ führt, das durch das in die Luft Schweben einiger Personen dargestellt ist und möglicherweise als eine Anspielung auf „Out-of-Body Experiences“ verstanden werden kann. Doch bezeichnenderweise bewegen sich die Leute im Video nicht nur nach vorne, sondern tanzen – eine Bewegungsabfolge, die grundsätzlich alle Richtungen beinhalten kann.   

Bendzko selber hat die Möglichkeit der hier vorgeschlagenen Interpretation des Liedtextes wohl erkannt und deshalb klargestellt: „Es geht nicht darum, immer mehr zu wollen, sondern es ist eher ein Aufruf, auf den letzten Metern nicht aufzugeben und über seinen Schatten zu springen“ (www.n-joy.de). Entgegen dieser Einlassung des Autors macht das Sprecher-Ich aber nicht den Eindruck, dass es in seinem ängstlichen, übermüdeten, schmerzgeplagten Zustand, der von gesellschaftlichen Erwartungen zumindest noch verstärkt wird, tatsächlich vom eigenen Ziel überzeugt ist. Sogar das Sprecher-Ich selbst hat Zweifel und spricht in Vers drei der ersten Strophe von Fehlern, die es macht. Manchmal ist es eben besser, zu versuchen sich von den gesellschaftlich konstruierten negativen Konnotationen über das Aufgeben frei zu machen und fröhlich die Flinte ins Korn zu werfen.   

Martin Christ, Erfurt

Mieses Zeitmanagement – Tim Bendzkos „Nur noch kurz die Welt retten“

Tim Bendzko

Nur noch kurz die Welt retten

Ich wär so gern dabei gewesen
doch ich hab viel zu viel zu tun
lass uns später weiter reden
Da draußen brauchen sie mich jetzt
die Situation wird unterschätzt
und vielleicht hängt unser Leben davon ab
Ich weiß, es ist dir ernst
Du kannst mich hier grad nicht entbehren
doch keine Angst, ich bleib nicht allzu lange fern 

Muss nur noch kurz die Welt retten
danach flieg ich zu Dir
Noch 148 Mails checken
wer weiß, was mir dann noch passiert
denn es passiert so viel
Muss nur noch kurz die Welt retten
und gleich danach bin ich wieder bei Dir

Irgendwie bin ich spät dran
fangt schon mal mit dem Essen an
Ich stoß dann später dazu
Du fragst: „Wieso, weshalb, warum?“
ich sag: „Wer sowas fragt, ist dumm!“
denn Du scheinst wohl nicht zu wissen, was ich tu
’Ne ganz besondere Mission
lass mich dich mit Details verschonen
genug gesagt, genug Informationen 

Muss nur noch kurz die Welt retten [...]

Die Zeit läuft mir davon
zu warten, wäre eine Schande
für die ganze Weltbevölkerung
Ich muss jetzt los, sonst gibt’s die große Katastrophe
merkst Du nicht, dass wir in Not sind

Ich muss jetzt echt die Welt retten [...]

     [Tim Bendzko: Wenn Worte meine Sprache wären. Sony 2011. Text nach Booklet.]

Nur Superhelden vom Schlage eines James Bond schaffen das locker: Apokalypsen abzuwenden und gleichzeitig den Erwartungen ihrer Partnerinnen zu entsprechen. Die meisten anderen ,Helden’ – der Literatur wie auch des Alltags – genügen dieser Doppelaufgabe hingegen eher schlecht als recht. Das erfuhren zu ihren Zeiten schon die Artusritter Iwein und Erec, deren einer sich bekanntlich „verritten“ hat, während der andere bequemer Häuslichkeit im Übermaß frönte, und ähnliche Schwierigkeiten bei der Balance zwischen sozialer und privater Verantwortung ergeben sich für Tim Bendzkos Weltenretter.

Das lyrische Ich dieses Songs entschuldigt sein Fernbleiben von Tisch (und Bett?) mit einem durchaus triftig klingenden Grund: In Situationen auf Tod und Leben liege es einzig und allein an ihm, die Welt vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Das vermutlich per Telefon angesprochene Du („lass uns später weiter reden“) kommt zwar nicht zu Wort, scheint der Argumentation des Ichs aber Widerstand entgegen zu setzen, wie dessen wiederholte Erklärungsversuche erahnen lassen – kein Wunder, wird es doch offensichtlich beim Essen versetzt: „fangt schon mal mit dem Essen an / Ich stoß dann später dazu“. Die pluralische Verbform „fangt“, legt in Verbindung mit anderen Indikatoren (Stimme des Interpreten, V. 7f.) nahe, dass hier ein junger Familienvater Frau und Nachwuchs zu vertrösten sucht. Ob die gewählte Entschuldigungsstrategie die Partnerin überzeugen wird, ist fraglich; sicher hingegen, dass die Übertreibungen und Ungereimtheiten („zu warten wäre eine Schande / für die ganze Weltbevölkerung“) des ungeschickten Aufschneiders vor dem Publikum keinen Bestand haben können. Dafür ist die Selbststilisierung des Ichs zum Messias zu überzogen, die Verbindung zwischen Weltrettungsmission und Sichtung der eingegangenen 148 Mails zu grotesk.

Die zweite Strophe macht noch deutlicher, wie windig das Ich seine Argumentation konstruiert hat. Es ist außer Stande, Details zu seinen Vorhaben anzugeben und muss entsprechende Nachfragen mit autoritärem Gestus abwehren. Viele Hörer werden im zitierten Dialog der zweiten Strophe „Du fragst: „Wieso, weshalb, warum?“ / ich sag: „Wer sowas fragt, ist dumm!“ das Titellied der Sesamstraße wieder erkennen und das Frageverbot als Verdummungsversuch verstehen. Mit der Refrainstrophe wiederholt das Ich die einmal gewählte Entschuldigungsformel wie ein Mantra. Die dritte Strophe weist nur noch fünf Verse auf. Sie macht damit die wachsende Unlust des Sprecher-Ichs sichtbar, sich noch länger mit der Partnerin auseinanderzusetzen. Dass die Aufgabe der Welt-Rettung drängt, nehmen wir ihm längst nicht mehr ab.

Seine grotesken Ausreden wirken beim ersten Anhören amüsant, verdecken dabei aber durchaus ernste Probleme: die Gefahr, als Mail-Junkie das eigentliche Leben zu versäumen, ferner ein latentes Beziehungs- und vielleicht sogar Familiendrama. Ob sich dieses Ich „verspätet“, weil es einfach zu unreif ist und ein soziales Leben zu organisieren oder weil es attraktivere Alternativen sieht und gar nicht nach Hause kommen mag, kann auf Basis des Textes nicht entschieden werden. Offensichtlich ist aber eine unehrliche, dazu bedenklich asymmetrisch ausgebildete Kommunikationsbeziehung zwischen Ich und Du; diesem Paar wird man keine gedeihliche gemeinsame Zukunft prognostizieren wollen.

Ohrwurmqualitäten hat dieser auch gut tanzbare (Fox, Samba) Schlager im Eurokrisenherbst 2011 allemal erlangt. Dies kann man dem eingängigen Rhythmus zuschreiben, der einprägsamen Hooklinie im Refrain, Tim Bendzkos weicher Stimme, die sich bestens dazu eignet, eine „identifikationsfähige Jugendpoesie“ (Süddeutsche Zeitung, 18.11.2011) hervorzubringen, oder der ironisch-melancholischen, vielleicht auch ein wenig zynischen Reaktion des Songs auf die allgegenwärtigen Weltuntergangsszenarien dieser Tage. Für leichte Eingängigkeit und schnelle Verankerung im Netz unseres kulturellen Wissens sorgen aber nicht zuletzt mehrere, dem Text dezent, oft ironisch-distanziert eingearbeitete Anspielungen auf  andere bekannte Artefakte: „Mission impossible“,  den mythischen Stoff der „zwei Königskinder“ oder das Volkslied „Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt, flög ich zu Dir“. Schließlich höre ich in Bendzkos Song auch noch die witzige Entgegnung auf einen Hit der Pop-Rock-Gruppe Silbermond, den Stefanie Kloß seit 2009 mit naiv-jungmädchenhafter Schmachtstimme vorträgt: „Gib mir ’n kleines bisschen Sicherheit, / in einer Welt, in der nichts sicher scheint“.

Hans-Peter Ecker, Bamberg