Farbenlehre in Thees Uhlmanns „Weiße Knöchel“

Thees Uhlmann
 
Weiße Knöchel

Er macht seit 30 Jahren bei Regen, Wind und Schnee,
In Fußgängerzonen Wahlkampf für die SPD.
Der Wind verfängt sich im Wahlkampfprogramm
Und der reichste Mann der Stadt sieht ihn mitleidig an.

Der Irre der Stadt redet auf ihn ein 
und das wird für heute der Einzige sein.
Später klappt er dann den roten Schirm zusammen 
verstaut Broschüren im Kofferraum und zieht von dannen.

Auf Kohle geboren und mit Schulden gelebt
quält er sich im Stau über den Ruhrschnellweg.
Dies ist seine Wiege und dies wird sein Grab
am D&W Autocenter fährt er dann ab.

Weiß sind die Knöchel auf seinen Händen.
Rot ist der Backstein von den Häuserwänden
In der Reihenhaussiedlung am Rande der Stadt,
hat er Dinge gesehen, die kein anderer gesehen hat.
Grün ist das Blatt auf dem dunklen Fluss
und das Blatt wird schwimmen, weil das Blatt schwimmen muss.

„Wer nicht an Zufälle glaubt, hat das Glück nicht verdient“, 
sagt ein Genosse, der neben ihm am Tresen lehnt.
Der Spielautomat singt sein einziges Lied, 
das von der Lüge handelt, dass es Glück gibt.

Er trinkt aus und zahlt und schlägt den Kragen nach oben. 
Wolken haben sich im Sturm vor den Mond geschoben.
Es riecht nach Herbst, es ist Mitte August.
Er denkt: „Ich bin ein Blatt und das Leben ein Fluss.“

Weiß sind die Knöchel auf seinen Händen […]

In der Küche brennt noch Licht und eine Blume verwelkt 
auf der Fensterbank und er denkt: „Das Feld ist bestellt.
Die Ernte wird hart, denn der Acker ist alt.“ 
Der Sommer ist zu Ende und der Herbst wird kalt.

Er massiert die weißen Knöchel mit der anderen Hand, 
sieht die alten Urlaubfotos kleben der Wand.
Auf dem Küchentisch ein Zettel und die Wohnung ist leer: 
„Ich habe alles versucht, aber es geht nicht mehr.“

Weiß sind die Knöchel auf seinen Händen […]

     [Thees Uhlmann: #2. Indigo 2013.]

Farben haben bekanntlich eine besonders vielschichtige Symbolik. Um nur ein Beispiel zu nennen: Rot ist die Liebe aber auch die Leidenschaft und die Wut, außerdem noch diverse Fußballvereine und politische Gruppen. Rot kann für Feuer und Glut stehen, für Blut und damit für Gewalt, genauso wie für Leben. Freilich haben Dichter (um beim Beispiel zu bleiben: „Roses are red…“) und Sänger schon lange diese Symbolik (und auch oft Mehrdeutigkeit) der Farben in ihren Arbeiten erkannt (siehe z.B. die Interpretation zu Sarah Connors Wie schön du bist). In der hier vorgeschlagenen Interpretation des Textes von Thees Uhlmann spielen die Farben und ihre Interpretation eine besonders wichtige Rolle.

Der Text handelt von einem Mann, aus dessen Leben einige alltägliche Ereignisse von einer Sprechinstanz skizziert werden. Insgesamt fühlt man eher Mitleid als Bewunderung für den Mann, der als hart arbeitend aber irgendwie glücklos beschrieben wird und sich so durch sein Leben kämpft, verschuldet, seiner Heimat verbunden und allein ist. Die Erwähnung des Ruhrschnellenweges und des „D&W Autocenter[s]“ (siehe Wikipedia) lässt den Mann klar in das Ruhrgebiet, wahrscheinlich Bochum, verorten. Das passt auch zu der Zeile „auf Kohle geboren“.

Zunächst zur wichtigsten Farbe: Was bedeuten überhaupt die mehrfach besungenen und auch im Titel vorkommenden weißen Knöchel? Vielleicht am Auffälligsten ist der Gegensatz zwischen der Farbe Weiß und der im Text immer wieder aufkommenden Farbe Rot. Das beginnt schon in der ersten Strophe, in der beschrieben wird, wie der Mann um den sich der Text dreht Wahlkampfwerbung für die SPD macht. Dabei wird durch den Hinweis auf „Regen, Wind und Schnee“ auch noch ein weiteres weißes Element hinzugefügt, das im Gegensatz zur (hier noch nicht explizit erwähnten) roten Farbe der SPD steht. Diese Gegenüberstellung wird in der folgenden Strophe dann explizit gemacht, indem der rote Schirm erwähnt wird.   

Sowieso ist der Kontrast zwischen weiß und rot ein besonders häufiger. Im Refrain ist das Rot allerdings mit den Häuserfassaden verbunden und nicht mehr als Farbe der SPD. Die Reihenhaussiedlung in Backsteinoptik wird damit zu einem weiteren Gegensatz zu den weißen Knöcheln des Mannes. Verstärkt wird dieser Eindruck noch, weil „Weiß“ das erste Wort des Satzes ist, was dann mit dem „Rot“ im darauffolgenden wieder einen Gegensatz bildet und, versteht man hier rot und weiß als gegensätzlich, eine Art antithetischen Parallelismus bildet. Daneben lassen sich auch noch weitere Assoziationen dieser Gegenüberstellung finden, weil der Mann als eine Art Arbeiter beschrieben wird, was wiederum weitere Verbindungen zur roten Farbe weckt. Überspitzt könnte man sagen, dass der Mann in seinem roten Haus, mit seiner roten SPD Mitgliedskarte und mit seiner roten Seele lebt. Paradoxerweise aber fehlen die „roten“ Emotionen, wie Liebe und Leidenschaft, stattdessen hat der Mann seine weißen Knöchel, die vielleicht seine Gemütslage besser beschreiben. 

In der zweiten Strophe wird durch die Kohle noch eine weitere Farbe eingeführt, die ebenfalls einen Gegensatz zum Weiß bildet. Hierbei ergibt sich in der Zeile „Auf Kohle geboren und in Schulden gelebt“ ein weiterer Gegensatz zwischen den Schulden und Kohle als Rohstoff, nicht im Sinne von Geld. Auch der danach erwähnte Stau ist wohl eher mit dunklen Farbtönen, dem schwarz des Rauchs aus den Auspüffen der Autos und einer monochromen Blechlawine assoziiert.

Aber die weißen Knöchel nur auf eine Möglichkeit zu reduzieren, weitere Farben als Gegensatz darzustellen, wäre wohl zu kurz gegriffen. Im Englischen gibt es die Beschreibung des „white-knuckle“, als etwas besonders Nervenaufreibendes oder Spannendes, z.B. ein „white-knuckle thriller“. Man hält sich so sehr an etwas fest, dass die Knöchel weiß werden. Diese Interpretation ist hier wohl aber nicht zutreffend, eher das Gegenteil. Daneben gibt es noch einige andere Assoziationen: denkbar auch, dass der Mann schon lange nicht mehr in der Sonne war und die weißen Knöchel gewissermaßen ein Symptom für die in der dritten Strophe angesprochenen Schulden sind. Natürlich handelt es sich bei den weißen Knöcheln auch um ein Resultat des immer wieder beschriebenen kalten Wetters, mit Wind, Schnee und Kälte.  

Aber die weißen Knöchel lassen sich noch weiter fassen und haben von den Farben her betrachtet auch eine weitergehende Bedeutung. In dieser Lesart bedeutet das Weiß auch blutleer, im Sinne einer Person, die ein hartes Leben hat und nicht mehr viel Energie besitzt. Passend hierzu sind auch einige andere Beschreibungen: der Mann „quält sich“ nach Hause, dass es Glück gibt, ist eine Lüge und „die Ernte wird hart“. In dieser Lesart verliert weiß auch seine Bedeutung als eine neutrale Farbe, auch wenn es für die Abwesenheit des roten Blutes und vielleicht sogar für Leidenschaft steht.   

Im Refrain gibt es noch einen weiteren Fall, bei dem auf Grund der Wortplatzierung ein besonderes Augenmerk auf einer Farbe liegt, nämlich bei „Grün ist das Blatt auf dem dunklen Fluss“. Das hier noch mehrdeutige Bild des Blattes, das im Fluss schwimmt, wird dann in der fünften Strophe aufgelöst, als der Mann resümiert „Ich bin ein Blatt und das Leben ein Fluss“. Bezeichnenderweise wird in dieser Selbstbeschreibung des Mannes allerdings die Farbe Grün nicht mehr erwähnt, vielleicht fühlt sich der Mann gerade nicht so, wie ein grünes (also: frisches, neues, junges) Blatt. Da es keine weißen Blätter gibt, ließe sich spekulieren, dass sich der Mann eher wie ein braunes Blatt fühlt, das vom Baum gefallen ist und nun im Fluss dahintreibt.

Dieser Gedanke der farblosen Pflanze wird in der letzten Strophe nochmals aufgegriffen, wo die verwelkte Blume in der Wohnung des Mannes erwähnt wird („In der Küche brennt noch Licht und eine Blume verwelkt“). Und sogar die Urlaubsfotos, die an der Wand kleben, sind alt, was ich in dieser Leseart als vergilbt und farblos verstehen würde. Ähnlich verhält es sich mit den Zeilen „Das Feld ist bestellt. Die Ernte wird hart, denn der Acker ist alt.“ Auch hier wird in erster Linie die harte Arbeit auf dem Feld thematisiert und nicht die Farben bei der Ernte des nicht näher beschriebenen Saatgutes, und der alte Acker kann als braun vorgestellt werden.

Neben diesen braunen Tönen, mit denen der Mann identifiziert wird, spielt auch Grau und Schwarz immer wieder eine Rolle, besonders beim Wetter. Als der Mann die Kneipe verlässt, haben sich Wolken vor den gelben Mond geschoben, was zu einer schwarzen Nacht führt. In der schönen Zeile „Es riecht nach Herbst, es ist Mitte August“ geht es, würde ich argumentieren, nicht um den farbenfrohen Herbst mit seinen Gold- und Rottönen, sondern vielmehr um das Braun der alten und abgestorbenen Blätter (womit auch wieder eine Verbindung zum Blatt auf dem Fluss hergestellt ist).

Schließlich gibt es in der letzten Strophe noch einen weiteren, jetzt wieder impliziten, Verweis auf das Weiß, die Farbe, die der Zettel auf dem Küchentisch vermutlich hat. In der leeren Wohnung, könnte man sogar interpretieren, wird das Weiß als neutrale Farbe, vielleicht auch bei weißen Wänden, nochmals anders aufgegriffen. So oder so endet die Strophe mit den mehrdeutigen Zeilen „Ich habe alles versucht, aber es geht nicht mehr“, wobei es wohl um die Trennung eines Partners oder einer Partnerin geht, die den Mann verlassen hat, der nun alleine in der Küche sitzt und seine weißen Knöchel massiert. Damit wird der Gegensatz zwischen der Abwesenheit des Rotes, hier als Farbe von Leidenschaft und Liebe, im weißen Leben des Mannes impliziert. Doch ganz so kampflos gibt er sich dann doch nicht geschlagen: In der letzten Strophe wird zum ersten Mal nicht nur festgestellt, dass der Mann weiße Knöchel hat, sondern er tut etwas dagegen, ja er wird aktiv. Die Massage der Knöchel soll dazu führen, dass wieder etwas Blut in seine Knöchel – oder: etwas Rotes in sein Leben – gelangt.   

Martin Christ, Erfurt  

Kitsch für einen guten Zweck. Zur deutschen Version des Band Aid-Projektes „Do They Know It’s christmas?“ (2014)

Band Aid Thirty (Text: Campino, Marteria, Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings)

Do They Know It’s Christmas? (Deutsche Version)

Endlich wieder Weihnachtszeit (Campino [Die Toten Hosen])
Die Nerven liegen so schön blank (Philipp Poisel)
Egal ob’s regnet oder schneit (Clueso)
Wir treffen uns am Glühweinstand (Seeed)
Wir vergessen unsere Nächsten nicht (Andreas Bourani) 
Kaufen all die Läden leer (Ina Müller) 
Die ganze Stadt versinkt heut‘ Nacht im Lichtermeer (Jan Delay) 
Und du fliegst nur 6 Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen (Marteria)
Kleine Jungs im Barcelona-Shirt malen ihre Träume an die Wände (Marteria und Max Herre)
Es gibt so viel Zukunft, so viel Vielfalt (Max Herre) 
In all den 54 Ländern (Cro)
Doch immer nur dieselben Bilder (Cro und Michi Beck) 
Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern (Michi Beck)
Du gehst durch den Dezember (Peter [Sportfreunde Stiller])
Mit einem Lied im Ohr (Steffi [Silbermond])

Do they know it’s Christmas Time at all? (Clemens [Milky Chance])

Wir feiern unsere Feste (Max Raabe)
Doch wir sehen nicht wie sie fallen (Wolfgang Niedecken)
Der Tod kennt keine Feiertage (Udo Lindenberg) 
Und schon ein Kuss kann tödlich sein (Sammy Amara [Broilers] und Anna Loos)
Kein Abschied und keine Umarmung (Peter Maffay)
Jeder stirbt für sich allein (Thees Uhlmann & Joy Denalane)

Do they know it’s Christmas Time at all? (Gentleman)
Do they know it's Christmas Time at all? (Patrice)
Do they know it's Christmas Time (Chor)

Und auf all den Feiern (Clemens [Milky Chance])
Von hier bis nach Monrovia (Jan-Josef Liefers)
Denken wir daran in dieser stillen Nacht (Adel Tawil)

Do they know it's Christmas Time at all? (Campino)
Do they know it's Christmas Time at all? (Inga Humpe [2Raumwohnung])
Do they know it's Christmas Time (Chor)
Heal the world (Chor) 
Heal the world (Donots)
Heal the world (Chor)
Let them know it’s Christmas Time. Heal the world (Gentleman und Patrice)
Let them know it’s Christmas Time (Jennifer Rostock)
Heal The World.

Do we know it's Christmas Time at all.

Heal The World.

Let them know it's Christmas Time again (Chor)

     [Band Aid 30: Do They Know It’s Christmas? (2014). Polydor 2014.]

 

Es ist so weit, der Advent ist wieder da und mit ihm auch die kopfschmerzbereitende Geschenkefrage, die Plätzchenbäckerei und die in Endlosschleife gespielten Weihnachtslieder im Radio. Ja, wir hassen den Hype manchmal, der mittlerweile um die Weihnachtsfeiertage zelebriert wird, aber entziehen können wir uns ihm nicht. Und ganz ehrlich – am Ende lässt sich doch jeder von der hektischen, aber trotz allem besinnlichen Stimmung mitreißen. Denn der Grundgedanke dieses Festes berührt letztendlich jeden von uns. Das hat sich in diesem Jahr auch Bob Geldof zum Ziel gesetzt, den vor einigen Wochen die UNO darum gebeten hat, zum Jubiläum seines Klassikers Do they know it’s christmas? von 1984 eine Neuauflage zugunsten der Ebola-Opfer in Westafrika zu produzieren. Der Sänger ließ sich nicht lange bitten, sondern trommelte im Handumdrehen eine Gruppe stimmgewaltiger Briten (u.a. Ed Sheeran, Sinead O’Connor und Chris Martin) zusammen, die den Song in unveränderter Form neu aufnahmen. Da dieses Projekt, das Band Aid genannt wird, in dieser Art schon des Öfteren organisiert wurde, zuletzt 2004, als das Geld zur Bekämpfung einer Hungersnot im afrikanischen Sudan verwendet wurde, ist es nicht unbedingt eine Überraschung, wenn der Weihnachtshit auch dieses Jahr wieder im Radio rauf und runter gespielt wird. Neue Töne werden diesmal allerdings aus den deutschen Lautsprechern schallen. Zum ersten Mal nämlich gibt es auch eine deutsche Version des Band Aid-Projektes, das von Campino, dem Frontsänger der Punkrockband Die Toten Hosen, auf Anfrage/Bitte/Auftrag von Bob Geldof in die Wege geleitet wurde. Der Rocksänger wurde Anfang November von seinem alten Bekannten angerufen, der ihm, wie Campino im ZEIT-Interview gestand (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!), keine andere Wahl ließ als zuzusagen, den deutschen Beitrag zu organisieren. Kurz darauf, am 13. November, war Campino in der Lage, sein All-Star-Team vorzustellen, für das er fast die gesamte deutsche Pop-Elite gewinnen konnte. Rund dreißig Musiker haben Do they know it’s christmas? nun neu aufgenommen und jeder von ihnen singt i.d.R. eine Textzeile der Übersetzung, die Campino zusammen mit Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings (u.a. Texter von Adel Tawil) und Marteria in mühevoller Kleinarbeit erarbeitete. Das allein sei laut dem Punksänger schon ein „Himmelfahrtskommando“ gewesen, wie er im Morgenmagazin von ARD/ZDF berichtete (vgl. Sendung vom 21.11.2014). Die Musiker hätten sich bemüht, den deutschen Text des Klassikers von all den Flachheiten zu reinigen, die, wie Bob Geldof selbst zugab, im Original steckten. Campino wollte mit seinem Team einen Song schaffen, hinter dem die deutschen Musiker stehen könnten und der frei von den Klischees und Undifferenziertheiten ist, die in der Gegenwart sowieso schon überhandgenommen haben. Natürlich ist der Song immer noch Kitsch – aber dafür Kitsch auf hohem Niveau.

Als Beispiel für eine solche Flachheit des Originals kann die Textzeile „And there won’t be snow in Africa this Christmas Time“ dienen. So hat man sich schließlich für einen komplett neuen Text entschieden, der nicht wie die Originalversion auf Hungersnöte eingeht, sondern spezifisch auf die Ebola-Epidemie verweist: „Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern“. Daher haben Campino und Co. auch den Refrain-Zusatz „Feed the world“ in „Heal the world“ verwandelt (und dabei Michael Jacksons Metapher wörtlich genommen). Manchmal sind Neuerungen einfach unumgänglich. Der Text überzeugt zwar nicht von tiefsinnigen Betrachtungen über das Elend in Afrika und er stellt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger Moralvorstellungen in den Mittelpunkt. „Natürlich ist es ein Kitschlied“, meinte selbst Campino dazu. Aber es ist schon eine Leistung, dass der Text nicht in den Ohren weh tut, sondern man sich trotzdem noch an ihm erfreuen kann.

Do they know it’s christmas? wird mit seinem Bezug zur deutschen Alltagssprache zu einer Weihnachtshymne, in der Campino und Co. unter anderem auch deutsche Sprichwörter miteinbezogen haben: „Wir feiern unsere Feste / doch wir sehen nicht wie sie fallen“. Diese Redewendung verwendete in jüngster Vergangenheit schon die Newcomerin Julia Engelmann, die Anfang des Jahres mit ihrem Beitrag One Day/Reckoning Text beim Bielefelder Campus TV Hörsaalslam, einem Poetry-Slam-Wettbewerb, für Furore sorgte: „Lasst uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reißen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind“. Man sieht, die junge Slammerin und auch die deutsche Band Aid-Gruppe haben mit der Botschaft, die sie in ihren Werken vertreten, irgendwie den Nerv der Zeit getroffen: Müssen die Deutschen mittlerweile daran erinnert werden, die Feste dann zu feiern, wann sie sind, anstatt sie aufzuschieben, obwohl der übervolle Terminkalender sowieso keinen Platz für sie lässt? Der Text appelliert also nicht nur an unsere Hilfsbereitschaft, sondern auch an unser Unvermögen, unseren Wohlstand so zu genießen, wie es ihm gebührt. Eine recht philosophische Botschaft für solch eine leichte Lektüre, wenn man es sich recht überlegt.

In diesem Sinne ist es wohl auch ein großer Pluspunkt des Projektes, dass sich Musiker aus so vielen unterschiedlichen Genres an der Spendenaktion beteiligen, die dem Song alle individuelle Stimmungen und Schattierungen geben, kurz, die dem Text, so verschieden wie diese Sänger sind, ihren Stempel aufdrücken. Es finden sich hier etablierte Interpreten aus Pop und Rock, aber auch unbekanntere Musiker aus dem Soul wie Joy Denalane oder dem Reggae wie Patrice. Abwechslung bieten insbesondere die Textzeilen der Rapper Marteria und Max Herre, die genau wie Cro und Michi Beck (Fanta 4) die idyllische Stimmung gesanglich wie textlich wieder auf den Boden holen: „Und du fliegst nur sechs Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen“. Natürlich könnte man sich nun fragen, weshalb Herbert Grönemeyer und Schlagerstars wie Helene Fischer oder Andrea Berg nicht bei dem Projekt mitgewirkt haben. Auch eine deutsche Diskursband wie Tocotronic hätte sich in der bunten Vielfalt an Musikercharakteren sicher gut gemacht. Letztendlich spielt es aber keine Rolle, wer dabei war und wer nicht. Und Campino stellte außerdem ganz schnell klar, dass er „über die reden möchte, die mitgemacht haben und nicht über die, die nicht mitgemacht haben.“ (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!)

Der Kampf gegen Ebola hat also dazu geführt, dass Musiker wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten (und von denen sich mit Sicherheit einige bei der ECHO-Verleihung lieber aus dem Weg gehen), ein Lied produziert haben, das wider aller Erwartungen sogar richtig gut geworden ist. Der Band Aid Trust entscheidet schließlich, wem die Einnahmen aus dem Verkauf der Singles und Downloads zugespielt werden. Die Entwicklung eines neuen Impfstoffes ist neben der Bekämpfung des akuten Ausbruchs der Krankheit das Hauptanliegen der Bemühungen. Aber trotz des guten Zwecks wurden schon vor Veröffentlichung des Videos des deutschen Band Aid-Beitrags am Freitag, dem 21.11.14, kurz vor den Tagesthemen um 20.00 Uhr, kritische Stimmen laut. „Schlimmer als Ebola“ sei diese Version, die nur eine „neue Eskalationsstufe von Scheiße“ erreichen würde, wertete das Vice-Magazin den Beitrag ab. Harte Worte in Anbetracht der noch härteren Lage in Afrika. Natürlich könnte man die Künstler, die sich daran beteiligten, bezichtigen, dies nur wegen des Imagegewinns zu tun und auch für die Plattenfirmen bietet sich hier ein kostenloses globales Marketingmittel. Der Appell¸ der mit dem Lied aus dem Radio in unsere Ohren transportiert wird, grenze an zwischenmenschlichen Druck, der auf uns aufgebaut werden würde, sodass man gar keine andere Möglichkeit habe, als die Single zu kaufen. Das könnten schon alles wahre Worte sein. Aber muss man bei einem einfachen Popsong, dessen Gewinne lediglich an eine Hilfsorganisation gehen, gleich von modernem Ablasshandel sprechen, der uns wie eine Drohung mit dem Fegefeuer einschüchtert? Nun, diese Ansicht ist mit Sicherheit leicht übertrieben. Campino hält das alles jedenfalls für „beispiellosen Zynismus“. Und wenn man folgende Zeilen auf dem Internetauftritt des Vice-Magazins liest, dann stimmt man ihm auch schon mal zu: „2014 hat soeben offiziell seine Bewerbung für das beschissenste Jahr der Weltgeschichte eingereicht, 1939 kriegt schon kalte Füße.“ (Nicht mal Ebola rechtfertigt die deutsche Version von „Do They Know It’s Christmas“, 18.11.14). Soll man da lachen oder weinen? Man weiß es einfach nicht.

Die Ambivalenz eines solchen Projekts zeigt sich darin, dass zwar ungewiss ist, in welchem Umfang der die Veröffentlichung dieses Songs den Ebola-Opfern hilft, dass er jedoch uns  in jedem Fall hilft, uns in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Denn das ist heutzutage ja auch, um Campino zu zitieren, „ein Himmelfahrtskommando“.

 Marina Willinger, Bamberg