Farbenlehre in Thees Uhlmanns „Weiße Knöchel“
26. April 2021 Hinterlasse einen Kommentar
Thees Uhlmann Weiße Knöchel Er macht seit 30 Jahren bei Regen, Wind und Schnee, In Fußgängerzonen Wahlkampf für die SPD. Der Wind verfängt sich im Wahlkampfprogramm Und der reichste Mann der Stadt sieht ihn mitleidig an. Der Irre der Stadt redet auf ihn ein und das wird für heute der Einzige sein. Später klappt er dann den roten Schirm zusammen verstaut Broschüren im Kofferraum und zieht von dannen. Auf Kohle geboren und mit Schulden gelebt quält er sich im Stau über den Ruhrschnellweg. Dies ist seine Wiege und dies wird sein Grab am D&W Autocenter fährt er dann ab. Weiß sind die Knöchel auf seinen Händen. Rot ist der Backstein von den Häuserwänden In der Reihenhaussiedlung am Rande der Stadt, hat er Dinge gesehen, die kein anderer gesehen hat. Grün ist das Blatt auf dem dunklen Fluss und das Blatt wird schwimmen, weil das Blatt schwimmen muss. „Wer nicht an Zufälle glaubt, hat das Glück nicht verdient“, sagt ein Genosse, der neben ihm am Tresen lehnt. Der Spielautomat singt sein einziges Lied, das von der Lüge handelt, dass es Glück gibt. Er trinkt aus und zahlt und schlägt den Kragen nach oben. Wolken haben sich im Sturm vor den Mond geschoben. Es riecht nach Herbst, es ist Mitte August. Er denkt: „Ich bin ein Blatt und das Leben ein Fluss.“ Weiß sind die Knöchel auf seinen Händen […] In der Küche brennt noch Licht und eine Blume verwelkt auf der Fensterbank und er denkt: „Das Feld ist bestellt. Die Ernte wird hart, denn der Acker ist alt.“ Der Sommer ist zu Ende und der Herbst wird kalt. Er massiert die weißen Knöchel mit der anderen Hand, sieht die alten Urlaubfotos kleben der Wand. Auf dem Küchentisch ein Zettel und die Wohnung ist leer: „Ich habe alles versucht, aber es geht nicht mehr.“ Weiß sind die Knöchel auf seinen Händen […] [Thees Uhlmann: #2. Indigo 2013.]
Farben haben bekanntlich eine besonders vielschichtige Symbolik. Um nur ein Beispiel zu nennen: Rot ist die Liebe aber auch die Leidenschaft und die Wut, außerdem noch diverse Fußballvereine und politische Gruppen. Rot kann für Feuer und Glut stehen, für Blut und damit für Gewalt, genauso wie für Leben. Freilich haben Dichter (um beim Beispiel zu bleiben: „Roses are red…“) und Sänger schon lange diese Symbolik (und auch oft Mehrdeutigkeit) der Farben in ihren Arbeiten erkannt (siehe z.B. die Interpretation zu Sarah Connors Wie schön du bist). In der hier vorgeschlagenen Interpretation des Textes von Thees Uhlmann spielen die Farben und ihre Interpretation eine besonders wichtige Rolle.
Der Text handelt von einem Mann, aus dessen Leben einige alltägliche Ereignisse von einer Sprechinstanz skizziert werden. Insgesamt fühlt man eher Mitleid als Bewunderung für den Mann, der als hart arbeitend aber irgendwie glücklos beschrieben wird und sich so durch sein Leben kämpft, verschuldet, seiner Heimat verbunden und allein ist. Die Erwähnung des Ruhrschnellenweges und des „D&W Autocenter[s]“ (siehe Wikipedia) lässt den Mann klar in das Ruhrgebiet, wahrscheinlich Bochum, verorten. Das passt auch zu der Zeile „auf Kohle geboren“.
Zunächst zur wichtigsten Farbe: Was bedeuten überhaupt die mehrfach besungenen und auch im Titel vorkommenden weißen Knöchel? Vielleicht am Auffälligsten ist der Gegensatz zwischen der Farbe Weiß und der im Text immer wieder aufkommenden Farbe Rot. Das beginnt schon in der ersten Strophe, in der beschrieben wird, wie der Mann um den sich der Text dreht Wahlkampfwerbung für die SPD macht. Dabei wird durch den Hinweis auf „Regen, Wind und Schnee“ auch noch ein weiteres weißes Element hinzugefügt, das im Gegensatz zur (hier noch nicht explizit erwähnten) roten Farbe der SPD steht. Diese Gegenüberstellung wird in der folgenden Strophe dann explizit gemacht, indem der rote Schirm erwähnt wird.
Sowieso ist der Kontrast zwischen weiß und rot ein besonders häufiger. Im Refrain ist das Rot allerdings mit den Häuserfassaden verbunden und nicht mehr als Farbe der SPD. Die Reihenhaussiedlung in Backsteinoptik wird damit zu einem weiteren Gegensatz zu den weißen Knöcheln des Mannes. Verstärkt wird dieser Eindruck noch, weil „Weiß“ das erste Wort des Satzes ist, was dann mit dem „Rot“ im darauffolgenden wieder einen Gegensatz bildet und, versteht man hier rot und weiß als gegensätzlich, eine Art antithetischen Parallelismus bildet. Daneben lassen sich auch noch weitere Assoziationen dieser Gegenüberstellung finden, weil der Mann als eine Art Arbeiter beschrieben wird, was wiederum weitere Verbindungen zur roten Farbe weckt. Überspitzt könnte man sagen, dass der Mann in seinem roten Haus, mit seiner roten SPD Mitgliedskarte und mit seiner roten Seele lebt. Paradoxerweise aber fehlen die „roten“ Emotionen, wie Liebe und Leidenschaft, stattdessen hat der Mann seine weißen Knöchel, die vielleicht seine Gemütslage besser beschreiben.
In der zweiten Strophe wird durch die Kohle noch eine weitere Farbe eingeführt, die ebenfalls einen Gegensatz zum Weiß bildet. Hierbei ergibt sich in der Zeile „Auf Kohle geboren und in Schulden gelebt“ ein weiterer Gegensatz zwischen den Schulden und Kohle als Rohstoff, nicht im Sinne von Geld. Auch der danach erwähnte Stau ist wohl eher mit dunklen Farbtönen, dem schwarz des Rauchs aus den Auspüffen der Autos und einer monochromen Blechlawine assoziiert.
Aber die weißen Knöchel nur auf eine Möglichkeit zu reduzieren, weitere Farben als Gegensatz darzustellen, wäre wohl zu kurz gegriffen. Im Englischen gibt es die Beschreibung des „white-knuckle“, als etwas besonders Nervenaufreibendes oder Spannendes, z.B. ein „white-knuckle thriller“. Man hält sich so sehr an etwas fest, dass die Knöchel weiß werden. Diese Interpretation ist hier wohl aber nicht zutreffend, eher das Gegenteil. Daneben gibt es noch einige andere Assoziationen: denkbar auch, dass der Mann schon lange nicht mehr in der Sonne war und die weißen Knöchel gewissermaßen ein Symptom für die in der dritten Strophe angesprochenen Schulden sind. Natürlich handelt es sich bei den weißen Knöcheln auch um ein Resultat des immer wieder beschriebenen kalten Wetters, mit Wind, Schnee und Kälte.
Aber die weißen Knöchel lassen sich noch weiter fassen und haben von den Farben her betrachtet auch eine weitergehende Bedeutung. In dieser Lesart bedeutet das Weiß auch blutleer, im Sinne einer Person, die ein hartes Leben hat und nicht mehr viel Energie besitzt. Passend hierzu sind auch einige andere Beschreibungen: der Mann „quält sich“ nach Hause, dass es Glück gibt, ist eine Lüge und „die Ernte wird hart“. In dieser Lesart verliert weiß auch seine Bedeutung als eine neutrale Farbe, auch wenn es für die Abwesenheit des roten Blutes und vielleicht sogar für Leidenschaft steht.
Im Refrain gibt es noch einen weiteren Fall, bei dem auf Grund der Wortplatzierung ein besonderes Augenmerk auf einer Farbe liegt, nämlich bei „Grün ist das Blatt auf dem dunklen Fluss“. Das hier noch mehrdeutige Bild des Blattes, das im Fluss schwimmt, wird dann in der fünften Strophe aufgelöst, als der Mann resümiert „Ich bin ein Blatt und das Leben ein Fluss“. Bezeichnenderweise wird in dieser Selbstbeschreibung des Mannes allerdings die Farbe Grün nicht mehr erwähnt, vielleicht fühlt sich der Mann gerade nicht so, wie ein grünes (also: frisches, neues, junges) Blatt. Da es keine weißen Blätter gibt, ließe sich spekulieren, dass sich der Mann eher wie ein braunes Blatt fühlt, das vom Baum gefallen ist und nun im Fluss dahintreibt.
Dieser Gedanke der farblosen Pflanze wird in der letzten Strophe nochmals aufgegriffen, wo die verwelkte Blume in der Wohnung des Mannes erwähnt wird („In der Küche brennt noch Licht und eine Blume verwelkt“). Und sogar die Urlaubsfotos, die an der Wand kleben, sind alt, was ich in dieser Leseart als vergilbt und farblos verstehen würde. Ähnlich verhält es sich mit den Zeilen „Das Feld ist bestellt. Die Ernte wird hart, denn der Acker ist alt.“ Auch hier wird in erster Linie die harte Arbeit auf dem Feld thematisiert und nicht die Farben bei der Ernte des nicht näher beschriebenen Saatgutes, und der alte Acker kann als braun vorgestellt werden.
Neben diesen braunen Tönen, mit denen der Mann identifiziert wird, spielt auch Grau und Schwarz immer wieder eine Rolle, besonders beim Wetter. Als der Mann die Kneipe verlässt, haben sich Wolken vor den gelben Mond geschoben, was zu einer schwarzen Nacht führt. In der schönen Zeile „Es riecht nach Herbst, es ist Mitte August“ geht es, würde ich argumentieren, nicht um den farbenfrohen Herbst mit seinen Gold- und Rottönen, sondern vielmehr um das Braun der alten und abgestorbenen Blätter (womit auch wieder eine Verbindung zum Blatt auf dem Fluss hergestellt ist).
Schließlich gibt es in der letzten Strophe noch einen weiteren, jetzt wieder impliziten, Verweis auf das Weiß, die Farbe, die der Zettel auf dem Küchentisch vermutlich hat. In der leeren Wohnung, könnte man sogar interpretieren, wird das Weiß als neutrale Farbe, vielleicht auch bei weißen Wänden, nochmals anders aufgegriffen. So oder so endet die Strophe mit den mehrdeutigen Zeilen „Ich habe alles versucht, aber es geht nicht mehr“, wobei es wohl um die Trennung eines Partners oder einer Partnerin geht, die den Mann verlassen hat, der nun alleine in der Küche sitzt und seine weißen Knöchel massiert. Damit wird der Gegensatz zwischen der Abwesenheit des Rotes, hier als Farbe von Leidenschaft und Liebe, im weißen Leben des Mannes impliziert. Doch ganz so kampflos gibt er sich dann doch nicht geschlagen: In der letzten Strophe wird zum ersten Mal nicht nur festgestellt, dass der Mann weiße Knöchel hat, sondern er tut etwas dagegen, ja er wird aktiv. Die Massage der Knöchel soll dazu führen, dass wieder etwas Blut in seine Knöchel – oder: etwas Rotes in sein Leben – gelangt.
Martin Christ, Erfurt