Loblied auf die Soziophobie. „Lieblingsfarben und Tiere“ von Element of Crime
13. Oktober 2014 Hinterlasse einen Kommentar
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Element of Crime Lieblingsfarben und Tiere Schön, dass du anrufst, leider umsonst, dass mein Handy abgestellt ist, hast du schon geschnallt, denn warum solltest du sonst mein völlig sinnloses Festnetztelefon zum Klingeln bringen? Mach's wie ich, leg dich hin und mach die Augen zu. Denk an Lieblingsfarben und Tiere, Dosenravioli und Buch und einen Bildschirm mit Goldfisch, das ist für heute genug. Schön dass du persönlich an der Tür die Klingelleitung testest, du hast Recht, da ist technisch nicht alles 1 a. Im Schwachstromsignalübertragungsweg gibt es Durchleitungsprobleme, doch wer wirklich zu mir will, kommt damit klar. Er braucht nur Lieblingsfarben und Tiere […] Meine Lieblingsfarbe ist eigentlich grün, aber manchmal blau, und gestern war es rot, das war auch ganz schön. Die Emails und die Kurznachrichten kannst du zusammen mit den Excel- und Word-Dokumenten dahin tun, wo die Sonne auch an warmen Tagen niemals scheint und wo auch schon die Meetings und die Skype-Kontakte ruh'n. Denk an Lieblingsfarben und Tiere […] [Element of Crime: Lieblingsfarben und Tiere. Universal 2014.]
Im Deutschunterricht, irgendwann Mitte der 90er Jahre, mussten ich in Form einer Erörterung zu einem Zeitungsartikel Stellung nehmen, dessen Autor beklagte, dass wegen der Verfügbarkeit von Telefonen junge Menschen sich keine Briefe mehr schrieben und dabei eine wichtige eine Kulturtechnik verloren ginge: die Geheimsprache der abgerissenen Briefmarkenzacken. Angeblich sei nämlich zu seiner Jugendzeit ein Code verbreitet gewesen, der Kommunikation mittels der Entfernung bestimmter Zacken vom Rand der Briefmarke ermöglicht habe. Dieser Artikel hat in mir einen derartigen Widerwillen hervorgerufen, dass ich noch heute auf reflexhaftes Bashing neuer Kommunikationstechnologien (das Festnetztelefon war in der Neunzigern bekanntlich aber mal sowas von der heiße Scheiß) und Medien mit ebenwo reflexhafter Aversion reagiere. So habe ich Ina Müller meinen zuvor durchaus in Maßen vorhandenen Respekt abrupt entzogen, als ich das erste Mal Podkarsten hörte. Und Facebook von den Wise Guys, die sich schon mit Denglisch an alle Gegenwartsgegner herangewanzt hatten, hat mich in meiner schon vorher bestehenden Ablehnung nachdrücklich bestätigt.
Entsprechend irritiert war ich, als ich zum ersten Mal Lieblingsfarben und Tiere, die Vorabauskopplung aus dem angekündigten gleichnamigen Album von Element of Crime, hörte. Sollte Sven Regener, nachdem er acht deutschsprachige Alben ohne einen einzigen stilistischen oder thematischen Fehlgriff getextet hatte, sich nun in derart fragwürdige Gesellschaft begeben und die analoge Welt feiern, wo doch Tocotronic schon vor zwanzig Jahren festgestellt hatten, dass digital besser ist? Ich konnte es nicht recht glauben, war mir aber eingedenk seines berühmten Plädoyers gegen die unentgeltliche Verfügbarkeit von Musik im Internet auch nicht ganz sicher. So erwartete ich die Veröffentlichung des Albums mit einer Mischung aus Vorfreude und der Bangigkeit des Fans, der hofft, dass ihm die Band, die er affirmiert, auch weiterhin Anlass dazu bietet. Als ich dann das Lied in Ruhe hören und den Text in Booklet nachlesen konnte, stellte ich zu meiner Freude fest: Sven Regener bietet weiterhin Anlass dazu, ihn als Texter großartig zu finden. Denn die Ablehnung diverser, teilweise gar nicht mehr so neuer Kommunikationsformen in der dritten Strophe erfolgt durch ein Sprecher-Ich, das sich zuvor als soziophob präsentiert hat. Wir haben es also mit einer klar als solchen markierten Rollenrede zu tun, wodurch die Äußerungen des Sprecher-Ichs, abweichend von einer bei der Rezeption von Songtexten gängigen Konvention, nicht dem Texter als eigentliches Sprechen zugeschrieben werden können.
Wie schon in Finger weg von meiner Paranoia lässt Regener sich hier einen psychisch zumindest auffälligen Menschen durch seine Äußerungen selbst charakterisieren. Denn der übrige Text zeigt, dass er nicht nur bestimmte Kommunikationsmittel und -anlässe ablehnt, sondern Kommunikation als solche systematisch vermeidet: Er schaltet nicht nur sein Handy aus, was als Reaktion auf die Erwartung ständiger Erreichbarkeit ja durchaus zuweilen geraten wird, sondern nimmt den Hörer seines Festnetztelefons offenbar ebenfalls nicht ab. Seine an ein Du gerichteten Äußerungen sind demzufolge nicht Teil eines Gesprächs, sondern eine Form des Selbstgesprächs. Ob er das Du kennt und etwa über eine Nummernanzeige identifiziert, ob er nur vermutet, es zu kennen, oder ob er ganz allgemein den oder die Anrufer(in) anspricht, ist unklar. Zudem lebt das Sprecher-Ich in einer Wohnung, deren Klingel defekt ist. Ob es diesen Zustand bewusst herbeigeführt hat oder nur weiterbestehen lässt, bleibt offen. Spätestens wenn es jemanden anscheinend beim ergebnislosen Betätigen des Klingelknopfes beobachtet und ihm dabei – für diesen wohl unhörber – erklärt, für jemanden, der ernsthaft die Absicht hege, zu ihm zu gelangen, stelle die defekte Klingelanlage kein Problem dar, besteht Anlass, sich über seinen Geisteszustand Gedanken zu machen. Denn wie sollten Besucher zu ihm vordringen, wenn die Tür verschlossen ist und er auf andere Kommunikationsversuche nicht reagiert? Einbrechen? Nein! Natürlich mit Hilfe von „Lieblingsfarben und Tiere[n], / Dosenravioli und Buch / und eine[m] Bildschirm mit Goldfisch“. Wie auch sonst? Da hätte der begriffststutzige Besucher nun auch wirklich selbst drauf kommen können!
Bei der seltsamen Aufzählung dürfte es sich allerdings kaum um ein für jeden gleichermaßen nützliches Mittel zur kognitiven Bewältigung von Stresssituationen aller Art handeln, wie das Sprecher-Ich anzunehmen scheint, sondern um sein ganz individuelles Autosuggestionsarsenal. Bemerkenswert ist dabei, dass neben (eventuell in der Kindheit verzehrten) Dosenravioli als konkretem Gegenstand sowie nicht näher bestimmten Tieren an Abstraktes gedacht werden soll: eine Farbe sowie, durch die agrammatische Formulierung ohne Artikel hervorgehoben, „Buch“. Nicht an ein konkretes Buch und die darin ggf. erzählte Geschichte soll gedacht werden, sondern an das das Wort „Buch“, das dann möglicherweise beruhigende Assoziationen auslösen soll. Man könnte daraus schließen, dass das Sprecher-Ich früher durchaus gerne gelesen hat, dies mittlerweile aber nicht mehr tut. Dass schließlich nicht ein realer Goldfisch imaginiert werden soll, sondern ein Bildschirmschoner mit entsprechendem Motiv, ist insofern interessant, als dies vermuten lässt, dass das Sprecher-Ich Computern nicht schon immer feindlich gegenüber gestanden, sondern durchaus viel Zeit vor dem Bildschirm zugebracht hat, mitunter ohne dabei etwas zu tun. Und diese Phasen der Ruhe versucht es offenbar immer dann imaginativ wieder zu erleben, wenn soziale Kontakte drohen.
In den eingangs genannten Liedern von Ina Müller und den Wise Guys wird auf eine komplexer werdende soziale Welt mit Ablehnung reagiert. Solcher gesungener Kulturpessimismus bietet den Hörern Komplexitätsreduktion als Rezeptionsgratifikation an, indem er ihnen das Gefühl vermittelt, sich mit dem ganzen neumodischen Zeug gar nicht beschäftigen zu müssen, weil es Menschen ohnehin nur vereinsamen lasse. So wird bei Ina Müller und den Wise Guys mangelnde Medienkompetenz zum Ausweis hoher Sozialkompetenz umgedeutet. In Sven Regeners Text ist es hingegen gerade der Vereinsamte, der neue Medien offensiv ablehnt. Dennoch lässt sich Lieblingsfarben und Tiere nicht als bloße Umkehrung einer kulturpessimistischen Argumentation verstehen. Dafür wirkt der im Refrain vorgetragene Vorschlag des Sprecher-Ichs, gerade auch in der musikalischen Umsetzung, in seiner Skurillität zu verlockend und das Sprecher-Ich mit seinen umständlichen Formulierungen letzlich doch zu sympathisch. Deshalb interessiert man sich als Rezipient auch eher für die Frage, welche Geschichte zu der Soziophobie des Sprecher-Ichs, dessen Geschlecht man nicht erfährt, geführt hat. Ereignisse im Berufs- oder im Liebesleben? Eine Kindheit, in der Dosenravioli eine zentrale Rolle gespielt haben? Als derart in die fiktionale Welt hineinführender statt auf die reale verweisender, als Interpretationen und Spekulationen provozierender und damit Komplexität auffächernder Text erweist sich Lieblingsfarben und Tiere dann doch als Gegenteil der genannten musikalischen Statements zum aktuellen Mediennutzungsverhalten – nicht kulturpolitisch, sondern ästhetisch.
Martin Rehfeldt, Bamberg