Loblied auf die Soziophobie. „Lieblingsfarben und Tiere“ von Element of Crime

Element of Crime

Lieblingsfarben und Tiere

Schön, dass du anrufst, leider umsonst, dass mein Handy abgestellt ist,
hast du schon geschnallt, denn warum solltest du
sonst mein völlig sinnloses Festnetztelefon zum Klingeln bringen?
Mach's wie ich, leg dich hin und mach die Augen zu.

Denk an Lieblingsfarben und Tiere,
Dosenravioli und Buch
und einen Bildschirm mit Goldfisch,
das ist für heute genug.

Schön dass du persönlich an der Tür die Klingelleitung testest,
du hast Recht, da ist technisch nicht alles 1 a.
Im Schwachstromsignalübertragungsweg gibt es Durchleitungsprobleme,
doch wer wirklich zu mir will, kommt damit klar.

Er braucht nur Lieblingsfarben und Tiere […]

Meine Lieblingsfarbe ist eigentlich grün,
aber manchmal blau, und gestern war es rot,
das war auch ganz schön.

Die Emails und die Kurznachrichten kannst du zusammen mit
den Excel- und Word-Dokumenten dahin tun,
wo die Sonne auch an warmen Tagen niemals scheint und wo
auch schon die Meetings und die Skype-Kontakte ruh'n.

Denk an Lieblingsfarben und Tiere […]

     [Element of Crime: Lieblingsfarben und Tiere. Universal 2014.]

Im Deutschunterricht, irgendwann Mitte der 90er Jahre, mussten ich in Form einer Erörterung zu einem Zeitungsartikel Stellung nehmen, dessen Autor beklagte, dass wegen der Verfügbarkeit von Telefonen junge Menschen sich keine Briefe mehr schrieben und dabei eine wichtige eine Kulturtechnik verloren ginge: die Geheimsprache der abgerissenen Briefmarkenzacken. Angeblich sei nämlich zu seiner Jugendzeit ein Code verbreitet gewesen, der Kommunikation mittels der Entfernung bestimmter Zacken vom Rand der Briefmarke ermöglicht habe. Dieser Artikel hat in mir einen derartigen Widerwillen hervorgerufen, dass ich noch heute auf reflexhaftes Bashing neuer Kommunikationstechnologien (das Festnetztelefon war in der Neunzigern bekanntlich aber mal sowas von der heiße Scheiß) und Medien mit ebenwo reflexhafter Aversion reagiere. So habe ich Ina Müller meinen zuvor durchaus in Maßen vorhandenen Respekt abrupt entzogen, als ich das erste Mal Podkarsten hörte. Und Facebook von den Wise Guys, die sich schon mit Denglisch an alle Gegenwartsgegner herangewanzt hatten, hat mich in meiner schon vorher bestehenden Ablehnung nachdrücklich bestätigt.

Entsprechend irritiert war ich, als ich zum ersten Mal Lieblingsfarben und Tiere, die Vorabauskopplung aus dem angekündigten gleichnamigen Album von Element of Crime, hörte. Sollte Sven Regener, nachdem er acht deutschsprachige Alben ohne einen einzigen stilistischen oder thematischen Fehlgriff getextet hatte, sich nun in derart fragwürdige Gesellschaft begeben und die analoge Welt feiern, wo doch Tocotronic schon vor zwanzig Jahren festgestellt hatten, dass digital besser ist? Ich konnte es nicht recht glauben, war mir aber eingedenk seines berühmten Plädoyers gegen die unentgeltliche Verfügbarkeit von Musik im Internet auch nicht ganz sicher. So erwartete ich die Veröffentlichung des Albums mit einer Mischung aus Vorfreude und der Bangigkeit des Fans, der hofft, dass ihm die Band, die er affirmiert, auch weiterhin Anlass dazu bietet. Als ich dann das Lied in Ruhe hören und den Text in Booklet nachlesen konnte, stellte ich zu meiner Freude fest: Sven Regener bietet weiterhin Anlass dazu, ihn als Texter großartig zu finden. Denn die Ablehnung diverser, teilweise gar nicht mehr so neuer Kommunikationsformen in der dritten Strophe erfolgt durch ein Sprecher-Ich, das sich zuvor als soziophob präsentiert hat. Wir haben es also mit einer klar als solchen markierten Rollenrede zu tun, wodurch die Äußerungen des Sprecher-Ichs, abweichend von einer bei der Rezeption von Songtexten gängigen Konvention, nicht dem Texter als eigentliches Sprechen zugeschrieben werden können.

Wie schon in Finger weg von meiner Paranoia lässt Regener sich hier einen psychisch zumindest auffälligen Menschen durch seine Äußerungen selbst charakterisieren. Denn der übrige Text zeigt, dass er nicht nur bestimmte  Kommunikationsmittel  und -anlässe ablehnt, sondern Kommunikation als solche systematisch vermeidet: Er schaltet nicht nur sein Handy aus, was als Reaktion auf die Erwartung ständiger Erreichbarkeit ja durchaus zuweilen geraten wird, sondern nimmt den Hörer seines Festnetztelefons offenbar ebenfalls nicht ab. Seine an ein Du gerichteten Äußerungen sind demzufolge nicht Teil eines Gesprächs, sondern eine Form des Selbstgesprächs. Ob er das Du kennt und etwa über eine Nummernanzeige identifiziert, ob er nur vermutet, es zu kennen, oder ob er ganz allgemein den oder die Anrufer(in) anspricht, ist unklar. Zudem lebt das Sprecher-Ich in einer Wohnung, deren Klingel defekt ist. Ob es diesen Zustand bewusst herbeigeführt hat oder nur weiterbestehen lässt, bleibt offen. Spätestens wenn es jemanden anscheinend beim ergebnislosen Betätigen des Klingelknopfes beobachtet und ihm dabei – für diesen wohl unhörber – erklärt, für jemanden, der ernsthaft die Absicht hege, zu ihm zu gelangen, stelle die defekte Klingelanlage kein Problem dar, besteht Anlass, sich über seinen Geisteszustand Gedanken zu machen. Denn wie sollten Besucher zu ihm vordringen, wenn die Tür verschlossen ist und er auf andere Kommunikationsversuche nicht reagiert? Einbrechen? Nein! Natürlich mit Hilfe von „Lieblingsfarben und Tiere[n], / Dosenravioli und Buch / und eine[m] Bildschirm mit Goldfisch“. Wie auch sonst? Da hätte der begriffststutzige Besucher nun auch wirklich selbst drauf kommen können!

Bei der seltsamen Aufzählung dürfte es sich allerdings kaum um ein für jeden gleichermaßen nützliches Mittel zur kognitiven Bewältigung von Stresssituationen aller Art handeln, wie das Sprecher-Ich anzunehmen scheint, sondern um sein ganz individuelles Autosuggestionsarsenal. Bemerkenswert ist dabei, dass neben (eventuell in der Kindheit verzehrten) Dosenravioli als konkretem Gegenstand sowie nicht näher bestimmten Tieren an Abstraktes gedacht werden soll: eine Farbe sowie, durch die agrammatische Formulierung ohne Artikel hervorgehoben, „Buch“. Nicht an ein konkretes Buch und die darin ggf. erzählte Geschichte soll gedacht werden, sondern an das das Wort „Buch“, das dann möglicherweise beruhigende Assoziationen auslösen soll. Man könnte daraus schließen, dass das Sprecher-Ich früher durchaus gerne gelesen hat, dies mittlerweile aber nicht mehr tut. Dass schließlich nicht ein realer Goldfisch imaginiert werden soll, sondern ein Bildschirmschoner mit entsprechendem Motiv, ist insofern interessant, als dies vermuten lässt, dass das Sprecher-Ich Computern nicht schon immer feindlich gegenüber gestanden, sondern durchaus viel Zeit vor dem Bildschirm zugebracht hat, mitunter ohne dabei etwas zu tun. Und diese Phasen der Ruhe versucht es offenbar immer dann imaginativ wieder zu erleben, wenn soziale Kontakte drohen.

In den eingangs genannten Liedern von Ina Müller und den Wise Guys wird auf eine komplexer werdende soziale Welt mit Ablehnung reagiert. Solcher gesungener Kulturpessimismus bietet den Hörern Komplexitätsreduktion als Rezeptionsgratifikation an, indem er ihnen das Gefühl vermittelt, sich mit dem ganzen neumodischen Zeug gar nicht beschäftigen zu müssen, weil es Menschen ohnehin nur vereinsamen lasse. So wird bei Ina Müller und den Wise Guys mangelnde Medienkompetenz zum Ausweis hoher Sozialkompetenz umgedeutet. In Sven Regeners Text ist es hingegen gerade der Vereinsamte, der neue Medien offensiv ablehnt. Dennoch lässt sich Lieblingsfarben und Tiere nicht als bloße Umkehrung einer kulturpessimistischen Argumentation verstehen. Dafür wirkt der im Refrain vorgetragene Vorschlag des Sprecher-Ichs, gerade auch in der musikalischen Umsetzung, in seiner Skurillität zu verlockend und das Sprecher-Ich mit seinen umständlichen Formulierungen letzlich doch zu sympathisch. Deshalb interessiert man sich als Rezipient auch eher für die Frage, welche Geschichte zu der Soziophobie des Sprecher-Ichs, dessen Geschlecht man nicht erfährt, geführt hat. Ereignisse im Berufs- oder im Liebesleben? Eine Kindheit, in der Dosenravioli eine zentrale Rolle gespielt haben? Als derart in die fiktionale Welt hineinführender statt auf die reale verweisender, als Interpretationen und Spekulationen provozierender und damit Komplexität auffächernder Text erweist sich Lieblingsfarben und Tiere dann doch als Gegenteil der genannten musikalischen Statements zum aktuellen Mediennutzungsverhalten – nicht  kulturpolitisch, sondern ästhetisch.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Tiefbaupsychosen oder: Auf der Suche nach dem Subtext. Annäherungen an „Finger weg von meiner Paranoia“ von Element of Crime

Das Video findet sich auch  hier.

Element of Crime

Finger weg von meiner Paranoia

Siehst du, wie die Brocken unserer Heimaterde dort
Wo die Straße eine Biege macht nach Ost
Schwalbengleich im Tiefflug links und rechts
Dem großen Loch entfliehen
Wer den deutschen Tiefbau kennt kann nicht die Frechheit übersehen
Mit der die Lüge sich hier eine Schneise fräst
Sag daß ich mich irre und ich weiß auf wessen Seite du jetzt stehst.

Finger weg von meiner Paranoia
die war mir immer lieb und teuer
Nie ließ sie mich so kalt im Stich wie du
Einer hält den Spaten und zwei schauen ihm beim Halten zu

Warum hält der Zeitungsmann die Finger so gekrümmt
wenn er mir die Zigarettenschachtel gibt
und wie viele seiner Witze macht er immer nur bei mir
Was weiß er, was ich nicht weiß, und was gibt man ihm dafür
Daß er mich pünktlich jeden Morgen deprimiert
Sag daß ich verrückt bin und ich schwör dir, du kriegst eine geschmiert

Finger weg von meiner Paranoia […]

Dem Postmann mach ich nicht mal mehr im Bademantel auf
seit ich weiß, dass er für alle spioniert
Die wissen wollen was mich in meinem Leben so verdammt zufrieden macht
Und jetzt versucht er’s auf die harte Tour und wirft die Briefe nur
Noch nachdem er sie gelesen hat ins Klo
Ich kann dir das beweisen, ich hab sie noch alle irgendwo

Finger weg von meiner Paranoia […]

Daß du von allen sowieso die Allerschlimmste bist,
Das weiß ich auch ohne dass du weinst
Deine Tränen sind noch einmal richtig Öl im Feuer meiner Wut
Wer immer dich geschickt hat – sag ihm, es ist nicht so klug,
Wenn sich ein Tiefbautrupp mit Arbeitseifer tarnt.
Sag, daß ich bekloppt in, aber sag nicht, ich hätt euch nicht gewarnt.

Finger weg von meiner Paranoia […]

     [Element of Crime. Mittelpunkt der Welt. Universal 2005.]

„Stasi!“ möchte man schreien, wenn man den Text zum ersten Mal vor sich hat. Tatsächlich lassen sich im Text sprachliche Bilder finden, die diesen Schluss zulassen. Sehr offensichtlich wird dies in der dritten Strophe, in der der Postbote fremde Briefe liest und sich damit, mag man dem folgen, als Stasispitzel outet. In dieses Bild passt die Tatsache, dass bis Brocken der Heimaterde (Bürger der DDR) dem großen Loch (DDR) entfliehen. Die sozialistische Planwirtschaft mit ihrer staatlich verordneten Beschäftigungsgarantie bekommt ebenso ihr Fett weg: „Einer hält den Spaten und zwei schauen ihm beim Halten zu.“ Es gibt Arbeit für alle, auch wenn eigentlich niemand wirklich arbeitet. Eine stimmige Deutung? Was veranlasst den Westberliner Sven Regener (auch wenn das Sprecher-Ich natürlich nicht der Autor und ein biographischer Bezug in der Interpretation heute ja ohnehin verpönt ist), im Jahr 2005 einen Text über die Stasivergangenheit zu veröffentlichen? Und ist nicht die Straße, die „eine Biege macht nach Ost“ sehr irreführend? Spielte das Lied wirklich auf eine wie auch immer geartete DDR-Vergangenheit an, wäre dann nicht eine Biege nach West (also aus dem Osten hinaus) folgerichtiger? So richtig überzeugt diese Interpretation also nicht.

Vielleicht möchte aber das Lied-Ich einfach nur eine psychische Normabweichung kultivieren. Auch in der Straßenbahn des Todes, auf demselben Album wie Finger weg von meiner Paranoia veröffentlicht, gibt es eine Passage, in der eine psychische Störung in den Bereich des Alltäglichen und scheinbar Normalen gerückt wird: „Wo die Neurosen wuchern, will ich Landschaftsgärtner sein.“ Das lyrische Ich ist sich seiner Normabweichung bewusst; die Beschreibung der Alltäglichkeit dieser Abweichung gleicht beinahe einer Huldigung. Um es mit Nirvana zu sagen: „Just because you’re paranoid don’t mean they’re not after you.” (Nirvana: Territorial Pissings. Auf: Nevermind. Geffen 1991).

Da hat sich nun aber tatsächlich die ganze Welt gegen das lyrische Ich verschworen. Briefträger, Zeitungsmänner, ja selbst scheinbar anständige und seriöse Arbeiter, die allerdings schlussendlich nur so tun als würden sie arbeiten, sie alle sind an dieser Verschwörung irgendwie beteiligt. Sogar die Frau/Freundin/Exfrau – so ganz genau lässt sich der Status anhand des Textes nicht klären – macht mit. Durch ihr Verhalten könnte sie der Auslöser der ganzen Misere gewesen sein. In gewisser Weise führt ihre Existenz uns auf jeden Fall zu einem weiteren Deutungsansatz:

Eine besondere Form der Paranoia bzw. einer paranoiden Persönlichkeitsstörung stellt die Eifersucht dar. Auch für diese Deutungsmöglichkeit findet Regener passende Beschreibungen. Die Frau ist die Allerschlimmste, sie hat das Lied-Ich kalt im Stich gelassen, der Postmann vernichtet (Liebes-)Briefe. Das große Loch der ersten Strophe ist dann die gescheiterte Beziehung und die gemeinsame Heimaterde, also die Partnerin oder die Liebe, entflieht als Brocken diesem großen ‚Loch der Beziehung‘. Das Sprecher-Ich vermutet die Existenz eines Nebenbuhlers, von dem sogar der Zeitungsmann schon erfahren hat. Es (das Ich) hält einen Spaten, um zumindest symbolisch noch weiter an der Beziehung arbeiten zu können. Leider schauen ihm sowohl seine (zukünftige?) Ex und deren Neuer dabei zu und machen sich möglicherweise sogar lustig über ihn. Die Tiefbaumetapher mag sich aber leider nicht so recht dieser Deutung fügen.

Ist die Tiefbaumetapher am Ende vielleicht gar keine Metapher? Regt sich hier womöglich jemand darüber auf, wie in Deutschland Straßen gebaut werden? Man kennt das ja: Kilometerlange Autobahnbaustellen, Maschinen stehen scheinbar willkürlich in der Landschaft herum und Arbeiter sind weit und breit nicht zu sehen. „Aber andererseits arbeitet ja gerade niemand. […] Das ist ja das Komische, […] daß hier dauernd diese Baumaschinen rumstehen, Bagger und der ganze Scheiß […] aber andererseits arbeitet ja mal wieder niemand“ (Sven Regener: Herr Lehmann. München: Goldmann 2003, S. 246). Handelt es sich hier tatsächlich um einen intertextuellen Bezug und in diesem Fall gar um einen Verweis auf das dichterische Gesamtkunstwerk Sven Regeners? Sicherlich. Hat dies Einfluss auf die Deutung dieses Textes? Entscheiden sie selbst. Natürlich ist es interessant, dass da ein Bild (nämlich der Stillstand von Tiefbaumaßnahmen im weitesten Sinne) in zwei verschiedenen Texten eines Autors behandelt wird und dass dies sogar in beiden Fällen in einem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen steht (Karl, der beste Freund Frank Lehmanns, erkrankt an einer Depression). Hilft dies hier aber wirklich weiter? Welche Rolle spielen Post- und Zeitungsmann? Da diese beiden ihrer Arbeit offensichtlich mehr oder weniger ordnungsgemäß nachgehen, besteht kein Zusammenhang zwischen ihnen und dem nichtarbeitenden deutschen Tiefbau. Ein einheitliches und eindeutiges Bild ergibt sich also auch hier nicht.

Zur Erkenntnis führt nun leider nichts. Dabei stellt sich die Frage, ob ein Text überhaupt so eindeutig sein muss (oder sein kann). In diesem Fall lautet die eindeutige Antwort: … Vielleicht. Vielleicht liegt der Reiz des Textes eben gerade in seiner Nichteindeutigkeit. Erfreuen wir uns einfach an Sven Regeners charmantem Witz und genießen wir seine teilweise grandiosen Textstellen. Distanzieren wir uns von zu konkreten und überladenen Deutungsversuchen und lassen wir den Autor zum Schluss ausnahmsweise noch einmal selbst und abschließend zu Wort kommen: „Da steckt mir zu viel Subtext drin“.

Daniel Lutz, Jana Wieczorek, Stefan Müller