Vierzig Grad im Schatten. Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? von Rudi Carrell (1975)
17. August 2015 1 Kommentar
Rudi Carrell Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Wir brauchten früher keine große Reise, wir wurden braun auf Borkum und auf Sylt. Doch heute sind die Braunen nur noch Weiße, denn hier wird man ja doch nur tiefgekühlt. Ja, früher gab's noch hitzefrei, das Freibad war schon auf im Mai, ich saß bis in die Nacht vor unsrem Haus. Da hatten wir noch Sonnenbrand und Riesenquallen an dem Strand, und Eis, und jeder Schutzmann zog die Jacke aus. Wann wird's mal wieder richtig Sommer, ein Sommer, wie er früher einmal war? Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September, und nicht so naß und so sibirisch wie in diesem [Variation: letzten] Jahr. Und was wir da für Hitzewellen hatten, Pulloverfabrikanten gingen ein. Da gab es bis zu 40 Grad im Schatten, wir mußten mit dem Wasser sparsam sein. Die Sonne knallte ins Gesicht, da brauchte man die Sauna nicht, ein Schaf war damals froh, wenn man es schor. Es war hier wie in Afrika, wer durfte, machte FKK, doch heut – heut summen alle Mücken laut im Chor: Wann wird's mal wieder richtig Sommer, [...] Der Winter war der Reinfall des Jahrhunderts, nur über tausend Meter gab es Schnee. Mein Milchmann sagt: "Dies Klima hier, wen wundert's? Denn schuld daran ist nur die SPD." Ich find', das geht ein bißchen weit, doch bald ist wieder Urlaubszeit, und wer von uns denkt da nicht dauernd dran? Trotz allem glaub' ich unbeirrt, dass unser Wetter besser wird, nur wann – und diese Frage geht uns alle an: Wann wird's mal wieder richtig Sommer, [...] [Rudi Carrell: Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? M Music 1975.]
Wer kennt nicht die Redewendung „Pass auf, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen …“? Im Moment bringe ich sie fast zwanghaft mit Rudi Carrells musikalischem Stoßseufzer Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? aus dem Jahr 1975 in Verbindung. Carrell (1934-2006) – jüngeren Generationen muss man das vermutlich erklären – war ein holländisches Entertainment-Genie, das in den 1970er Jahren die deutsche Fernsehunterhaltung mit zahlreichen Shows (Am laufenden Band, Rudis Tagesshow, Herzblatt u.a.) beherrschte wie kein anderer. Mit seinem Sommer-Sehnsuchtslied schien Rudi Carrell seinerzeit sogar die Wetterverantwortlichen aufgescheucht zu haben, denn nach relativ kühlem Start nahm der Sommer ’75 nach Carrells Klagehymne noch richtig Fahrt auf und entwickelte sich schließlich im August zu einem ausgewachsenen Jahrhundertsommer mit Hitzerekorden, die denen unseres Hochsommers 2015 kaum nachstanden. (Ich stelle mir das konkret übrigens ungefähr so vor, dass sich der Sommer ’75 beim Schafkopfen mit den Eisheiligen auf dem Greifenklau-Keller a wengala verweilt hatte, sich dann aber, von Carrells Schlager bei seiner Ehre gepackt, – in dieser Beziehung können Jahreszeiten heikel sein! – zusammenriss, vielleicht sogar mit einem kleinen Hörnla, sprich Zörnla an die Arbeit ging und nachgerad allen zeigte, was er so drauf hatte. Bamberger kennen dieses Verhaltensmuster aus eigener Erfahrung; andere dürfen diesen im Grunde irrelevanten populärpsychologischen Klammereinschub indes gerne und ohne schlechtes Gewissen überlesen.)
Musikalisch coverte Rudi Carrell hier bekanntlich Steve Goodmans (1948-84) Protestsong über den auch zuvor schon mehrfach besungenen berühmten amerikanischen Fernzug City of New Orleans (1971; zum Welthit geworden in der Version von Arlo Guthries, 1972). Goodman machte seinerzeit gegen unsoziale Entscheidungen der Regierung Richard Nixons (von 1969-1974 siebenunddreißigster Präsident der USA, musste wegen der sog. Watergate-Affaire zurücktreten) Front. Konkret wandte sich Goodman gegen die Befreiung privater amerikanischer Bahngesellschaften von der Betriebspflicht für Personenzüge, worauf es zu massenhaften Streckenstillegungen gekommen war. Auch in Carrells Sommerhit gibt es eine kleine politische Passage: die ironische Schuldzuweisung für das schlechte Wetter an die SPD, die seit 1969 als großer Koalitionspartner in einer sozialdemokratischen Bundesregierung agierte. Dieser Scherz kann vielleicht als witzige Reflexion auf den amerikanischen Prätext aufgefasst werden. Bei späteren Fernsehauftritten variierte und erweiterte Carrell – vermutlich im Sinne der vorgeschriebenen politischen Neutralität öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten – seine Schuldzuweisung, indem er auch andere Parteien für das schlechte Wetter verantwortlich machte. Zusätzlich montierte er jetzt Zitate politisch prominenter Personen als Entgegnungen in sein Lied ein. Da das komische Potential dieser Mini-Dialoge aus heutiger Sicht aber mehr als begrenzt erscheint, gehe ich nicht weiter darauf ein.
Carrells Schlagertext konkretisiert am Beispiel der Wahrnehmung des Wetters im Wesentlichen die verbreitete Empfindung erwachsener Menschen, dass früher ,alles irgendwie besser‘ gewesen ist: Der Erinnerung des Sprecher-Ichs nach waren die Sommer seiner Kindheit länger und heißer, die Winter entsprechend kälter und schneereicher als die der Gegenwart. Mit den extremeren Ausprägungen der Jahreszeiten verbindet die Sprecherinstanz lustvolle Erinnerungen bzw. Assoziationen – an hitzefreie Schultage, ,Schutzmänner‘ in unkorrekter Uniform, Freibadbesuche, Speiseeis, Riesenquallen, Sonnenbrände und FKK.
Die aufgezählten Attribute des früheren Sommererlebens lohnen durchaus eine nähere Betrachtung. Gemeinsam ist ihnen mehr oder minder die Eigenschaft, Intensität darzustellen; d.h. der Liedtext zählt auf, welche Dinge zu einem ,richtigen Sommer‘ gehören und welche Erfahrungen Menschen dabei machen können. Eine Reihe dieser Erfahrungen sind erkennbar aus der Perspektive von Kindern bzw. Jugendlichen geschildert, andere (vgl. die etwas holprig formulierte Pleite von Pulloverfabrikanten) entsprechen eher der Erwachsenensicht. Diese Ambivalenz ergibt sich aus der Redesituation: Carrell, der die Sprecherinstanz authentisch verkörpert, singt als 40jähriger Mann ein mehrheitlich erwachsenes Fernseh-Publikum an, regrediert passagenweise in seiner Phantasie aber in lustvolle Kindheitserinnerungen. Eine Vorstellung von den prüden Sitten deutscher Fernsehunterhaltung vor der Zulassung privater Sender vermittelt der politisch hyperkorrekte Zusatz „wer durfte“ zu „machte FKK“. Dieses winzige Detail verrät die Professionalität, mit der Carrell möglichen Fettnäpfchen aus dem Wege ging, und zeigt auf, wie sensibel man seinerzeit mit Programmbossen und Publikum umgehen musste, wenn man der beliebteste ,Showmaster‘ seiner Zeit sein wollte.
Auffällig ist vielleicht noch der Umstand, dass in der Reihe der Erinnerungen durchaus einige Phänomene wie große Quallen, Sonnenbrände, Wasserknappheit oder Mücken vorkommen, die man nicht ohne weiteres zu den positiven Gaben eines schönen Sommers rechnen würden. Allein im nostalgisch-verklärenden Blick der Sprecherinstanz verschwimmen auch diese Dinge zu einem wohligen Gesamt-Glücksgefühl einer intakten Welt mit einem verlässlichen Rhythmus der Natur, nach dem sie sich zurücksehnt.
Warum lohnt es sich heute, im August 2015 nach drei Wochen Hochsommer vom Feinsten (oder Schrecklichsten, je nachdem wie man mit der Hitze zurechtkommt), sich an Rudi Carrells Sommerhit von 1975 zu erinnern? Nun, ich denke, unser aktueller Sommer hat uns gelehrt, dass es auch für reifere Menschen, deren Kindheit und Jugend schon länger zurückliegt und ,verloren‘ scheint, noch ,richtige Sommer‘ bzw. – jetzt allgemeiner gesprochen und den ,Sommer‘ als Metapher für Glück aufgefasst – immer wieder intensive Lebenserfahrungen geben kann und dass man sich den Optimisten Carrell zum Vorbild nehmen darf, ja soll, der am Ende der dritten Liedstrophe seine Hoffnung nicht aufgibt, obwohl jeder Augenschein dagegen spricht. In diesem Sinne lege ich mir jetzt gleich ein paar Platten auf wie Regentropfen, die an dein Fester klopfen, Am Tag als der Regen kam und Schneeflöckchen, Weißröckchen …
Hans-Peter Ecker, Bamberg