Strategische Selbsterniedrigung. Zu „Fußball ist unser Leben“, gesungen von der deutschen Fußball-Nationalmannschaft für die WM 1974 (Text: Jack White)

Deutsche Fußball-Nationalmannschaft (Text: Jack White)

Fußball ist unser Leben

Ha! Ho! Heja heja he!
Ha! Ho! Heja heja he!

Fußball ist unser Leben,
denn König Fußball regiert die Welt.
Wir kämpfen und geben alles,
bis dann ein Tor nach dem andern fällt.

Ja, einer für alle, alle für einen.
Wir halten fest zusammen,
und ist der Sieg dann unser,
sind Freud'und Ehr' für uns alle bestellt.

[Ein jeder Gegner will uns natürlich schlagen. 
Er kann's versuchen, er darf es ruhig wagen. 
Doch sieht er denn nicht, 
dass hunderttausend Freunde zusammen steh'n.]

Wir spielen immer, sogar bei Wind und Regen.
Auch wenn die Sonne lacht und andre sich vergnügen,
doch schön ist der Lohn,
wenn hunderttausend Freunde zusammen steh'n.

Ja! Fußball ist unser Leben [...]

Ha! Ho! Heja heja he! Ha! Ho! He!

     [Die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft: Fußball ist unser Leben. Polydor 1973.
     In der Studiofassung findet sich die in eckige Klammern gesetzte Stophe.]

Wenn die Fassungslosigkeit und Fremdscham, die dieser Auftritt auslöst, langsam nachlassen, machen sie einer recht angenehmen Erkenntnis Raum: So schlecht, wie man (und der Musiklehrer damals) dachte, kann man selbst doch gar nicht singen, und das eigene Rhythmusgefühl ist auch ausgeprägter als bislang angenommen. Es ist der gleiche Effekt, der sich beim Rezipieren der Deutschland such den Superstar-Castings einstellt.

Doch während diese von Jugendschützern teilweise als sozialethisch desorientierend eingeschätzt wurden und die dort Bloßgestellten nach der Sendung teilweise Mobbing ausgesetzt waren, erfüllte die – durch Wim Toelkes ironische Anmoderation des Stücks als „eines der bedeutendesten Chorwerke der modernen profanen Chorliteratur, das Schicksalslied der Profis“ zusätzlich der Lächerlichkeit preisgegebene – Vorführung der begrenzten musikalischen Fähigkeiten von Georg Schwarzenbeck, Jupp Kapellmann, Paul Breitner, Bernd Franke, Uli Hoeneß (unten v.l.n.r.), Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Bernd Cullmann, Jürgen Grabowski, Wolfgang Overath (oben v.l.n.r.) eine sozial stabilisierende Funktion und dürfte den Beteiligten sogar genutzt haben.

Denn gemäß der Theorie der sozialen Vergleichsprozesse vergleichen sich Menschen ständig mit anderen. In der Regel dienen diese Vergleiche aber nicht, wie man spontan annehmen könnte, einer möglichst zutreffenden Einschätzung der eigenen Fähigkeiten (dies geschieht nur in wichtigen Konkurrenzsituationen), sondern sollen vor allem das eigene Selbstwertgefühl stützen: Man sucht zum Vergleich ein Feld aus, auf dem man voraussichtlich besser abschneidet als der, mit dem man sich vergleicht. Gelingt es nicht, ein solches Feld zu finden, wird der andere häufig aufgrund üblicherweise nicht vergleichsrelevanter Merkmale (Hautfarbe, Geschlecht etc.) abgewertet.

In den 1970er Jahren ändert sich der Status von Profifußballern in Deutschland fundamental: Aus Halbprofis werden Spitzenverdiener (1972 lässt der DFB die Gehaltsobergrenze für Vereinsfußballer von 1000,- Mark monatlich fallen, von der zuvor für Nationalspieler allerdings auf Antrag bereits Ausnahmen möglich waren), die dies auch öffentlich zeigen (etwa mittels ihrer Autos). Mithin werden für die Fans, deren Zuneigung Fußballer ja letztlich ihren Status verdanken, selbstwertdienliche Vergleiche mit ihnen schwieriger, womit die Gefahr steigt, dass sie die Profis ablehnen (etwa als arrogant, abgehoben etc.). Für dieses Problem schafft im Land der Männergesangsvereine die öffentliche Ausstellung inexistenten Gesangstalents Abhilfe, indem dem Publikum wieder ein Feld gezeigt wird, auf dem es sich selbstwertdienlich mit den Stars vergleichen kann – Prominente aus der Showbranche nutzen zu diesem Zweck andersherum gerne Sportveranstaltungen, bei denen sie ihre Unsportlichkeit demonstrieren.

Der Liedtext selbst bietet explizit zusätzlich ein weiteres für die Fans attraktives Vergleichsfeld an: Arbeitszeiten und -bedingungen der Spieler werden gegenüber anderen als nachteilig geschildert: „Wir spielen immer, / sogar bei Wind und Regen. / Auch wenn die Sonne lacht / und andre sich vergnügen“.

Zudem wird jeder Elitarismus vermieden: Die Nationalmannschaft wird als Truppe von Freunden, die das Motto der Drei Musketiere (und d‘Artangnans) verinnerlicht haben, gezeichnet, die ihr Ziel nicht etwa aufgrund überragender Fähigkeiten, sondern durch beharrliche harte Arbeit erreicht: „Wir kämpfen und geben alles, / bis dann ein Tor nach dem andern fällt.“ (In Fortschreibung dieser Malocher-Ästhetik hatte ich, bevor ich den Text gelesen hatte, beim bloßen Hören des Liedes statt „und ist der Sieg dann unser, / sind Freud‘ und Ehr‘ für uns alle bestellt“  immer verstanden: „und ist der Sieg dann unser, / wird Korn und Bier für uns alle bestellt“).  In der letzten Strophe werden dann auch noch die Fans in den Kreis der Freunde aufgenommen (wie in der beliebten Rede vom ‚zwölften Mann‘): „doch schön ist der Lohn, / wenn hunderttausend Freunde zusammen steh’n.“ – Alle sind gleichermaßen Untertanen des weltbeherrschenden Königs Fußball (auch der ‚Kaiser‘ Franz Beckenbauer).

Die Tradition der öffentlichen Selbsterniedrigung mittels Gesang haben spätere deutsche Fußballnationalmannschaften fortgesetzt: 1978 wurde mit Udo Jürgens Buenos dias Argentina gesungen, 1982 Olé España mit Michael Schanze, 1986 Mexiko, mi amor mit Peter Alexander, 1990 wieder mit Udo Jürgens Wir sind schon auf dem Brenner und 1994 Far away in America mit The Village People. Nach diesem frühen Zeichen gegen Homophobie brach Berti Vogts mit der Tradition, die bis heute aber nur ausgesetzt ist – Oliver Bierhoff äußerte unlängst, er könne sich durchaus vorstellen, „die vier, fünf besten aktuellen Musiker Deutschlands mit der Mannschaft zusammenzubringen“ (11Freunde 127 [Juni 2012], S. 30). Angesichst ihrer in der Vergangenheit ausgiebig demonstrierten Bereitschaft zur Mitwirkung an allerlei Projekten steht zu befürchten, dass die Wahl auf Xavier Naidoo, Stefanie Kloß von Silbermond, Rea Garvey von Reamonn, Thomas D sowie Nena fiele.

Dass ihn die gegnerischen Fans im Champions League-Spiel von Real Madrid gegen Dinamo Zagreb ausgepfiffen hatten, erklärte Cristiano Ronaldo vor dem Hintergrund der Theorie der sozialen Vergleichsprozesse durchaus einleuchtend: „Die Leute mögen micht nicht, weil ich reich, gut aussehend und ein großartiger Spieler bin.“  Vielleicht sollte er mit seinen Nationalmannschaftskollegen einfach mal ein Lied aufnehmen.

Martin Rehfeldt, Bamberg