Stetig aktualisiertes Revolutionslied: Ferdinand Freiligrath: „Trotz alledem“ („Das war ‘ne heiße Märzenzeit“)

 

Ferdinand Freiligrath

Trotz alledem

1. Das war 'ne heiße Märzenzeit,
Trotz Regen, Schnee und alledem!
Nun aber, da es Blüten schneit,
Nun ist es kalt, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem -
Trotz Wien, Berlin und alledem -
Ein schnöder scharfer Winterwind
Durchfröstelt uns trotz alledem!

2. Das ist der Wind der Reaktion
Mit Meltau, Reif und alledem!
Das ist die Bourgeoisie am Thron -
Der dennoch steht, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Blutschuld, Trug und alledem -
Er steht noch und er hudelt uns
Wie früher fast, trotz alledem!

3. Die Waffen, die der Sieg uns gab,
Der Sieg des Rechts trotz alledem,
Die nimmt man sacht uns wieder ab,
Samt Kraut und Lot und alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Parlament und alledem -
Wir werden unsre Büchsen los,
Soldatenwild trotz alledem!

4. Doch sind wir frisch und wohlgemut,
Und zagen nicht trotz alledem!
In tiefer Brust des Zornes Glut,
Die hält uns warm trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Es gilt uns gleich trotz alledem!
Wir schütteln uns: Ein garst'ger Wind,
Doch weiter nichts trotz alledem!

5. Denn ob der Reichstag sich blamiert
Professorhaft, trotz alledem!
Und ob der Teufel reagiert
Mit Huf und Horn und alledem -
Trotz alledem und alledem,
Trotz Dummheit, List und alledem,
Wir wissen doch: die Menschlichkeit
Behält den Sieg trotz alledem!

6. So füllt denn nur der Mörser Schlund
Mit Eisen, Blei und alledem:
Wir halten aus auf unserm Grund,
Wir wanken nicht trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Und macht ihr's gar, trotz alledem,
Wie zu Neapel jener Schuft:
Das hilft erst recht, trotz alledem!

7. Nur, was zerfällt, vertratet ihr!
Seid Kasten  nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
Sind ewig drum, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem:
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht -
Unser die Welt trotz alledem!

Herkunft und Entstehung

Der Dichter und Übersetzer Ferdinand Freiligrath (1784-1825) hat diese Umdichtung des 1795 geschriebenen Gedichts A Man’s a Man for a‘ that des schottischen Nationaldichters Robert Burns (1759-1796) im Juni 1848 verfasst. Von den fünf Versen von Burns hat er den vierten Vers weggelassen, dafür die Verse fünf bis sieben hinzugefügt. Noch im selben Monat wurde Das war ne heiße Märzenszeit in der Neuen Rheinischen Zeitung, Herausgeber Karl Marx, veröffentlicht. Der Fassung von 1848 ging eine freie Übersetzung voraus, die 1843 in der Zeit des Vormärz entstanden ist. (s. Abschnitt Version 1843).

Die Melodie von Burns Gedicht geht auf die schottische Weise von Lady McIntosh’s Reel zurück. Diese Melodie liegt auch den beiden Versionen von Freiligraths Text zugrunde. Als musikalische Begleitung hat sie sich in Deutschland allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt (vgl. David Robb und Eckard John im Historisch-kritischen Liederlexikon).

Das im Originaltext von Burns zum Motto gewordene „for all that“ (dt. trotzdem) greift Freiligrath auch in seiner Version Trotz alledem von 1848 auf. Nach den gescheiterten Barrikadenaufständen in Berlin und Wien und der auf der Stelle tretenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, die ohnehin keine legislativen Rechte hatte, scheint der Traum von einer besseren Welt ausgeträumt zu sein.

Interpretation

Nach der Aufbruchsstimmung im Vormärz bricht die Reaktion wie ein kalter Winter über die demokratisch Gesinnten ein. Bereits 1844 war Freiligrath ins Ausland geflohen, als ihm wegen der Veröffentlichung seiner im Selbstverlag unter dem Titel Ein Glaubensbekenntniß erschienenen politischen Gedichte (u.a. Ob Armut euer Los auch sei, s. Abschnitt Version 1843), die polizeiliche Verfolgung drohte. Im Oktober 1848 wurde ihm nach der Lesung und dem Druck seines Gedichtes Die Todten an die Lebenden wegen „Aufreizung zu hochverrätherischen Unternehmungen“ der Prozess  gemacht. Er wurde jedoch freigesprochen. Als Mitglied des Bundes der Kommunisten und aufgrund seiner aufrührerischen Gedichte und Schriften musste Freiligrath 1851 nach England emigrieren und konnte erst 1868 nach Deutschland zurückkehren.

Die zweite und dritte Strophe beschreiben, wie sich die Hoffnungen der Revolutionäre nach vorläufigen kleineren Siegen zerschlagen haben. „Die Bourgoisie am Thron, der dennoch steht“ sind die betuchten Bürger, die ihre Privilegien nicht verlieren wollen, sie stehen auf der Seite der Herrschenden, des Adels mit seinen Soldaten. Mit „Blutschuld“ ist das Niederkartätschen der Aufständischen in Berlin gemeint, „hudeln“ bedeutet hier: bevormunden des Volkes durch die Mächtigen. Die auch vom Paulskirchenparlament eingeforderten und für kurze Zeit in einigen deutschen Staaten erworbenen Menschenrechte, wie z.B. Meinungs- und Versammlungsfreiheit, werden nun wieder eingeschränkt.

Die Aufständischen werden vollständig entwaffnet, „Kraut und Lot“ (Pulver und Blei) samt der Büchsen konfisziert.

Unabhängig von den gerade erfahrenen Widrigkeiten spricht Freiligrath sich und seinen Mitkämpfern weiterhin Mut zu. So kalt wie das politische Klima auch sein mag, die Kraft des Engagements (hier „in tiefer Brust des Zornes Glut“) ist trotz alledem ungebrochen (4. Strophe). Auch wenn die mit Honoratioren, Professoren und andren Intellektuellen gespickte Nationalversammlung in Frankfurt (hier Reichstag genannt; der erste gesamtdeutsche Reichstag trat erst im März 1871 in Berlin zusammen) nach endlos erscheinenden Debatten nur wenige demokratische Forderungen umsetzen konnte, wird im Lied die Zuversicht vermittelt, dass die „Menschlichkeit“ (gemeint sind die Menschenrechte) sich letztlich doch durchsetzen wird. Da das aber offensichtlich nur mit Waffengewalt geht, fordert das Lied auf, „der Mörser Schlund“ zu füllen. „Mörser“ steht hier stellvertretend für Waffen aller Art. Es gilt, der Reaktion standzuhalten, selbst wenn es zum Äußersten kommen sollte, wie bei der Revolution von Neapel, die Ferdinand II. (1810-1859), König beider Sizilien (Süditalien), mit brutaler Gewalt niederschlagen und anschließend die Demokraten hart verfolgen ließ. Ein ähnliches Vorgehen von Seiten der Mächtigen, meint Freiligrath, könnte erst recht dazu beitragen, die Aufstände in den einzelnen Staaten erneut anzufachen. Als Alt-Achtundsechziger erinnert mich das an Maos Ausspruch „Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht!“.

In der siebten und letzten Strophe wird den Unterdrückern der Spiegel vorgehalten. Sie haben eine Politik vertreten, die nur ihnen selbst diente („Kasten“ meint hier die Kreise, die nur für das eigene Wohl eintreten). Ihnen wird gesagt, dass sie trotz aller Repressionsmaßnahmen die demokratisch Gesinnten auf Dauer nicht bezwingen können. Denn wie in der letzten Strophe trotzig gesungen wird: „Wir sind das Volk, die Menschheit wir!“. Und voller Zuversicht wird bekräftigt „unser die Welt“. Zur Erinnerung: „Wir sind das Volk“ war eine der Parolen auf den Massendemonstrationen im Herbst 1989, die am 9. Oktober, von Leipzig ausgehend, bald die ganze DDR erreichten und zur sog. Friedlichen Revolution führten.

Sollte diese siebte Strophe der Grund dafür sein, dass der über die DDR hinaus angesehenen Volksliedforscher Wolfgang Steinitz das Lied nicht in sein umfangreiches (über 1.200 Seiten) Standardwerk Der Große Steinitz aufgenommen hat, und das angesichts des Untertitels „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“? Wenn man bedenkt, dass „das sozialkritische Lied ‚Trotz alledem‘ eines der am meisten rezipierten Lieder der 1848er Revolution“ ist (Robb/John), dann ist die Nichtaufnahme bemerkenswert, zumal andere politische Lieder aus der Zeit, z.B. das Bürgerlied (s. Interpretation) und In dem Kerker saßen (Die freie Republik) durchaus im Großen Steinitz zu finden sind.

Version von 1843

1. Ob Armut euer Los auch sei,
Hebt hoch die Stirn, trotz alledem!
Geht kühn den feigen Knecht vorbei;
Wagt’s, arm zu sein trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz niederm Plack und alledem,
Der Rang ist das Gepräge nur,
Der Mann das Gold trotz alledem.

2. Und sitzt ihr auch beim kargen Mahl
In Zwilch und Lein und alledem,
Gönnt Schurken Samt und Goldpokal –
Ein Mann ist Mann trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Prunk und Pracht und alledem!
Der brave Mann, wie dürftig auch,
Ist König doch trotz alledem!

3. Heißt „gnäd’ger Herr“ das Bürschchen dort,
Man sieht’s am Stolz und alledem;
Doch lenkt auch Hunderte sein Wort,
’s ist nur ein Tropf trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Trotz Band und Stern und alledem!
Der Mann von unabhängigem Sinn
Sieht zu, und lacht zu alledem!

4. Ein Fürst macht Ritter, wenn er spricht,
Mit Sporn und Schild und alledem:
Den braven Mann kreiert er nicht,
Der steht zu hoch trotz alledem:
Trotz alledem und alledem!
Trotz Würdenschnack und alledem –
Des innern Wertes stolz Gefühl
Läuft doch den Rang ab alledem!

5. Drum jeder fleh‘, daß es gescheh‘,
Wie es geschieht trotz alledem,
Daß Wert und Kern, so nah wie fern,
Den Sieg erringt trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Es kommt dazu trotz alledem,
Daß rings der Mensch die Bruderhand
Dem Menschen reicht trotz alledem!

Der Fassung von 1848 ging die o. a. freie Übersetzung voraus, die Freiligrath 1843 in der Zeit des Vormärz enger an die Fassung von Robert Burns A Man’s a Man for a‘ that anlehnte. In dieser  Version mit dem ersten Vers „Ob Armut euer Los auch sei“ werden in den beiden ersten Strophen die Lebensumstände armer Leute („karges Mahl“, „niederm Plack“, als niedrig angesehene Arbeit, gekleidet in „Zwilch“, derbe Arbeitskleidung) dem „Gepräge“ reicher Leute („Prunk und Pracht“, „Samt und Goldpokal“) gegenübergestellt.

Zugleich werden die Armen ermuntert, den Kopf nicht hängen zu lassen (hier „hebt hoch die Stirn“), denn der „Rang“ (der Titel, wie z.B. Freiherr, Fürst, Kammerherr oder Amtsrat) sei nur etwas Äußerliches. Der wahre Wert eines Menschen („the man’s the gold“, hier „der Mann das Gold“) zeigt sich Im Inneren; der wirkliche König ist „der brave Mann“. Und zur Bekräftigung taucht hier wie auch in den anderen Strophen die Formel „for all that“ auf, die Freiligrath kongenial mit „trotz alledem“ übersetzt hat.

Auch die dritte und vierte Strophe von Ob Armut euer Los auch sei stellt die sogenannten höheren Stände in Frage, bei denen vieles nur Schein ist („Band und Stern“) und die nur ihresgleichen fördern, nicht aber den „braven Mann“. Doch ein „Mann von unabhängigem Sinn“ kann nur darüber lachen; er ist sich seiner innere Werte bewusst und steht damit über „Würdenschnack und alledem“.

Darum (so in der fünften Strophe) möge jedermann flehen (im Original „let us pray“), dass „Werth und Kern“ (im Original „sense and worth“ – im Sinne von Gemeinsinn und die wahren Werte – überall den Sieg davon tragen werden und sich alle Menschen „die Bruderhand reichen“, (siehe auch die Grundsätze der französischen Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Schillers Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder“.

Das Gedicht wurde sofort nach seinem Erscheinen verboten. Eine übergeordnete Zensurbehörde bestätigte das Verbot „wegen der falschen Freiheitsideen“ (vgl. Friz/Schmeckenbecher: Es wollt ein Bauer früh aufstehen, 1981, S. 257).

Rezeption

Freiligraths 1843 verfasstes Ob Armut euer Los auch sei „war in den Tagen der Revolution 1848 das tatsächlich verbreitete ‚Trotz alledem-Lied’“. 1847 ist es in dem von Heinrich Hoff verlegten Deutschen Volksliederbuch und danach (vermutlich ist die zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeint, d. V.) „auch in den dezidiert republikanischen Liederbüchern“ erschienen. Dagegen spielte Freiligraths Version von 1848 Es war ne heiße Märzenszeit „im Liedrepertoire der Arbeiterbewegung bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gar keine Rolle.“ (Robb/John).

Insgesamt finden sich für das „Märzenzeit“-Lied bis 1945 „nur wenige Rezeptionsbelege“ (ebd.). Eine Ausnahme bildet das Liederbuch Der freie Turner des Arbeiter-Turn-Verlags, das sowohl Ob Armut euer Los auch sei als auch Es war ne heiße Märzenzeit enthielt und 1921 in der 18. Auflage erschien, wobei die Anzahl der Druckexemplare mir nicht bekannt ist. Ausgehend von den mir in Online-Archiven und Privatsammlungen zugänglichen Liederbüchern ist es beachtlich, dass das Lied in keinem Liederbuch der Wandervogelbewegung oder der bündischen Jugend zu finden ist.

Auch von 1933 bis 1945 ist es in kein Liederbuch aufgenommen worden. Eine Erinnerung an die Märzrevolution 1848 mit ihren Forderungen nach Menschenrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit passte nicht zur „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“-Ideologie der Nationalsozialisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das erste Liederbuch mit beiden Versionen 1948 im Ernst Busch Verlag der DDR heraus: Internationale Arbeiterlieder, das 1953 bereits in der 23. Auflage erschien. Auch die Freie Deutschen Jugend nahm das Lied in ihr Liederbuch Leben, kämpfen, singen auf (10. Auflage 1964).

Danach wurde die Version von 1848 im Rahmen „der Wiederbelebung von ‚demokratischen Volksliedern‘ seit den 1960er Jahren – ausgehend von Peter Rohlands bahnbrechendem 1848er Programm von etlichen west- und ostdeutschen Liedermachern und Folkgruppen gesungen“ (Robb/John).

In der BRD trugen seit 1975 die ersten Schallplatten mit Trotz alledem von Hannes Wader, LP Volkssänger, die Folkgruppe Fiedel Michel auf Fiedel Michel No. 4 (beide 1975) und Peter Rohland, Lieder deutscher Demokraten (1976) zu dessen Popularität bei. Bis 2013 kamen von Hannes Wader 10 Tonträger mit dem Lied Trotz alledem heraus, zwei davon mit Nachdichtungen (s. u.).

Die ersten Liederbücher folgten ab 1976: Lieder- und Tanzbuch deutscher Folklore der Folkgruppe Fiedel Michel. 1977 schloss sich die weitverbreitete Liederkiste des Vereins „Student für Europa, Student für Berlin“ an und auch das umfangreiche Liederbuch Es wollt ein Bauer früh aufstehn, herausgegeben von Thomas Friz und Erich Schmeckenbecher der Gruppe Zupfgeigenhansel (1978 mit einer Auflage von 11. bis 30. Tsd.). Für Gitarristen und solche, die es werden wollten, wurde Das Folk-Buch (1979) von Peter Bursch zur Fibel, die weite Verbreitung fand.

Danach erschienen nur noch wenige Liederbücher mit dem Lied; sie wurden vorwiegend von Pfadfinderverbänden und deren Stämmen herausgegeben. Auffällig ist, dass bedeutende Liedersammlungen wie Deutsche Lieder des Volksliedforschers Ernst Klusen oder Das große Buch der Volkslieder des Germanisten Heinz Rölleke das Lied nicht enthalten. Auch das auflagenstärkste deutsche Liederbuch Die Mundorgel hat es nicht in sein Repertoire aufgenommen (zum Großen Steinitz s.o.).

Jedoch gibt es andere Anzeichen für die Popularität eines Liedes, nämlich ob und wie häufig das Incipit (der Titel oder der erste Vers eines Liedes) verwendet wird. Der Katalog des Deutschen Musikarchivs führt fast 100 Bücher auf, von denen etwa je zur Hälfte Trotz alledem als Einzeltitel bzw. im Titel führen. Auch ein Theaterstück über „Geschichte aus dem Frühling“ 1949 und der DEFA-Film über Karl Liebknecht tragen den Titel „Trotz alledem“. Bereits 1935 war eine Kampfschrift mit dem Titel „Der rote Mai – unser 1. Mai – Trotz alledem“ als Untergrundpresse erschienen.

Zusätzlich bietet die Anzahl der Um- und Nachdichtungen auf die Melodie einen Hinweis auf die Beliebtheit und Verbreitung eines Liedes. Von den im Historisch-kritischen Liederlexikon erwähnten zahlreichen Versionen und bei YouTube zu findenden weiteren Fassungen soll hier auf die Versionen von Hannes Wader und Wolf Biermann hingewiesen werden (s. u.).

Hannes Wader, der sich anfangs nicht als politischer Liedermacher verstand, wandte sich in den 1970er Jahren auch politischen Themen zu. Es war die Zeit der Friedensbewegung (vgl. Hannes Wader Es ist an der Zeit, 1974), des Ansteigens der Anzahl der Kriegsdienstverweigerer und der Enttäuschung über die SPD, die 1968 in der Großen Koalition mit großer Mehrheit den Notstandsgesetzen zugestimmt hatte, und der Berufsverbote. Dazu schrieb Wader 1977 auf die Melodie von Trotz alledem ein Lied, dessen erste Strophe wie folgt lautet:

1. Wir hofften in den Sechzigern
trotz Pop und Spuk und alledem
es würde nun den Bonner Herrn
scharf eingeheizt trotz alledem!
Doch ist es kalt, trotz alledem,
trotz SPD und alledem.
Ein schnöder scharfer Winterwind
durchfröstelt uns trotz alledem.

Der Liedermacher Wolf Biermann, ausgebürgert aus der DDR 1976, hat 1977 Es war ne heiße Märzenszeit in ein antikapitalistisches Lied umgedichtet, das 1978 auf der LP Trotz alledem veröffentlicht wurde. Hier die erste Strophe:

Du gehst auf Arbeit und kriegst Lohn
Und gibst dem Boss trotz alledem
Dein Arbeitgeber nimmt ja bloß
Er nimmt dich aus, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Und sie reden groß von Partnerschaft
Doch Boss bleibt Boss, er herrscht und rafft
Und saugt uns aus, trotz alledem!

Biermann beklagt die sozialen Zustände wie Ausbeutung und Arbeitshetze sowie die die steigende Arbeitslosigkeit. Bertolt Brechts „Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch“ greift er auf mit den Worten „Die Nazis kriechen aus dem Loch mit Hakenkreuz und alledem“. In den weiteren Strophen geht Biermann auf den Pariser Mai (1968) (Arbeiter und Studenten prangerten die unzureichenden Arbeits- und Studienbedingungen an und protestierten gegen die damit einhergehende Repression) und den Prager Frühling ein, in dem trotz der Niederschlag der demokratischen Bewegung durch „fünf Invasionsarmeen“ es „trotz alledem weitergehen“ werde.

Ferner ist Biermann zuversichtlich, dass der DDR-Philosoph Rudolf Bahro, der nach der in der BRD erfolgten Veröffentlichung seines systemkritischen Buches „Die Alternative“ wegen konstruierter „landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ und „Geheimnisverrats“ in das Sondergefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit verbracht wurde, sich von der Stasi trotz „Einzelhaft und Schreibverbot“ nicht innerlich brechen lässt.

In den letzten beiden Strophen knüpft Biermann an das von Freiligrath in der Fassung von 1848 benutzte Bild vom „schnöden kalten Winterwind“ an. Auch ein erneuter Kalter Krieg lässt die demokratisch Gesinnten zwar „frieren“, doch „zittern (wohl) vor Kälte bloß“ und – wie Biermann meint – „aufrecht gehn, trotz alledem“.

Inspiriert von Waders Wir hofften in den Sechzigern verfasste eine „Naturfreundin“ auf einem Bundeskultur-Seminar der „Naturfreunde“ 1987 einen Text zum Thema Der gläserne Mensch mit Kritik an der mit Hilfe moderner Technik ermöglichten Überwachung der Kommunikationsmittel:

Wir hofften in den Achtzigern,
trotz BTX und alledem,
es würde uns ein Ausweg bleiben,
trotz BTX und alledem.
Doch nun ist es kalt, trotz alledem,
trotz Datenschutz und alledem.
Ein schnöder, scharfer Kabelwind
durchfröstelt uns, trotz alledem.

Nun hat der Staat samt Datenbank
verkabelt uns, trotz alledem.
Uns ist es kalt am Arbeitsplatz
und auch zu Haus und alledem.
Wir bauen auf die Menschlichkeit
wir bauen auf Gemeinsamkeit,
wir bauen auf den Widerstand,
der allen hilft trotz alledem.

[Dank an die Verfasserin Meike Walther, Naturfreunde Barsinghausen]

Exkurs: Die 1983 eingeführte BTX-Technik (nicht zu verwechseln mit dem heutigen Teletext) war ein interaktiver Onlinedienst, der Telefon und Fernsehbildschirm Bildschirm kombinierte. Der ChaosComputerClub fand etliche Schwachstellen, die es ermöglichten, z.B. bei der Hamburger Sparkasse die Klarnamen von Kontoinhabern und deren Passwort zu ermitteln. Die als Beweis abgehobenen 135.000 DM hat der CCC umgehend zurückgezahlt (s. auch Wikipedia: BTX-Hack).

Eine weitere Version von Wader wurde unter dem Titel Trotz alledem III auf der CD „Hannes Wader Lieder aus 50 Jahre veröffentlicht

Es scheint, als wenn das Kapital
in seiner Gier und alledem
wie eine Seuche sich total
unaufhaltsam trotz alledem
über unseren Planeten legt
überwältigt und beiseite fegt
was sich ihm nicht freiwillig
unterwerfen will, trotz alledem.

Georg Nagel, Hamburg

Vorfreude statt Abschiedsschmerz: „Winter, ade“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1835)

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

Winter, ade

Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Aber dein Scheiden macht,
Daß mir das Herze lacht!
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Gerne vergeß ich dein,
Kannst immer ferne sein.
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Gehst du nicht bald nach Haus,
Lacht dich der Kuckuck aus!
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Das kleine Abschiedslied auf die Melodie des alten fränkischen Volksliedes Schätzchen ade (vgl. Kommentar im Volksliederarchiv), das sich schnell als Frühlingslied zu erkennen gibt, ist hierzulande gleichermaßen beliebt und bekannt und wird von vielen Menschen als Kinderlied betrachtet. Es verwendet einfache Worte, besitzt eine einprägsame Melodie und zeigt einen klaren gedanklichen Aufbau. In allen drei sechszeiligen Strophen redet die Sprecherinstanz die kalte Jahreszeit an, die –  solcherart personifiziert – jeweils im ersten und fünften Vers explizit verabschiedet wird: „Winter, ade!“ „Ade“ ist eine süd- bzw. südwestdeutsche Variante des französischen Abschiedsgrußes „Adieu“ („bei Gott“ im Sinne von „geh‘ zu/mit Gott“), der in ganz Deutschland bis 1914 vorherrschend war, dann aber mit der nationalistischen Sprachpropaganda zugunsten von „Auf Wiedersehen!“ zurückgedrängt wurde (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Adieu).

Die erste Strophe führt das gedanklich leicht auflösbare Paradox aus, dass Abschiede zwar im Allgemeinen schmerzen, in diesem Fall aber entgegengesetzte Gefühle auslösen. Der Winter verkörpert für die Sprecherinstanz ganz offensichtlich die unwirtliche, karge, beschwerliche und trostlose Jahreszeit, deren Ende die Menschen kaum erwarten können. Das Lied wurde von Hoffmann von Fallersleben 1835 gedichtet, in einer Zeit harter Hungerjahre, als viele Deutsche aus purer Not ihr Land verlassen mussten.

In der zweiten Strophe des Liedes schickt das Sprecher-Ich dem Winter noch die Verwünschung hinterdrein, dass er ihm gerne für immer gestohlen bleiben könne:

Gerne vergeß ich dein,
Kannst immer ferne sein.

In der dritten Strophe rahmen die Refrainverse einen Satz, der als Warnung oder sogar als Drohung zu verstehen ist:

Gehst du nicht bald nach Haus,
Lacht dich der Kuckuck aus!

Erst jetzt wird dem Hörer klar, dass der Winter sein Ränzlein offenbar doch noch nicht geschnürt hat, sondern seinen vom Sprecher so sehnlichst erwarteten Abschied hinauszögert. Der häufig wiederholte Abschiedsgruß „Winter ade“ war offensichtlich an einen abschiedsunwilligen ,Gast‘ gerichtet gewesen. Ob die formal-logisch als materiale Implikation (,wenn-dann-Konstruktion‘) formulierte Wendung als Warnung oder Drohung zu betrachten ist, ergibt sich aus der Einschätzung der Beziehung zwischen Sprecherinstanz und Adressaten: Wie sehr sind sich die beiden feind und wie ist das Machtgefälle zwischen beiden einzuschätzen? Vielleicht spielt dabei auch eine Rolle, wie ,bedrohlich‘ das Gespött des Kuckucks dem Winter überhaupt erscheinen mag. Aus unserer Erfahrung mit dem Gang der Jahreszeiten glauben wir zu wissen, dass der Winter mit dem Fortschreiten des Kalenderjahres keine wirkliche Chance mehr hat. Die Sprecherinstanz scheint sich auch auf diesen natürlichen Gang der Dinge zu verlassen, wenn sie sich dem Winter gegenüber einen solch kecken Ton anmaßt. Die Klimageschichte lehrt allerdings, dass es vom Anfang des 15. bis deutlich in das 19. Jahrhundert hinein in Mitteleuropa eine sogenannte ,kleine Eiszeit‘ mit vielen kühlen, verregneten Sommern und entsprechenden Missernten gegeben hat. Insofern schwingt in der zuversichtlich vorgetragenen Verabschiedung des Winters in unserem Lied von 1835 auch eine Portion Optimismus bzw. Wunschdenken mit.

Mit dem Kuckuck verbinden sich traditionell viele unterschiedliche Assoziationen; unser Lied macht allerdings explizit nur von zwei Semantisierungen Gebrauch: der Kuckuck als Spottvogel und als Frühlingsbote.( Eventuell könnte man – bezogen auf den nachfolgend zu besprechenden Hintersinn des Liedes – auch noch an die Rolle des Kuckucks als Prophet denken, der auf die Frage, wie viele Lebensjahre einem noch bleiben, mit seinem Ruf antwortet.)

Ein kleiner Kommentar zu unserem Lied im Volksliederarchiv weist allerdings auch darauf hin, dass der Kuckuck ein Freiheitssymbol der 1848er Revolution gewesen ist und Hoffmann von Fallerslebens Frühlingslied als revolutionärer Text verstanden werden kann. Vieles spricht in der Tat für eine solche zweite Bedeutungsebene des Textes, z.B. die eindeutige politische Symbolik der kalten Jahreszeit (vgl. etwa Heine, Deutschland, ein Wintermärchen). Zu Zeiten des Systems Metternich war es für politische Dichter nicht ratsam, die Abschaffung der repressiven Verhältnisse  offen zu fordern; insofern versteckten Vormärz-Schriftsteller ihre subversiven Botschaften gerne hinter Metaphern und das zeitgenössische Publikum war im Entziffern solcher Texte durchaus versiert. Mit welchen Sanktionen man zu rechnen hatte, wenn man der Obrigkeit unangenehm auffiel, war den Zeitgenossen dank vieler böser Exempel höchst bewusst. Angesichts solcher Rahmenbedingungen ist es erstaunlich, dass Hoffmann sich der politischen Dichtung ausgerechnet nach 1831 mit Vehemenz zuwandte, nachdem er sich durch seine Berufung zum (zunächst a.o., 1835 sogar zum ordentlichen) Professor endlich in einer bürgerlich gefestigten Position etabliert hatte.

Wie v. Wintzingerode-Knorr ausführt, agierte Hoffmann damals gegen die ausdrücklichen Bedenken seiner Freunde, indem er mit der Publikation seiner Unpolitischen Lieder 1840 „sehenden Auges ins Verderben“ marschierte (Karl-Wilhelm Frhr. V. W.-K.: Hoffmann von Fallersleben. Ein Leben im 19. Jahrhundert. In: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1998. Festschrift zum 200. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Joachim Behr, Herbert Blume und Eberhard Rohse. Bielefeld 1999, = Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 1, S. 11-33, hier S. 26). Der Kommentar des Volksliedarchivs weist allerdings auch zu Recht darauf hin, dass der politische Bezug des hier behandelten Liedes nicht zwingend hergestellt werden musste; ansonsten wäre es auch kaum erklärlich, dass es in Preußen vor dem ersten Weltkrieg im Lehrplan der ersten Klasse stand. Für eine politisch harmlose Aufnahme von Winter ade! spricht der Umstand, dass sich Hoffmann 1835 mit dem Musiklehrer Ernst Richter zusammengefunden hatte, um eine Sammlung schlesischer Volkslieder zu betreiben, wobei er für etliche von Richter aufgetriebene Melodien passende Texte entweder in seiner Bibliothek fand oder selber neu verfasste (vgl. Ingeborg Gansberg: Volksliedsammlungen und historischer Kontext. Kontinuität über zwei Jahrhunderte? Frankfurt a. M. 1986, = Europäische Hochschulschriften XXXVI/17, S. 170).

Eine Einordnung als Volks- bzw. Kinderlied wurde somit also auch dadurch gestützt, dass Hoffmann viele weitere populäre und wohl auch politisch unbedenkliche Lieder wie Alle Vögel sind schon da,  Summ, summ, summ,  Kuckuck! Kuckuck! ruft’s aus dem Wald (alle ebenfalls 1835), Ein Männlein steht im Walde (1843), Der Kuckuck und der Esel (?) und andere mehr geschrieben hatte. Ferner hatte sich der Dichter durch seine einschlägigen Forschungen und Editionen schon einen erheblichen Ruf als Germanist erarbeitet, den er in späteren Jahren noch ausbaute. Heute gilt er sogar als der Vorbereiter der modernen Volksliedforschung (vgl. Otto Holzapfel: Hoffmann und der Beginn kritischer Volksliedforschung in Deutschland. In: Festschrift zum 200. Geburtstag, 1999, S. 183-198).

Der Kuckuck wurde übrigens nicht erst im Zuge der 1948er Revolution (s.o.), sondern schon im 18. Jahrhundert als Freiheitssymbol in deutschsprachigem Liedgut zum Einsatz gebracht. Einen Beleg liefert z.B. das auch heute noch recht bekannte Volkslied Auf einem Baum ein Kuckuck (vgl. http://www.volksliederarchiv.de/text434.html). Dass diese Verbindung des Brutparasiten mit freiheitlichen Konnotationen nie völlig in Vergessenheit geraten ist, zeigen neuere Aufnahmen dieses Liedes durch Sänger wie Hannes Wader oder Rio Reiser.

Hans-Peter Ecker, Bamberg