Nächstenliebe ohne Selbstaufgabe: „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind“
11. November 2017 Hinterlasse einen Kommentar
Anonym Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Roß das trug ihn fort geschwind. Sankt Martin ritt mit leichtem Mut: sein Mantel deckt' ihn warm und gut. Im Schnee saß, im Schnee saß, im Schnee da saß ein armer Mann, hatt' Kleider nicht, hatt' Lumpen an. "O helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bittre Frost mein Tod!" Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin zog die Zügel an, sein Roß stand still beim armen Mann, Sankt Martin mit dem Schwerte teilt' den warmen Mantel unverweilt. Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin gab den halben still, der Bettler rasch ihm danken will. Sankt Martin aber ritt in Eil' hinweg mit seinem Mantelteil.
Heilige, lange zentraler Bestandteil des Volksglaubens als in allen erdenklichen Notsituationen anzurufende Schutzpatrone, haben in den vergangenen Jahrzehnten massiv an Popularität verloren. Das mag zum einen daran liegen, dass das Gefühl, allen möglichen Gefahren vom Sturm auf See bis zum Blitzschlag hilflos ausgeliefert zu sein und also des übernatürlichen Beistands permanent zu bedürfen, in aufgeklärten und hochtechnisierten wohlhabenden Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften nachgelassen hat. Zum anderen könnte gerade ein wichtiger Faktor, der ehemals für die immense Beliebtheit von Heiligen mitverantwortlich war, dazu beigetragen haben, dass die meisten von ihnen mittlerweile aus dem allgemeinen Bewusstsein verschunden sind: ihre meistens grausamen und oft bizarren Todesumstände. In Zeiten, in denen Sakralkunst wo nicht gar die einzige, so doch eine zentrale Kunstform darstellte, boten gerade die Märtyrerlegenden der frühen christlichen Heiligen (von den besonders im deutschsprachigen Raum beliebten vierzehn Notehlfern ist nur ein einziger nicht als Märtyter gestorben) Stoff für drastische Darstellungen, die, speziell bei Märtyrerinnen, auch Nacktheit zuließen, – heute würde man von Splatter oder zuweilen gar von Torture Porn sprechen.
Der von Pfeilen durchbohrte heilige Sebastian mit seinem oft zwischen Schmerz und Verzückung oszillierenden Gesichtsausdruck stellt hier eine der bekanntesten, aber auch eine der noch harmlosesten Varianten dar. Der heilige Dionysius von Paris beispielsweise soll nach seiner Enthauptung seinen abgeschlagenen Kopf genommen und in einer nahen Quelle gewaschen haben, um danach zu einem sechs Kilometer entfernten Ort zu gehen, wo er begraben werden wollte – in künstlerischen Darstellungen trägt er dabei zuweilen seinen Kopf in den Händen, obwohl der ihm gleichzeitig noch auf den Schultern sitzt. Und die Symbole der ‚heiligen drei Madl“, bekannt aus dem Merkvers „Margaretha mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl“, deuten ebenfalls auf grotesk-grausame Märtyrien hin: Margaretha von Antiochia musste sich nicht nur im Gefängnis eines Drachens – des (Lind-)’Wurms‘ – erwehren, sondern wurde zudem ohne Ergebnis mit Fackeln versengt und in Öl gebraten, bevor sie schließlich enthauptet wurde; Barbara von Nikomedien wurde von ihrem Vater zunächst in einemm Turm inhaftiert, dann auf Geheiß des römischen Statthalters gefoltert, dass ihr die Haut in Fetzen vom Körper hing, und, als ihre Wunden von Christus geheilt worden waren, mit Keulen geschlagen, bevor ihr die Brüste abgetrennt, sie mit Fackeln gequält und sie schließlich von ihrem eigenen Vater enthauptet wurde; Katharina von Alexandrien schließlich sollte nach zwölftägiger Geißelung durch mehrere Räder, an denen Sägen und Nägel angebracht waren, getötet werden, was jedoch ein Engel verhinderte, woraufhin auch sie enthauptet wurde; aus ihren Wunden soll statt Blut Milch geflossen sein.
Man kann sich gut vorstellen, dass diese Legenden nicht nur auf Erwachsene, sondern gerade auch auf Kinder eine große Faszination ausgeübt haben dürften. Gerade im frühen Kinderalter, in dem erste religiöse Vorstellungen typischerweise vermittelt werden, dürfte man heute im Sinne einer Bewahrpädagogik aber derartige Überlieferungen aussparen. Und so hat auch die Popularität von Heiligen massiv abgenommen. Der heilige Florian von Lorch ist zwar, meistens dargestellt als überdimensionierte Figur in römischer Legionärsrüstung, die mit einem Eimer ein brennendes Haus löscht, als Wandmalerei noch an vielen Feuerwachen zu sehen; seine Legende besteht aber auch wieder vornehmlich aus seinem Märtyrium, bei dem er, nachdem ihm die Schulterblätter mit geschärften Eisen gebrochen worden waren, ertränkt wurde – daher ursprünglich der Wasserkübel als Symbol. Neben der drastischen Grausamkeit, die man Kindern heute nicht mehr zumuten möchte, erscheint auch der religionsdidaktische Gehalt der meisten Heiligenlegenden wenig zeitgemäß: Stets geht es darum, um des Glaubens willen den schlimmsten irdischen Qualen zu widerstehen.
Hier bildet der heilige Martin von Tours in doppelter Hinsicht eine Ausnahme: Zum einen erlitt er keinen Märtyrertod, sondern wurde erst nach der konstantinischen Wende geboren und lebte ein langes Leben, in dessen Verlauf er zum Bischof aufstieg. Zum anderen illustriert die Episode der Legende, die für die Ikonographie bis heute prägend ist, eine andere christliche Tugend als die der unbedingten Beständigkeit im Glauben: die Nächstenliebe. Beides prädestiniert Martin zum idealen Heiligen bereits für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter – nicht zuletzt deshalb, weil er den Mantel eben nur teilt und nicht ganz weggibt.
Das bekannte Volkslied über ihn, das fester Bestandteil des Liederrepertoirs bei Laternenumzügen am Martinstag ist, umfasste im Liederschatz für katholische Vereinigungen aller Art 1904 noch 20 Strophen (siehe Lieder-Archiv), jedoch kann die ausschließliche Kanonisierung der ersten vier als Ausdruck ästhetischer Kompetenz der vielen aktiven Rezipientinnen und Rezipienten gesehen werden. Denn aus der ausufernden Schilderung der spirituellen Erlebnisse und des kirchlichen Wirkens des Heiligen ist so ein relativ kurzer, einprägsamer erzählender Liedtext geworden, der zudem mit einer schönen inhaltlichen wie sprachlichen Schlusspointe versehen ist.
Die erste Strophe hebt anschaulich die Qualitäten des Legionärsmatels hervor und stellt so sicher, dass dessen spätere Teilung auch angemessen gewürdigt wird. Die zweite Strophe erweckt Mitleid mit dem Armen und führt dessen existentiell bedrohliche Situation in seiner wörtlichen Rede drastisch vor Augen. In der dritten Strophe wird deutlich, dass Martin aus einer tief empfundenen Regung und einer festen Überzeugung heraus handelt, da er nicht zögert, wie sowohl das Bild des angehaltenen Pferdes als auch das schöne Wort „unverweilt“ hervorheben. Die vierte Strophe schließlich bricht die feierliche Stimmung, die noch durch die Melodie verstärkt wird, indem sie eben nicht, wie man nach den ersten zwei Versen erwartet, mit dem Dank des armen Mannes und der Lobpreisung des Heiligen schließt, sondern damit, dass Sankt Martin schnell davonreitet – ob aus Bescheidenheit, weil er sich nicht für etwas danken lassen will, das für ihn selbstvesrtändlich ist, oder, weil der nunmehr nur noch halbe Mantel ihn eben nicht mehr so behaglich wärmt wie in der ersten Strophe und er schnell an sein Ziel gelangen möchte, bleibt offen. Beide Interpretationen bringen einem den Heiligen jedoch näher: Die erste macht ihn zusätzlich sympathisch, die zweite vergegenwärtigt, dass es sich um einen Menschen mit ganz banalen körperlichen Empfindungen gehandelt hat.
Auf sprachlicher Ebene wird das Pathos durch das Augenblickskompositum „Mantelteil“ gebrochen, das eine komische Wirkung entfaltet. Dieses komische Element baut eine bei Kindergartenkindern sehr beliebte mündlich tradierte Umdichtung aus:
Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Pommes und Salat,
sein Ross steht still am Colaautomat,
Sankt Martin wirft ne Münze ein
und trinkt die Cola ganz allein.
Diese Version frönt zum einen der (nicht nur) kindlichen Freude am Unsinn: Der Ritt durch Pommes und Salat mutet surreal an, und ist zudem, ebenso wie der Halt am Colaautomat, grob ahistorisch. Zum anderen konterkariert sie aber auch den offenkundig sehr wohl wahrgenommenen pädagogischen Impetus – Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt -, indem betont wird, dass Sankt Martin die Cola „ganz allein“ trinkt und also eben nicht teilt. Aber solange ein Lied parodiert wird, wird es noch ernst genommen. Insofern muss einem um die Bekanntheit und Beliebtheit des heiligen Martin nicht bange sein. Und eine Ikone der Nächstenliebe ohne Selbstaufgabe ist wohl durchaus auch zeitgemäß.
Martin Rehfeldt, Bamberg