Mord und Schlager. Zu „Das bißchen Totschlag“ von Die Goldenen Zitronen

Die goldenen Zitronen

Das bißchen Totschlag

So so, betroffen und zornig, so plötzlich
Sie hatten nachgezählt, sie entschieden 17 Tote
Seien jetzt genug
Ja, die Härte des Rechtsstaats
Ganz genau, zumal es waren anständige Ausländer
Steuerzahlende Möllner, fast wie du und ich
Nachbarn können das bezeugen, "Heil Hitler" wurde gesagt
Der erste Tote dieses Wochenendes wurde nicht mit aufgeführt
Sogenannter Autonomer, abgestochen von stolzen Deutschen
Verblutet auf dem Bahnsteig, mitten in Berlin
Aber, aber, nichts weiter als "rivalisierende Jugendbanden"

Das bißchen Totschlag bringt uns nicht gleich um
Hier fliegen nicht gleich die Löcher aus dem Käse, sagt mein Mann
Take it easy, altes Haus, wir haben schon Schlimmeres geseh’n
So einfach wird der alte Dampfer auch nicht untergeh’n

Genau genommen war man auch schon vorher ab und zu
Betroffen gewesen, am 8. November '92 in Berlin etwa
60.000, alle mit dabei, die Würde des Menschen
Und die höchsten Würdenträger
Ja, betroffen, unerwartet gab es den Kursus "Gewalt sinnlich erleben"
Nazis? Fast. Autonome sogenannte selbsternannte Menschenfreunde
Und schon fühlte man sich auch ein bißchen fremdengehaßt
Sie hatten nämlich Angst, denn es flogen - nein, keine Brandsätze
Aber Eier, und die nicht zu knapp
Doch sie blieben tapfer, sie würden sich nicht beugen
Vor welchem Mob auch immer
Und übrigens auch nicht vor Mißbräuchern und Schmarotzern
Der, wie sagt man, Flut eben
Letzteres sagten sie anderntags nicht zu laut
In sachlichem Ton und mit vereinigten Kräften
Brachten sie ihr Gesetz durch

Das bißchen Totschlag bringt uns nicht gleich um [...]

Ja, und dann, wie gesagt, sie hatten nachgezählt
Ging ein Ruck durch die deutsche Mannschaft
Muß ja, das Gerede wurde lauter und lauter
Außerhalb des deutschen Planeten
Also nichts wie "Pack die Lichterkette ein, nimm’ dein kleines Schwesterlein"
Schweigen gegen den Haß, in der schönen Weihnachtszeit
Ein Zeichen setzen. Nein, hier wurde niemand ausgegrenzt
Im Wettbewerb der Leuchten. Mancherorts leuchtete man gar
Gegen Haß und alliierte Bomben. Rabimmel, rabammel, rabumm
Nun denn, Schultern geklopft, Hände geschüttelt
Nun war’s amtlich, man hatte kollektiv böse geträumt
Und nicht schlimmer als anderswo übrigens
Herrgottsack, rabammel, rabumm

Das bißchen Totschlag bringt uns nicht gleich um [...]

Das bißchen Totschlag bringt uns nicht gleich um, sagt mein Mann
Ich kann den ganzen Scheiß einfach nicht mehr hör’n, sagt mein Mann
Ist ja gut jetzt, altes Haus, wir haben schon Schlimmeres geseh’n
Und ich sag noch: Laß uns endlich mal zur Tagesordnung übergeh’n 
Right

     [Die goldenen Zitronen: Das bißchen Totschlag. Sub-Up-Records 1994.]

Als Anfang der 1990er Jahre rechter Terror schon einmal ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit kam, insbesonderen durch die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie den Mordanschlag von Mölln, reagierten viele Musiker mit Liedern darauf. Die bekanntesten bedienen sich dabei einer denunzierenden Psychologisierung, die den Typus des neonazistischen Gewalttäters, der sich selbst i.d.R. als starken, mann-männlichen Kämpfer inszeniert, als verunsicherten, ängstlichen und hilfsbedürftigen Versager portraitieren: Sascha, ein aufrechter Deutscher von Die Toten Hosen (1992), Schrei nach Liebe von Die Ärzte (1993) und Die Härte von Herbert Grönemeyer (1993).

Die Goldenen Zitronen veröffentlichten 1994 hingegen mit Das bißchen Totschlag ein Meta-Lied zum Umgang der Politik und der Öffentlichkeit mit dem Thema. In den Strophen referiert eine nicht näher bestimmte Sprechinstanz sarkastisch das, was aus ihrer Sicht den Tenor der öffentlichen Meinung darstellt. Dabei geht sie in der ersten Strophe auf die Reaktion auf die Morde von Mölln ein. Der erste implizite Vorwurf der Sprechinstanz an die Mehrheitsgesellschaft lautet, dass das Phänomen rechten Terrors schon lange vorher bekannt war („so plötzlich / Sie hatten nachgezählt, sie entschieden 17 Tote / Seien jetzt genug- :“). Der zweite Vorwurf besteht darin, dass die besondere Hervorhebung des Umstands, dass die Opfer gesetztestreu waren und einer Arbeit nachgingen, implizit rechte Stereotype bediene, denen zufolge auf Ausländer beides in der Regel nicht zuträfe; zudem impliziert die Betonung der gesellschaftlichen Nützlichkeit der Opfer im Zusammenhang mit der Verurteilung eines Mordes, dass dessen Bewertung bei sozial weniger erwünschten Opfern anders ausfallen könnte – eine perverse Spielart von „Es hat die falschen getroffen“, so, als ob es ‚richtige‘ Mordopfer gebe. Und schließlich folgt ein Vorwurf an die polizeiliche Pressearbeit und deren mediale und politische Reproduktion: Dass die Tötung des Hausbesetzers Silvio Meier durch eine Gruppe Neonazis nicht als politische rechtsradikale Straftat und schon gar nicht als rechter Terror, sondern als Ergebnis einer Auseinandersezung zwischen ‚rivalisierenden Jugendbanden‘ klassifiziert wurde, womit das Opfer kriminalisiert und mit seinem Mörder auf eine Stufe gestellt wird, stellt eine Spielart des victim blaming dar, dem Menschen, die aufgrund ihrer politischen Einstellung Opfer rechter Gewalt werden, immer wieder ausgesetzt sind.

Die zweite Strophe widmet sich der Großdemonstration unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten mit dem maximal weit gefassten Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ am am 8. November 1992, die eine Reaktion u.a. auf die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen darstellte und zu der u.a. Politiker, Kirchen und Gewerkschaften aufgerufen hatten. Diese wurde, u.a. mit Eierwürfen, von Linksautonomen gestört, die damit gegen die die aus ihrer Sicht heuchlerische Haltung der Politik protestierten, weil parallel zum Protest gegen rechtsradikale Gewalt die massive Einschränkung des Grundrechts auf Asyl vorangetrieben wurde, die am 6. Dezember 1992 im zwischen Union und SPD geschlossenen Asylkompromiss mündete. Neben dem Vorwurf, trotz gemäßigterer Rhetorik bezogen auf Asylsuchende eine ähnliche Agenda wie die rechtsradikalen Gewalttäter zu verfolgen, klingt außerdem wieder die Gleichsetzung von Rechtsradikaler und Linksradikalen an („vor welchem Mob auch immer“) und damit konkret von Eierwürfen mit Brandsatzwürfen, juristisch: von tätlicher Beleidigung mit versuchtem Mord.

Die dritte Strophe schließlich kritisiert Motivation, Form und Inhalt des öffentlichen Gedenkens an die rechtsradikalen Morde:  Als Motiv wird die negative internationale Wahrnehmung der Ereignisse in Deutschland angeführt, die Demonstrationsform der Lichterkette wird als unangemessen und unzureichend der Lächerlichkeit preisgegeben und die Inhalte der unterschiedlichen Aktionen als Whataboutism („Gegen Haß und alliierte Bomben“, „nicht schlimmer als anderswo übrigens“) und Verharmlosung („kollektiv böse geträumt“) denunziert. Dabei wird auch der Vorwurf erhoben, durch die demonstrative („Ein Zeichen setzen“) Ablehnung rechtsradikaler Verbrechen den Rassismus gemäßigterer politisch rechter Positionen und Rhetorik (vgl. Strophe 2: „Mißbräuchern und Schmarotzern / Der, wie sagt man, Flut eben“) im Bemühen um den eindruck ‚bürgerlicher‘ Geschlossenheit auszublenden („hier wurde niemand ausgegrenzt“).

Zusammengefasst lautet die in den Strophen geübte Kritik an der politischen und öffentlichen Reaktion auf den rechtsradikalen Terror der frühen 1990er Jahre also: Während man sich öffentlich von den Tätern distanziert, teilt man im Kern ihre rassistischen Grundüberzeugungen, setzt ihre politische Agenda um und kriminalisiert diejenigen, die entschiedener als mit Lichterketten gegen Rechtsradikale vorgehen. Diese Argumentation entspricht der gängigen linken Analyse rechtsradikaler Gewalt und des bürgerlichen Umgangs damit.

Ästhetisch interessanter und analytisch origineller wird das Lied im  Refrain. Denn in diesem sprechen statt der sarkastischen, politisch links stehenden Sprechinstanz der Strophen nicht  nur zwei Figuren – eine Frau und, von ihr wiedergegeben, ihr Mann -, sondern über die intertextuellen Bezüge gleich ganzes Musikgenre: der deutsche Stimmungsschlager, und zwar vor seiner postmodern-ironischen Eingemeindung in den Popkosmus durch u.a. Dieter Thomas Kuhn und Guildo Horn und erst recht vor der nachfolgenden, wieder gäntzlich unironischen Nivellierung der ehemals strikten Grenze zwischen Schlager und Pop durch den Disco-Schlager à la Helene Fischer: Zitiert werden Johanna von Koczians Das bißchen Haushalt (1977), Gottlieb Wendehals‘ Polonäse Blankenese (1981), Truck Stops Take it easy, altes Haus (1979). Zwar lässt sich Das bißchen Haushalt durchaus subversiv interpretieren, im Kontext der anderen Lieder steht es aber hier ebenso wie diese für ein un- bzw. antipolitisches Konzept von Gemütlichkeit und Stimmung, wie es etwa in Tina Yorks drohend-antiintelletuellem Wir lassen uns das Singen nicht verbieten gegen ästhetisch-politische Kritik verteidigt wird. Ganz in diesem Sinne werden in den teilweise abgewandelten Schlagerzitaten in Das bißchen Totschlag dann auch die rechtsradikalen Morde als zu vernachlässigend abgetan. Im Schlussrefrain wird das Bedürfnis nach ungestörter Normalität zunächst vom Mann, dann von der Frau explitziert: „Ich kann den ganzen Scheiß einfach nicht mehr hör’n, sagt mein Mann“, „Und ich sag noch: Laß uns endlich mal zur Tagesordnung übergeh’n“. Letztlich stören nicht mordende Neonazis sondern stört die als alarmistisch und lästig empfundene Berichterstattung darüber die gemütliche Selbstzufriedenheit. Diese gestörte Selbstzufriedenheit erscheint hier auch als nationale, denn der Schlager war seit der Nachkriegszeit auch ein exklusiv deutsches Genre in Abgrenzung zur englischsprachigen Popmusik.

Der Grund dafür, dass die beiden Figuren sich lediglich von der Berichterstattung, nicht aber vom rechtsradikalen Terror als solchem gestört fühlen, lässt sich der ersten Refrainzeile entnehmen: „Das bißchen Totschlag bringt uns nicht gleich um“. Anders als andere Formen des Terrorismus, die wahllos Zufallsopfer treffen, richtet sich rechtsradikaler Terror gegen klar abgegrenzte Gruppen: Nicht-Weiße, Juden, Muslime, Homosexuelle und Linke. Wenn man, wie offenbar das sich in den Refrains artikulierende Ehepaar, keiner dieser Gruppen angehört, kann man davon ausgehen, persönlich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zum Opfer rechtsradikaler Gewalt  zu werden.

Martin Rehfeldt, Bamberg

 

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„Sag mir wo du stehst“? Über die Verortung des Selbst und der Anderen in „030, gleiches Ambiente“ von Die Goldenen Zitronen

 

Die Goldenen Zitronen

030, gleiches Ambiente

Hey, kühles Hemd!
Ah, du kennst die?
Ja irgendwie, der Sänger geht immer in denselben Lebensmittelladen wie ich.
Echt, das ist kühl!
Du magst also auch Musik, was?
Ja, ich liebe Musik!
Auf was für Musik stehst du?
Alle Sorten.
Also ich mag Easy Listening.
Ja, ich auch, Easy Listening ist echt geil!
Wohnst du hier in der Gegend?
Ja, praktisch um die Ecke, ist ne gute Gegend zu wohnen.
Ich mag es.
Ich auch.
Apropos, ich heiße Thomas.
Hallo Thomas, ich bin Stefan. Nett dich kennen zu lernen.
Auch nett dich kennen zu lernen!
Weißt du was komisch ist? Hier ist dienstags immer ziemlich leer!
Echt?
Diese Kneipe erinnert mich an eine Kneipe in meiner Heimatstadt.
Echt? Das ist interessant!
Ja, echt verrückt!
Was machst du so?
Ich bin in der Werbung.
Oh wow, das ist stark!
Ja, ich mag Menschen
Ich auch! Ich liebe Menschen!
Kommst du oft hierher?
Ja ja...
Ich dachte, ich hab' dein Gesicht schon mal gesehen hier. Kennst du vielleicht Katrin?
Kann sein...
Wow, das ist super, ich liebe dieses Lied! Moby hat echt eine tolle Stimme.
 
Hast du den neuen Quentin Tarantino schon gesehen?
Ja, ich mag Filme.
Ernsthaft? Ich auch, ich leihe mir oft Filme aus.
Wow, ich auch!
Hör mal, ich muss jetzt los. Es war toll, sich mit dir zu unterhalten.
Ja, es war nett dich kennengelernt zu haben.
Nimm's locker, Mann!

     [Die Goldenen Zitronen: Economy Class. Sub-Up-Records 1996.]

Keine Popmusik ohne Identität, keine Identität ohne Popmusik! Simon Frith erklärte bereits 1987: „We use pop songs to create for ourselves a particular sort of self-definition, a particular place in society. The pleasure that pop music produces is a pleasure of identification – with the music we like, with the performers of that music, with the other people who like it.“ (Simon Frith: Towards an aesthetic of popular music. In: Ders.: [Hg.]: Taking popular music seriously. Selected essays. Reprinted. Aldershot: Ashgate 2008 [Ashgate contemporary thinkers on critical musicology series], S. 258–273, hier S. 264)

Identität ist – eine kulturwissenschaftliche Binsenweisheit – immer nur möglich in der Abgrenzung gegen ein anderes. Prozesse der Identitätsbildung und -sicherung stehen schon früh im Fokus der Goldenen Zitronen, etwa die Abgrenzung gegen Hardrock (Das ist Rock! – Live in Japan, Maxi Weser Label 1988) oder auch gegen Teile ihrer Fans (Schmeiß es weg auf Fuck You, Vielklang  1990). Diese Versuche der Bewahrung der eigenen Identität gegen vermeintliche oder tatsächliche Annäherungsversuche sind in den Jahren um 1990 häufig (Mutter: Du bist nicht mein Bruder auf Mutter, What’s So Funny About 1993, Tocotronic: Freiburg auf Digital ist besser, L’age d’or 1995). Im vorliegenden Stück soll ebenfalls die eigene Identität gesichert werden. Doch wovor?

Das Stück ist mit Schlagzeug, Gitarren und Orgel eigentlich klassisch instrumentiert, folgt aber keinem bekannten Lied-Schema. Strophen, Versmaß oder Refrain gibt es nicht. Der Text wird gesprochen über zwei Bassfiguren, die im Stück hindurch mit der Ausnahme eines dissonanten Gitarrensolos (01:40-02:00) alternieren. Das Stück ist eigentlich kein ‚Lied‘, weil der Text nicht auf das musikalische Arrangement bezogen ist. Text und Musik erscheinen unabhängig voneinander und im Studio nur zufällig zusammengemischt. Der Text besteht ausschließlich aus rezitiertem Dialog:

Zwei junge Männer – Stefan und Thomas – begegnen sich an einem nicht näher spezifizierten Dienstag in einer Kneipe, es läuft Musik, die Tageszeit bleibt unklar. Stefan spricht Thomas wegen seines Band-T-Shirts an, und so entspinnt sich ein Gespräch, in dem sich die beiden kennen lernen (wollen). Allerdings legt das Stück im weiteren Verlauf keinen Wert darauf, die Sprecher identifizierbar zu halten; die höchstens aus einem halben oder ganzen Satz bestehenden Dialogbeiträge sind nicht immer klar zuzuordnen.

Autoren nutzen direkte Rede und Dialoge, um ihre Figuren durch deren eigene Äußerungen zu charakterisieren. In einer so kompakten Form wie dem Songtext sind diese besonders mit Bedeutung aufgeladen. Welchen Eindruck vermittelt dieser Text von Stefan und Thomas? Was verraten ihre Gesprächsbeiträge über ihr Leben? Und was hat das eigentlich mit der Identität der Goldenen Zitronen zu tun?

Zunächst einmal handelt das Gespräch von alltäglichen Dingen – Musikgeschmack, abends Weggehen, Kneipen, mögliche gemeinsame Bekannte, Wohnen, Arbeit – das Standardrepertoire der Twentysomethings: Stefan und Thomas wohnen in der Innenstadt einer deutschen Großstadt, in der sie allerdings nicht geboren sind. Vielmehr sind sie Zugezogene und bezeichnen ihren Geburtsort immer noch als „Heimatstadt“. Zumindest Stefan arbeitet „in der Werbung“, denn er „mag Menschen“. Kulturkonsum spielt eine wichtige Rolle: Die beiden sind Musik-Fans, sie mögen „alle Sorten“ bzw. den damals neuesten Trend („Easy Listening“) und aktuelle Kinofilme. Sie sind informiert über die angesagten städtischen Viertel und machen sich Gedanken über Kneipendesign. Ihr Treffpunkt erinnert „an eine Kneipe in meiner Heimatstadt.“ Das ‚Kennen‘ spielt eine wichtige Rolle, egal ob es sich um Menschen („Katrin“) oder Kultur handelt.

Für sich genommen erscheinen die Einzeiler der jungen Menschen unauffällig, ihre Verdichtung erschafft jedoch ein Panorama der Belanglosigkeiten: Wir finden es nicht interessant, dass irgendeine Kneipe „dienstags immer ziemlich leer“ ist. Wir finden es auch nicht interessant, dass sie so ähnlich aussieht wie eine andere Kneipe – wo auch immer. Eigentlich ist es verdammt langweilig.

Diese Banalität der Informationen steht in Widerspruch zum Enthusiasmus der Dialogpartner. Diese finden alles „interessant“, „echt verrückt“ oder „stark“. Sogar Easy Listening – eine Musik, die gerade keine starken Reaktionen hervorrufen soll – wird als „echt geil“ bezeichnet. Nichts fällt ihnen leichter, als Dinge, von denen der andere erzählt, zu mögen oder sogar zu lieben. Stefan und Thomas betreiben eine gnadenlose gegenseitige Überaffirmation, die ihre Mittel laufend entwertet und daher immer noch stärkere Ausdrücke braucht. Eine Korrektur falscher Aussagen würde da nur stören, weswegen Thomas mit der Aussage durchkommt, dass Moby eine „super Stimme“ habe. Dabei übernahmen fast immer Gastsänger oder -sängerinnen die Gesangspassagen. Beide bemühen sich um die Demonstration ihres Dazugehörens, etwa durch die überkorrekte Aussprache US-amerikanischer Nachnamen („Hast Du den neuen TarantEIno schon gesehen?“) oder durch dezente Hinweise auf das Teilen der Umgebung mit Sängern von angesagten Bands.

Formal zeichnet den Dialog eine scheinbar unkonventionelle Form der Gesprächsführung aus, die mit der Tür ins Haus fällt („Du kennst die?“/„Ja irgendwie!“) und so klassische Regeln aushebelt (erst Kennenlernen, dann über T-Shirts reden!). Gleichzeitig möchten Stefan und Thomas unverbindlich bleiben („irgendwie“, „kann sein“). Solche Floskeln werden verwendet, um sich gegen Kritik abzusichern, machen aber die Verständigung über Inhalte letztlich unmöglich: „Irgendwie“ ist alles immer richtig. Die gegenseitige Bestätigung soll soziale Nähe herstellen. Räumliches Pendant dieser sozialen Nähe ist die kleinräumige Umgebung des Kiezes, wo man sich kennt (der „Lebensmittelladen“!), wo man es mag und wo die eigenen Regeln gelten.

Der fehlende Zusammenhang von Textdarbietung und musikalischem Arrangement ermöglicht den Goldenen Zitronen, die Musik als Reaktion auf den Text zu arrangieren. Diese Reaktion ist durchaus feindlich: Die zerhackten Gitarren- und Orgelfiguren sind gerade keine Zustimmung, gerade keine Affirmation; sie bilden vielmehr das musikalische Äquivalent zu Entsetzen und Hilflosigkeit angesichts der Inhaltsleere des Dialogs. Die Dissonanz des Solos macht es zum Gegenteil eines ‚Hörerlebnisses‘ und genau dies sollen wir auch vom Dialog zwischen Thomas und Stefan denken.

Wir ahnen es längst: Es geht den Goldenen Zitronen hier natürlich nicht um einen bestimmten Thomas oder Stefan. Die Goldenen Zitronen konstruieren die beiden als Prototypen der jungen Menschen, die Anfang der 1990er in Großstädte wie Hamburg oder Berlin ziehen und in den dortigen Innenstadtvierteln hoffen, Anschluss an die ‚Szene‘ zu finden, was auch immer sie darunter verstehen mögen. Die Ankunft dieses studentischen Milieus stellt eine mittlere Phase im Gentrifizierungsprozess dar. Dieses Milieu richtet seinen Geschmack nach (tatsächlichen oder imaginierten) Subkulturen und Künstlern, die in diesem Prozess als Pioniere fungieren, indem sie das symbolische Kapital und die Ästhetik bestimmter Viertel erhöhen. Ihnen folgen die besagten Studenten nach. Ihren Endpunkt findet die Gentrifizierung dann in der Aneignung des Stadtteils durch neue Mittelschichten, die oft in so genannten Kreativberufen (‚irgendwas mit Medien‘) arbeiten. Dieses Muster einer dreiphasigen Gentrifizierung ist natürlich holzschnittartig vereinfacht. Die Phasen gehen auf vielfältige Weise ineinander über, die Akteure sind nicht einfach einer Phase zuzuordnen, sondern gehören im Laufe ihrer Biografie möglicherweise diesen drei Phasen nacheinander an. So haben Thomas und Stefan ihren studentischen Habitus (noch?) nicht abgelegt, arbeiten aber bereits („in der Werbung“!); sie werden also von den Goldenen Zitronen genutzt, um den Übergang von Phase 2 zu Phase 3, den Anfang vom Ende im Gentrifizierungsprozess zu markieren.

In diesem Prozess ist nicht einfach zu bewerten, wer ‚noch gut‘ und wer ‚schon böse‘ ist. Aber gerade weil die Grenzen realiter so unklar sind, ist das Bedürfnis nach symbolischer Abgrenzung so hoch. Indem sich die Goldenen Zitronen über Thomas und Stefan lustig machen, grenzen sie sich von diesen ab und gelangen so auf die ‚gute Seite‘ des Prozesses. Dies ist umso leichter, als sie die Protagonisten zu Otto Normalverbrauchern, zu deutschen Michels, zum 08/15 jener Jahrgänge machen, also zu etwas ganz Gewöhnlichem degradieren: Bei ‚Thomas‘ und ‚Stefan‘ handelt es sich um die beiden häufigsten männlichen Vornamen der zwischen 1965 und 1975 Geborenen (vgl. www.beliebte-vornamen.de). Auch im weiteren Verlauf der Unterhaltung haben es die beiden nicht leicht: Das Gespräch zerfleddert in ein Nichts aus Leuten, die man vielleicht kennt, vielleicht auch nicht, und banalen Informationen, bevor es abrupt endet, weil einer der beiden „jetzt los“ muss. Ein Grund wird bezeichnenderweise nicht gegeben. Beide versichern nochmals, wie „toll“ und „nett“ das Gespräch war. Die Parodie eines bestimmten Milieus weitet sich hier zur Kritik an oberflächlicher Kommunikation allgemein.

Die Goldenen Zitronen artikulieren die Abneigung derjenigen, die bereits vor den Studenten in Stadtvierteln wie Hamburg-St. Pauli, St. Georg, oder auch Prenzlauer Berg und Kreuzberg (Stadtviertel in 030-Berlin mit dem ‚gleichen Ambiente‘ wie St. Pauli) gelebt haben oder die diesen Prozess mit Unbehagen verfolgen. Wie schon Schmeiß es weg richtet 030, Gleiches Ambiente eine Grenze zu denen auf, die einem ähnlich scheinen oder es vielleicht auch tatsächlich sind. Diesen werden dann die negativen Aspekte der eigenen Existenz wie ein Schwarzer Peter zugeschoben, die Identität als ‚Guter‘ so gesichert. Der Nachvollzug der Distinktion im Prozess des Hörens ermöglicht Konsumenten des Stückes eine symbolische Absetzung von den im Lied Karikierten. So kann er im Gentrifizierungsprozess ebenfalls auf der ‚guten Seite‘ stehen.

So einfach, mit scheinbar klaren Grenzziehungen die eigene Identität als ‚die Guten‘ zu sichern, machen es sich die Goldenen Zitronen aber nicht, wie der Blick aufs Video verrä: Die Rollen von Thomas und Stefan werden von Mitgliedern der Band (oder ihren Bekannten) selbst gespielt. Das besagte Band-T-Shirt ist sichtbar ein Goldene Zitronen-T-Shirt (Fuck You). Wenn sie sich also mit dem Stück selbst aus dem Prozess der Stadtviertel-Hipsterisierung herausgezogen haben, werfen sie sich mit dem dazugehörigen Video wieder mitten hinein. Das Stück interpretiert also die eigene Position in der Hamburger Stadtgesellschaft, lässt aber diese Position und damit auch ihre Beurteilung letztlich offen. Somit erscheint es auch als eine Vorwegnahme der Distanzierung von der Hamburger Schule – einem, nun ja, musikalischen Stil, dem die Goldenen Zitronen nicht (oder doch?) angehören sollen (Die Goldenen Zitronen: Dead School Hamburg, Cooking Vinyl 1998).

Georg Götz, Vechta

Aktueller Kommentar von 1980: Fehlfarben: „Gott sei Dank nicht in England“

 

Fehlfarben

Gott sei Dank nicht in England

Wo ist die Grenze, wie weit wirst du gehn
Verschweige die Wahrheit, du willst sie nicht sehen
Richtig ist nur, was du erzählst
Benutze einzig, was dir gefällt

Schneid dir die Haare, bevor du verpennst
Wechsle die Freunde wie andere das Hemd
Bau dir ein Bild, so wie es dir passt
Sonst ist an der Spitze für dich kein Platz

Und wenn die Wirklichkeit dich überholt
Hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol
Du stehst in der Fremde, deine Welt stürzt ein
Das ist das Ende, du bleibst allein

Bild dir ein, du bist Lotse und hältst das Steuer
Mitten im Ozean spielst du mit dem Feuer
Sprichst andere Sprachen im eigenen Land
Zerstreu alle Zweifel an deinem Verstand

Und wenn die Wirklichkeit dich überholt [...]

     [Fehlfarben: Monarchie und Alltag. Electrola 1980.]

Dieses Lied wurde nicht in den vergangenen Tagen gegen Boris Johnson geschrieben, sondern entstand 1980. Nichtsdestotrotz passt Gott sei Dank nicht in England Vers für Vers zur aktuellen Debatte: Vom instrumentellen und sehr flexiblen Umgang der Brexit-Befürworter mit der Wahrheit und Boris Johnsons scheinbar unfrisierten Haaren sowie seiner ehemaligen Mitgliedschaft in einem elitären, für Saufgelage berüchtigten Studentenclub, über sein ehemals zumindest vermeintlich freundschaftlichiches Verhältnis zu David Cameron und die ihm nachgesagte Ambition, dessen Nachfolger zu werden, bis zu den Themen Grenzen und Isolation.

„Und was sagt uns das? Weiß ich nicht.“ Das sang eine andere große deutschsprachige Band (mit englischsprachigen Anfängen), Element of Crime. Ihr Lied geht übrigens weiter mit „Alles ist besser ohne dich.“ Aber das klingt dort aus dem Mund des Sprecher-Ichs, der seine Ex-Freundin ansingt, wenig überzeugend. Als Beleg für prophetische Qualitäten von Popsongs taugt Gott sei Dank nicht in England jedenfalls nichts, denn der Text ließ sich im damaligen Kontext relativ eindeutig als szeneinternes Statement gegen diejenigen (Post-)Punks verstehen, die lediglich musikalische und modische Trends aus Großbritannien übernahmen. Die Fehlfarben um Sänger und Texter Peter Hein versuchten sich demgegenüber an einer deutschen Umsetzung der Punkidee und veröffentlichten 1980 mit Monarchie und Alltag eines der für die Entwicklung deutschsprachiger Popmusik wohl einflussreichsten Alben.

Daran anzuknüpfen erscheint jetzt, da sich die führende europäische Pop-Nation vom Festland abwendet und vielleicht schon bald komplizierte Einreiseformalitäten Tourneen britischer Bands erschweren und Zölle den Import britischer Tonträger verteuern werden, besonders sinnvoll. Ein Ansatz dafür könnte ja die Verwendung mehrdeutiger Metaphern sein, die die Relektüre des hier vorgestellten Liedes erst ermöglicht hat. Als Inspiration kann man ja neben der frühen Neuen deutschen Welle auch englischen Pop dieser Zeit hören. Oder Björk natürlich.

Martin Rehfeldt, Bamberg