Erinnerungen an eine Liebesnacht: Heinrichs von Morungen ,Wechsel‘ Owê, sol aber mir iemer mê (um 1200)
6. Dezember 2016 Hinterlasse einen Kommentar
Interpretation durch die Folk-Rock-Band Ougenweide
Heinrich von Morungen „Owê, - sol aber mir iemer mê geliuhten dur die naht noch wîzer danne ein snê ir lîp vil wol geslaht? Der trouc diu ougen mîn. ich wânde, ez solde sîn des liehten mânen schîn. Dô tagte ez.“ „Ach, / wird mir jemals wieder / ihr wunderschöner Leib / durch die Nacht leuchten / noch weißer als der Schnee? / Der täuschte meine Augen. / Ich glaubte, es sei / der Glanz des hellen Mondes. / Da brach der Tag an.“ „Owê, - sol aber er iemer mê den morgen hie betagen? als uns diu naht engê, daz wir niht durfen klagen: ‚Owê, nu ist ez tac‘, als er mit klage pflac, dô er jungest bî mir lac? Dô tagte ez.“ „Ach, / wird er jemals wieder / den Morgen über hierbleiben, / so dass wir, wenn uns die Nacht entweicht, / nicht zu klagen brauchen: / ,Ach, jetzt ist es Tag‘, / wie er es klagend tat, / als er zuletzt bei mir lag? / Da brach der Tag an.“ „Owê, - si kuste âne zal in dem slâfe mich. dô vielen hin ze tal ir trehene nider sich. Iedoch getrôste ich sie, daz sî ir weinen lie und mich al umbevie. Dô tagte ez.“ „Ach, / unzählige Male küsste sie / mich im Schlaf. / Da fielen / ihr die Tränen hernieder. / Ich aber tröstete sie, / so dass sie aufhörte zu weinen / und mich ganz umfing. / Da brach der Tag an.“ „Owê, daz er sô dicke sich bî mir ersehen hât, als er endahte mich, sô wolt er sunder wât mîn arme schowen blôz! Ez was ein wunder grôz, daz in des nie verdrôz. Dô tagte ez.“ „Ach, / dass er sich so oft / in meinen Anblick verlor, / als er mich aufdeckte, / da wollte er unbekleidet / meine Arme ganz bloß sehen! / Es war ein großes Wunder, / dass ihm das nie zu viel wurde. / Da brach der Tag an.“ [Text und Übersetzung zitiert nach Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dorothea Klein. Stuttgart: Reclam, 2010, S. 204-206. Da ich die Begeisterung von Sieglinde Hartmann (2012, S. 140) über die Simrocksche Übersetzung, die sie „zu den schönsten Versübertragungen mittelalterlicher Lyrik zählt“ nicht recht teilen konnte, habe ich mich für die prosaischere, aber dafür genauere Übertragung von Dorothea Klein entschieden. Eine englischsprachige Einführung in Heinrichs von Morungen Werk mit englischen Übersetzungen vieler seiner Lieder gibt Fisher, 1996. Unser Lied wird dort auf den Seiten 268-277 vorgestellt und erklärt.]
Heinrichs Minne-Wechselgesang zwischen einem männlichen Sprecher und einer weiblichen Sprecherin hat in der mediävistischen Forschung viel Aufmerksamkeit gefunden, da er einige interessante künstlerische Finessen aufzuweisen hat. Allem voran ist hier die Synthese der Genres ,Tagelied‘ und ,Wechsel‘ anzusprechen. In der Blütezeit des deutschen Minnesangs um 1200 herum bildete die sog. Minnekanzone (auch ,Werbelied‘) den häufigsten Liedtyp; darin preist der Sänger die Frauen im Allgemeinen und eine bestimmte hohe Dame im Speziellen, der er sein Leben weiht und von der er – ohne wirkliche Hoffnung, worüber er auch ausführlich lamentiert – Lohn für seine Dienste einfordert. Die Minnekanzone bot auch Gelegenheit, das Wesen wahrer Liebe ausgiebig zu reflektieren. ,Wechsel‘ und ,Tagelied‘ „flankieren“ – mit Gert Hübner (2008, S. 24 f.) gesprochen – nun gewissermaßen die Kanzone, indem sie Möglichkeiten bieten, vom Er-Erzähler oder auch sogar der Minnedame her die Erfüllbarkeit geschlechtlicher Liebe zu thematisieren. Während im Genre des Wechsels die Protagonisten des Liebespaares strophenweise abwechselnd (monologisch, nicht dialogisch!) übereinander sprechen, erzählt das Tagelied – normalerweise (vgl. meine Besprechung von Oswalds Ain tunckle farb auf diesem Blog) – von der erzwungenen Trennung des Paares nach einer gemeinsam verbrachten Nacht. Die schmerzliche Trennung wird mit dem anbrechenden Tag deshalb unvermeidbar, weil die Liebe der beiden ,illegitim‘ ist und vor der Hofgesellschaft geheim gehalten werden muss. Die Rede der Liebenden im Tagelied ist situationsbedingt üblicher Weise dialogisch.
Heinrich von Morungen bringt nun Wechsel und Tagelied zusammen, indem er die gemeinsam verbrachte Liebesnacht seiner Protagonisten in eine nicht näher bestimmte Vergangenheit verlegt und seine Liebenden – nunmehr voneinander räumlich getrennt – monologisch ihre Erinnerungen an die Tagelied-Situation vortragen lässt. Ganz im Sinne der Gattungstradition des Wechsels geht es für den Minnesänger darum, in den Monologen der Liebenden ihren grundsätzlichen Einklang sichtbar zu machen, dabei aber gleichzeitig feine rollenspezifische Nuancierungen vorzunehmen. Diese Aufgabe erfordert eine hohe Sensibilität des Dichters für seelische bzw. emotionale Nuancen, und wir werden sehen, dass Heinrich von Morungen dieser Aufgabe in besonderem Maße gerecht geworden ist. Eingangs sei auch noch darauf hingewiesen, dass es zu den besonderen Talenten dieses Minnesängers gehört (gelegentlich fällt hier der Begriff ,Markenzeichen‘!) mit Licht, Blicken und Perspektiven zu operieren.
In der ersten Strophe wird spätestens mit dem fünften Vers (ir lîp) eindeutig klargemacht, dass hier ein männliches Ich redet; in den folgenden Strophen erfolgt die Aufklärung über das Geschlecht durch Personalpronomina jeweils im zweiten Vers. Damit ist klar, dass die Strophen abwechselnd monologisch von den Protagonisten eines Liebespaars gesprochen werden, dass er anfängt und sie das letzte Wort hat. Die Strophen sind formal sehr ähnlich gehalten, weisen aber doch feine Unterschiede auf. Männer- wie Frauenstrophen werden von Refrain-Versen gerahmt, eingeleitet werden sie von der Interjektion „Owê“, abgeschlossen von dem lapidaren, aber vielsagenden, die Trennung besiegelnden Satz „Dô tagte ez.“ Diese Refrain-Verse umschließen sieben Verse, die dem aus der Troubadourlyrik stammenden Strophenschema der Kanzone (abgeleitet von lat. cantio = Zauberformel) folgen, das aus einem Aufgesang (vier Zeilen à zwei ,Stollen‘, durch Kreuzreim verbunden) und einem durchgereimten Abgesang besteht. Dass die Strophen beider Liebender weitgehend gleich gebaut sind, verweist auf den ,Gleichklang der Herzen‘ der Liebenden; dennoch erkennt man beim genauen Hinschauen den kleinen Unterschied, dass „in den Männerstrophen Auf- und Abgesang syntaktisch voneinander getrennt“ (Köhler 1997, S. 174), in den Frauenstrophen aber verbunden sind.
In der ersten Strophe fragt sich das männliche Ich mit klagendem Unterton, ob es jemals wieder den leuchtenden (nackten!) Körper der Geliebten sehen werde. Die Erinnerung des Sprechers an die gemeinsame Liebesnacht bewegt sich im visuellen Bereich, dem Spezialgebiet des Minnesängers Heinrich von Morungen. Das erste Verb des Abgesangs („trouc“) macht durch sein Tempus klar, dass die Sprecherinstanz nicht wie bei einem normalen Taglied aus der Situation heraus im Präsens spricht, sondern auf ein vergangenes Ereignis reflektiert. Die Schönheit des weißen Frauenkörpers, so erfahren wir im Abgesang der ersten Strophe, hat die Augen des Ritters getäuscht: Er dachte zuerst, dass der Glanz des Mondes ihrem Leib das unwirkliche Leuchten geschenkt habe. Indem der Mond ins Spiel gebracht wird, stattet der Sänger die Frau mit einem seinerzeit konventionellen Marienattribut aus, das ikonographisch die Tugendschönheit der Gottesmutter symbolisiert. Der Sprecher erhöht damit die Geliebte zu einem „Wesen göttlicher Natur“ (vgl. Hartmann 2012, S. 143).
In der zweiten Strophe wechselt die Perspektive: Nun ist es die Geliebte, die sich – ebenfalls klagend – an die erlebte Nacht und die grausame morgendliche Trennung erinnert. Dass man sich widerwillig trennen musste, ist gemäß der Normalform des Tagelieds durch die Illegitimität dieser Liebe zu erklären. Der Mann musste bei Tagesanbruch fliehen, um nicht von der sog. ,huote‘ (bewachende, zunächst durchaus auch schützende Aufsicht über die Frauen innerhalb der höfischen Gesellschaft) ertappt und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die weibliche Klagerede der zweiten Strophe unterscheidet sich in einem interessanten Punkt von ihrem männlichen Pendant in der ersten: Während es dem Ritter dort um die Möglichkeit der Wiederholung jener Minne-Nacht gegangen war, richtet sich das Sehnen der frouwe (Minnedame) auf eine zukünftige Legitimierung der Beziehung, so dass der Geliebte nicht mehr gezwungen wäre, morgens fluchtartig das gemeinsame Lager zu verlassen. Im zweiten Stollen fallen bezeichnender Weise die pluralischen Pronomina „uns“ und „wir“.
Eine Strophe später überwindet auch der männliche Sprecher seine zunächst eingenommene ichbezogene Perspektive, die die Geliebte als erotisches Objekt des begehrenden Blicks erinnerte. Erotische Interaktion und menschliche Zuwendung prägen den Inhalt dieser Erinnerungssequenz. Die letzte Frauenstrophe korrespondiert deutlich mit der Eingangsstrophe; nun erfahren wir, wie sie sich fühlte, als sie vom Geliebten auf die eingangs geschilderte Weise angeschaut wurde. Das Verb „schowen“ indiziert bei dem Morunger generell eine besonders intensive, spirituell angehauchte Art visueller Wahrnehmung, die bloßes Sehen weit übersteigt (vgl. Hartmann 2012, S. 138-140). Für die Frau war es – so erfahren wir aus ihrem Munde – ein Wunder, dass sich ihr Ritter an ihrem nackten Körper nicht sattsehen konnte. Auf diese Weise war auch für sie die Liebesnacht ein zauberhaftes, in gewisser Weise ,überirdisches‘ Erlebnis. Die Innenperspektiven beider Partner, die in der Form des sog. Wechsels sichtbar gemacht werden können, zeigen, dass das Liebespaar der von außen erzwungenen Trennung standgehalten und einander die ,triuwe‘ (eine der zentralen ritterlichen Tugenden) bewahrt hat. Damit hat es sich im emphatischen Sinne des Wortes ,bewährt‘.
Eine sehr schöne Würdigung der poetischen Leistung Heinrichs von Morungen findet sich m. E. bei Fisher 1996, S. 277: „The song is throughout a delicate construction, mingling memories with wishes, tender emotions with hints of physical love, and any desire to make the scene more ,realistic‘ should be resisted. Part of its charm lies precisely in its uncertainty, the sense that the lovers are experiencing something which they have never felt before, evoking reactions which they can only wonder at. Even the explicit visual image of the woman’s white body in stanza 1 evokes not physical desire but confusion and wonderment, and in stanza 4 Morungen again slips discreetly around blatant eroticism by having his female partner speak of her bewilderment at the man’s preoccupation with the visual. A more delicate treatment of the differences between the sexes in a situation of real intimacy is difficult to imagine.” Yeah!
Hans-Peter Ecker, Bamberg
PS:
Über die Person Heinrichs von Morungen, einen der heute unbestrittenen „Klassiker des Minnesangs“ (Irler 2001, S. 11), weiß man kaum etwas Sicheres zu sagen. Zu seinen Lebzeiten (Hauptwirkungsperiode vermutlich im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts) war er mit einiger Wahrscheinlichkeit eher eine Randfigur des höfischen Literaturbetriebs, da man sich in der Folge vergleichsweise wenig auf ihn bezieht. Aus den Jahren 1217 und 1218 gibt es zwei vom Markgrafen Dietrich von Meißen beglaubigte Urkunden, in denen ein Ritter Heinrich von Morungen vorkommt; falls unser Minnesänger mit besagtem Ritter identisch sein sollte, wofür noch einige weitere Indizien (z.B. sprachliche Eigentümlichkeiten, Wappen der Miniaturen zu Heinrich in den Liederhandschriften) sprechen, könnte man ihn vielleicht auf der Burg Sangerhausen bei Halle lokalisieren und davon ausgehen, dass er nicht lange nach 1322 verstorben ist (vgl. Tervooren 2001). Eine spätmittelalterliche Ballade vom edlen Moringer (näheres dazu ebenfalls im Verfasserlexikon) gehört ins Reich der Sage, zumal sie ihren Helden als Orientfahrer darstellt. Drei Handschriften überlieferten der Neuzeit von Heinrich von Morungen 115 Liedstrophen, die 35 verschiedenen Tönen zugewiesen werden konnten. (In der mittelhochdeutschen Lieddichtung bezeichnet der Fachbegriff ,Ton‘ ein Strophenmodell, das metrische und melodische Aspekte integriert. Diese Töne korrelieren in der Regel nicht mit Inhalten, so dass ein bestimmter Ton beispielsweise sowohl einem Weihnachtslied als auch einem derben Liebeslied zugrunde gelegt werden kann.) Die wichtigste Quelle für Minnelieder Heinrichs von Morungen ist die Große Heidelberger Liederhandschrift, der Laienwelt vielleicht bekannter als Codex Manesse (Zürich, ca. 1300-1340; vgl. Kuhn 1985).
PPS:
Die Folk-Rockband Ougenweide (= Augenweide, erfreulicher Anblick; Begriff nach einem Lied Neidharts von Reuental) wurde 1970 in Hamburg gegründet und spezialisierte sich in den Folgejahren hauptsächlich auf die Neuvertonung mittelalterlicher Lieder, schreckte aber auch vor Goethe-Texten nicht zurück. 1985 löste sich die Gruppierung auf, 1996 fand man sich in neuer Besetzung wieder zusammen. Man darf nicht davon ausgehen, dass Heinrichs „Owê, sol aber mir iemer mê“ 1195 beim Vortrag durch den Minnesänger vor einem höfischen Publikum so geklungen hat wie in der oben verlinkten Version von Ougenweide.
Literatur:
Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dorothea Klein. Stuttgart: Reclam 2010, S. 204-206.
Rodney W. Fisher: The Minnesinger Heinrich von Morungen. An Introduction to his Songs. San Francisco, London und Bethesda: International Scholars Publications 1996.
Sieglinde Hartmann: Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein. Wiesbaden: Reichert 2012 (= Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters 1).
Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen: Narr und Francke 2008 (= narr studienbücher).
Hans Irler: Minnerollen – Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen. Frankfurt a. Main u.a.: Lang 2001 (= Mikrokosmos 62).
Jens Köhler: Der Wechsel. Textstruktur und Funktion einer mittelhochdeutschen Liedgattung. Heidelberg: Winter 1997.
Hugo Kuhn: Die Voraussetzungen für die Entstehung der Manessischen Handschrift und ihre überlieferungsgeschichtliche Bedeutung (1980). In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hg. von Hans Fromm. Zweiter Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985 (= Wege der Forschung 608), S. 35-76.
Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begr. von Günther und Irmgard Schweikle. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart und Weimar: Metzler 2007.
Gerdt Rohrbach: Studien zur Erforschung des mittelhochdeutschen Tageliedes. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 462).
Helmut Tervooren: Heinrich von Morungen. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ,Verfasserlexikon‘ (Band 1-10) besorgt von Burghart Wachinger. Berlin und New York: de Gruyter 2001, Sp. 251-262.