Und der Zukunft zugewankt. Zum „Bierlied“ von Oktoberklub (1978)

Oktoberklub

Bierlied

Wer täglich seine Sorgen hat,
weil er regiert in unserm Staat,
dem geht es nicht nur um die Wurst,
wer tags regiert, hat abends Durst.

Wir sind in einem Staat geboren,
wo Malz und Hopfen nicht verloren.
Was trink ich? Was trinkst du? Was trinken wir?
Bier, Bier, Bier!

Komm Genosse, setz dich her
und trink mit uns den Humpen leer.
Wir trinken bis zum Morgenrot
die kleinen, falschen Zweifel tot.
Greif auch zum Bier, mein stiller Junge.
Das Bier, das lockert manche Zunge.
Gespräch beim Bier ist produktiv
und stärkt so manches Kollektiv.

Wir sind in einem Staat geboren [...]

Der Kneiper zapft am blanken Hahn.
Auch sowas geht nicht ohne Plan.
Trink mit, dass er und die Brauerei
den Plan erfüllt, wir sind dabei.
Das Bier mit seinen Kalorien
erzeugt enorme Energien.
Im Betrieb und auf dem Bau,
leider nicht so bei der Frau.

Wir sind in einem Staat geboren [...]

Ob Wernesgrün, ob Radeberg,
die Brauereien sind Volkes Werk.
Was daraus kommt, bestimmen wir.
Ja, das ist unser aller Bier.

Wir sind in einem Staat geboren [...]

     [Oktoberklub: Politkirmes. Amiga 1978.]

Die Hauptstadt des Bieres heißt natürlich Bamberg. Wobei man ja schon in der unmittelbaren Umgebung auf Konkurrenz stößt: Kulmbach nennt sich „die heimliche Hauptstadt des Bieres“ (vgl. Beitrag des lokalen Fernsehsenders), die Gemeinde Aufseß steht wegen ihrer Brauereiendichte (vier Brauereien bei ca. 1350 Einwohnern) immerhin seit dem Jahr 2000 im Guiness-Buch der Rekorde (vgl. Webseite der Tourismuszentrale Fränkische Schweiz). Auch München präsentiert man mitunter als „Hauptstadt des Bieres“ (vgl. hier), ebenso betonen die Dortmunder ihren alten Ruf als Bierstadt (vgl. hier). Wenn sich darüber hinaus weitere Städte mit Errungenschaften wie der „längsten Theke der Welt“ (Düsseldorf) oder der „zweithöchsten Kneipendichte Europas“ (Lüneburg bzw. Regensburg) brüsten, dokumentiert dies, dass Kultur hierzulande immer auch Bierkultur meint. Bier gilt, in Maßen genossen, als eher gesundheitsförderlich denn -schädlich. Es schmeckt, es erfrischt, es füllt, es macht fröhlich und es stiftet Gemeinschaft. Auf diese gemeinschaftsstiftende Wirkung des Bieres setzte 1978 auch der Ost-Berliner Oktoberklub mit seinem Bierlied. Freilich sang die DDR-Liedergruppe dem herrschenden Sprachkodex gemäß lieber vom gestärkten „Kollektiv“.

Der Oktoberklub war 1966 inspiriert durch die amerikanische Folkbewegung unter dem Namen „Hootenanny-Klub“ gegründet worden, nannte sich dann, nachdem das berüchtigte 11. Plenum des ZK der SED (vgl. Günter Agde: Kahlschlag. Das 11. Plenum der ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin 2000) zu viele Anglizismen kritisiert hatte (vgl. Tonausschnitt aus der Rede von Walter Ulbricht),  ab 1967 systemkonform „Oktoberklub“. In einer Annäherung an Alltag und Herrschaft in der DDR (1961-71) (so der Untertitel von Stefan Wolles Aufbruch nach Utopia) heißt es hierzu: „[Die Gruppe] übernahm diesen Namen zur Ehrung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, deren fünfzigster Jahrestag im Herbst 1967 zelebriert wurde. Diese Namensänderung war Programm. […] Der ‚Oktoberklub‘ war in den folgenden zweiundzwanzig Jahren nach außen hin staatsfromm, mitunter sogar bis zur Peinlichkeit.“ (S. 302) Aus seinem (Neu-)Gründungsjahr 1967 stammt dann auch der bis heute bekannteste Song des Klubs: In Sag mir, wo du stehst wird von den jungen Hörern ein klares politisches Bekenntnis gefordert. Andere Erzeugnisse aus der bis 1990 andauernden Geschichte des Liedermacher-Kollektivs lauten beispielsweise Lied vom Vaterland („Hier lernte meine Mutter das Regieren, / als sie vor einem Trümmerhaufen stand. / Ich möchte dieses Land nie mehr verlieren, / es ist mein Mutter- und mein Vaterland.“), Lied vom Klassenkampf („Dich hat man gestern nach der Mauer gefragt. / ‚Muss ja wohl sein‘, hast du gesagt.“), Lied an die Kapitalisten („Für euch ist jede Grenze Kampf gewesen / und so schützen wir sie mit Gewehren“) oder Lied vom CIA („Schüsse knallen von früh bis spät, / wenn der CIA euch zur Party lädt“). Zumindest in seiner Melodie (nicht nur wegen Scooters How much ist the fish) durchaus noch heute bekannt ist Was wollen wir trinken, die Nachdichtung des bretonischen Son Ar Chistr (u.a. verbreitet von Alan Stivell), welches in der BRD mit dem Titel Sieben Tage lang in der Version der niederländischen Band Bots populär wurde. In Was wollen wir trinken („dieser Kampf war lang, / was wollen wir trinken auf diesen Sieg“) aus dem Jahr 1977 wie in Hoch die Gläser („Genossen hoch die Gläser wir stoßen auf uns an“) aus dem Jahr 1980 wird nicht nur der Sozialismus an sich gepriesen, sondern speziell der Suff im Sozialismus. Das Bierlied – zwischen den beiden Songs auf dem Album Politkirmes von 1978 veröffentlicht – wird insofern noch konkreter, als dass es explizit benennt, was getrunken wird: „Bier, Bier, Bier!“

In der Diktatur des Proletariats wird der einfache Gerstensaft keineswegs als proletarisch und unschick stigmatisiert. (Nur am Rande sei hier angesprochen, dass selbst in der „Hauptstadt des Bieres“ früher Brauereiwirtschaften für Film [Das fliegende Klassenzimmer]  und Fernsehen [Der König] zu schickeren Weinlokalen umgestaltet wurden.) Gemäß der ersten Strophe des Liedes gönnen sich auch die Führenden der DDR ganz bodenständig ihr Feierabendbier (vgl. hierzu system- und zeitübergreifend die Geschichte um Bundeskanzler Schröders Hol mir mal ’ne Flasche Bier). Schließlich bietet ihnen dieses Getränk ein wenig Entspannung von den Sorgen, die sie – zum Wohle des Volkes – tagtäglich umtreiben.

Dem gemeinen „Genossen“ bietet es demgegenüber eine Pause, vielleicht sogar den völligen Verlust der „kleinen, falschen Zweifel“, also jener Gedanken, die man als Unzufriedenheit im realexistierenden Sozialismus werten könnte. Wenn man das heute gängige Bild von der DDR anwendet, kann man die Aufforderung zum Alkoholismus ganz einfach zusammenfassen: Sauf dir das System ein bisschen schöner, flüchte in den Alkohol statt über die Mauer. Endziel dieser durchzechten Nacht ist das „Morgenrot“, sprich die auf dunklere Zeiten folgende Verwirklichung sozialistischer Träume (vgl. das aus der Arbeiterbewegung von Heinrich Arnold Eildermann stammende Dem Morgenrot entgegen; vgl. auch die Zeilen in Hoch die Gläser: „Die Gläser unserer Hoffnung, wir füllen sie bis zum Rand. / Der Morgen kommt mit jedem Glas und jeden rotem Land“).

Dass in der Kneipe auch der Außenseiter integriert wird (vgl. den „ahle Mann“ mit „vill zu winnig Jeld“ in der kölschen Karnevalshymne Drink doch ene mit der Bläck Fööss) und auch der „stille Junge“ seine Zunge lockern soll, lässt im Kontext DDR unmittelbar an die Staatssicherheit denken; daran, dass allzu offene Wirtshausgespräche für Regimekritiker massive Konsequenzen nach sich ziehen konnten, und daran, dass das „Schild und Schwert der Partei“ seine Gegner alkoholisierte (vgl. etwa den Fall Lutz Eigendorf). Hier ist freilich nur die Rede davon, dass Biergespräche das bereits oben angesprochene „Kollektiv“ stärken würden und „produktiv“ seien.

Um Produktivität geht es auch in den Strophen vier und fünf, denn auch das, was da vom „Kneiper“ gezapft wird, ist schließlich Bestandteil sozialistischer Wirtschaftsplanung. Die „Kalorien“ des Biers werden an dieser Stelle nicht negativ bewertet, im Gegenteil geben sie „Energien“ für den fortdauernden Aufschwung des Landes „im Betrieb und auf dem Bau“. Der Bierbauch ist hier kein Thema. Wohl aber geht es darum, dass die angetraute Frau gemäß althergebrachter Klischees die Begeisterung für das Bier nicht in gleicher Weise teilen kann. Untermalt wird dieser billige Scherz auf Kosten des forciert fortschrittlichen Frauenbilds in der DDR durch einen närrischen Lacher (vgl. das „Bla-bla“ im Hintergrund des ebenfalls 1978 veröffentlichten Gebrüder Blattschuss-Gassenhauers Kreuzberger Nächte). In der sechsten Strophe werden dann mit Wernesgrün und Radeberg zwei Orte ostdeutscher Brautradition angeführt. Beide Brauereien seien „Volkes Werk“. Wernesgrüner wurde 1974 zum Volkseigenen Betrieb. Radeberger war schon länger verstaatlicht, tatsächlich aber – entgegen der Beteuerung, dass „wir“ bestimmen würden und es sich um „unser aller Bier“ handele – nicht immer für alle erhältlich. Für Germanisten sei in diesem Zusammenhang Brechts Bittbrief an eben jene Brauerei angeführt, die als erste nur nach „Pilsener Brauart braute“ (vgl. eine der entsprechenden TV-Werbungen) und heute stolz vermarktet, zu DDR-Zeiten wesentlich schwerer erhältlich gewesen zu sein, als es das Bierlied eben vermuten lassen mag (vgl. die heutige Darstellung der Brauerei-Geschichte auf der Homepage des Unternehmens).

Überhaupt: Heute ist Wernesgrüner im Besitz von  Bitburger,  Radeberger gehört zur sogenannten Radeberger Gruppe, die wiederum eine Tochtergesellschaft von Dr. Oetker darstellt. Die Zeiten, in denen „Malz und Hopfen“ vorgeblich noch „nicht verloren“ waren, sind endgültig vorbei. Wenn heute über alkoholische Getränke in der DDR gesprochen wird, geht es meist darum, dass die Menschen dort ganz schön viel – vor allem Schnaps – soffen. Präzisiert bzw. relativiert wurde dieses Bild in den letzten Jahren durch Gundula Barschs ersten Band ihrer Drogengeschichte der DDR mit dem Titel Alkohol – der Geist aus der Flasche (2009) und Thomas Kochans Dissertation Blauer Würger. So trank die DDR (2011) (vgl. die Sammelrezension zu den beiden Arbeiten). Beide stellen die aus heutiger Sicht naiven Einstellungen der DDR-Bürger zum Thema Alkohol heraus. Man könnte das Bierlied als Ausdruck dieser „Naivität“ bewerten – oder freilich mit wesentlich mehr Berechtigung als Ausdruck eines historischen und heute etwas kurios anmutenden Bemühens, gewachsene Bierkultur auf Sozialismus zu bürsten.

Martin Kraus, Bamberg