Politik lalala. Zu Andreas Doraus „Demokratie“

Andreas Dorau und die Bruderschaft der kleinen Sorgen

Demokratie

Bababa baba Bababa baba Bababa baba Bababa baba 

Demokratie 
hat viele Gesichter 
mal ist sie Schlichter 
dann demonstriert sie 
dann wieder schlägt sie zu 
und lässt keinen in Ruh 

Das ist Demokratie – langweilig wird sie nie 
das ist Demokratie – langweilig wird sie nie
Bababa baba Bababa baba Bababa baba Bababa baba 

Mal ist sie sanft 
wie ein Lamm 
dann wieder seicht 
wie ein Schwamm 
der vollgesogen 
und durchzogen 
von Schlamm und Morast 
und jeder trägt seine Last 
denn: 

Das ist Demokratie – langweilig wird sie nie 
das ist Demokratie – langweilig wird sie nie
Bababa baba Bababa baba Bababa baba Bababa baba 

Nun Wohlstand überwiegt 
woran das wohl liegt? 
das ist die Frage 
die jeden bewegt 
die Antwort jeder in sich trägt 
und: 

Das ist Demokratie – langweilig wird sie nie
das ist Demokratie – langweilig wird sie nie
Bababa baba Bababa baba Bababa baba Bababa baba 

Alle vier Jahre 
wird wieder gewählt 
wird wieder jeder 
von jedem gequält 
das ist das wahre Gesicht 
darum verirre dich nicht 
bleib im Garten Eden 
und hör Dir an die Reden 
wo keine eingehalten 
eingehalten werden kann 
sonst bliebe man nicht vier Jahre dran 
denn: 

Das ist Demokratie – langweilig wird sie nie! 
das ist Demokratie – langweilig wird sie nie! 
das ist Demokratie – langweilig wird sie nie!

Lalalalalalala lalalalalalalalalalalalala

     [Andreas Dorau und die Bruderschaft der kleinen Sorgen: Demokratie. Ata Tak 1988.]

 Andreas Doraus drittes Album Demokratie erschien 1988 nicht nur auf dem deutschsprachigen Markt, sondern auch in Japan, wo es seitdem bereits zweimal wiederveröffentlicht wurde, sich also einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen scheint. Wenn wir annehmen, dass jedes Stück deutscher Popmusik, das man außerhalb der Landesgrenzen konsumiert(e), das jeweilige Deutschlandbild zumindest ein bisschen mitprägt(e), ergibt sich in Verbindung von namensgebender Single, Videokostümierung, Coverfoto und Helmut Schmidt ein recht interessantes Image: Der Deutsche dieser Zeit trägt Prinz-Heinrich-Mütze, raucht Pfeife und mag vor allem Demokratie. Diese Herrschaftsform wird hier fröhlich gefeiert – freilich nicht ironiefrei.

 Über Doraus berühmtestes Lied, über Fred vom Jupiter, ist bereits viel gesagt und geschrieben worden. Mit dem ursprünglichen Resultat eines Schulprojekts war dem Teenager 1982 eine Punktlandung auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle gelungen. Seitdem zeigte er sich darum bemüht, sich von jenem einen Hit sowie der ganzen damit verbundenen Strömung zu distanzieren. Interessant erscheint das vor allem insofern, als dass das Demokratie-Album als eine spielerische Auseinandersetzung mit der NDW verstanden werden kann. Nach fünf Jahren Pause kam Dorau 1988 mit einer Single über die wichtigste Errungenschaft der jüngeren deutschen Geschichte an: Die „Demokratie“ und der damit vielfach verknüpfte „Wohlstand“ waren schon längst so sehr zur Gewohnheit geworden, dass nicht mehr nur nachdenkliche Liedermacher oder kämpferische Politrockbands zu diesen beiden Begriffen singen konnten. Auch in einem lockeren Popsong durfte munter darüber geträllert werden.

 „Demokratie“, so heißt es, habe „viele Gesichter“. Einige davon werden uns dann auch vorgestellt: manchmal sei sie „Schlichter“ (im Sinne von ausgleichend); manchmal aber „schlägt sie zu“, zeige sich also von ihrer aggressiven Seite; manchmal erscheine sie eher anständig und brav „wie ein Lamm“, manchmal jedoch sei sie „durchzogen von Schlamm und Morast“, dreckigen Geschäften und Korruption. Eines steht dabei allerdings im Zentrum: „langweilig wird sie nie“, der Unterhaltungswert ist hoch. Passend zu diesem „Lobgesang“ zeigt das Video posierende Politiker: Rau mit einem Kind auf dem Arm, Kohl vor einem Panzer, Genscher beim Baden und Späth beim Dirigieren etc. Die präsentierte „Demokratie“ ist vor allem eine Mediendemokratie. Besungen wird, was man von ihr durch Presse, Funk und Fernsehen halt so mitbekommt: öffentliche Konsensfindung und Machtdemonstration, Moral und Skandal zum Beispiel.

 Demokratie ist nicht das Resultat eines Schulprojekts, klingt aber wie die Sozialkundehausaufgabe einer zehnten Klasse. Wir hören ein vertontes Referat über das politische System der Bundesrepublik. „Alle vier Jahre“ findet der Politikzirkus in unserem Land seinen Höhepunkt, dann ist Wahlkampf und es „wird jeder von jedem gequält“; man muss sich damit abfinden, dass die verkündeten Versprechungen nicht eingehalten werden, denn so ist eben die Realpolitik; trotzdem darf man sich nicht verirren, also nicht zu den extremen Systemfeinden tendieren, lieber bleibt man im paradiesischen „Garten Eden“. Es geht hier zwar um Politik, doch es ist kein politisches Lied im klassischen Sinn, es ist alles andere als eine „Waffe“ in irgendeinem Kampf, stattdessen nur ein wenig geraffte politische Bildung in Form eines ziemlich eingängigen Popsongs.

 Durch „Bababa“ am Anfang und nach den Refrains sowie „Lalala“ zum Schluss wird dieser Popsong heiter eingerahmt, durch geschickt eingestreuten Aussagefetzen populärer Politiker aller Couleur gewinnt er an zusätzlichem Schmiss. Die Reime sind denkbar einfach. Klammer-, kreuz und meistens paargereimt folgt „Schwamm“ auf „Lamm“ und „dran“ auf „kann“. Wenn man diesbezüglich von Kinderreimen spricht, passt das zumindest gut zu Doraus recht hohem, etwas kindlich klingendem Gesang. Von Naivität ist bezüglich seiner Texte immer wieder gesprochen worden (auch aktuell werden seine Lieder mit dem Wort „naiv“ beschrieben, z.B bei Plattentest oder in der taz).

Demokratie könnte man also als eine naiv gereimte Abhandlung zum Thema „Politik in der BRD“ bewerten; man kann aber – wie oben erwähnt – auch eine gewisse ironische Brechung vermuten. Als für eine weiterführende Annäherung sehr geeignet erscheint entsprechend die Camp-Theorie. Susan Sontag beschrieb sie 1964 in Notes on Camp als ästhetische Vorliebe „zum Trick und zur Übertreibung“, als „unengagiert, entpolitisiert – oder zumindest unpolitisch“, vor allem aber als ironisch: „Camp sieht alles in Anführungsstrichen“. Naivität und Kitsch sind dabei nur gespielt, dahinter steckt mehr Überlegung als offensichtlich sein mag, gleichzeitig aber auch wiederum große Freude am Spiel, bzw. an eingängiger Popmusik. Hinter der harmlosen Fassade steht eine subversive Komik. Natürlich könnte man hier Manches vermissen, was der Camp-Ästhetik sonst noch so zugewiesen wird, aber besagte Komik ist in Doraus Demokratie durchaus erkennbar.

Martin Kraus, Bamberg

Ekel is’n starkes Gefühl – „Schimmliges Brot“ von Foyer des Arts

Foyer des Arts

Schimmliges Brot

Ein Wahlkampfplakat
Ein Staatsmann von Format
lockt mich, lockt mich, aber nein:
In der Hand hält er leider
ein schimmliges Brot.

Ein Fernsehquiz
mit Schwung und mit Schmiß
lockt mich, lockt mich, aber nein:
Zu gewinnen gibt´s leider
nur ein schimmliges Brot.

Schimmliges Brot
verdirbt oft die Freude.
Schimmliges Brot
schmälert das Vergnügen
Schimmliges Brot
ist selten von Vorteil

Großes Geknall
ein Autounfall
lockt mich, lockt mich, aber nein:
statt Blut sieht man leider
nur schimmliges Brot

Eine spanische Marquesa
namens Theresa
lockt mich, lockt mich, aber neín:
Im Mund hat sie leider
ein schimmliges Brot.

Schimmliges Brot [...]

Eine Welle der Verachtung
brandet tosend im Abendrot.
Eine Fontäne der Verzweiflung
speit zornige Parolen.
Im Krater der Gesellschaft
brodelt die Wut:
Schimmliges Brot
finden wir nicht jut!

     [Foyer des Arts: Schimmliges Brot. ARO 1985.]

Auf schimmliges Brot gibt es unter den Menschen unseres Kulturkreises eigentlich nur eine denkbare Reaktion: Ekel. Diese Empfindung, ausgelöst durch unser Auge, bestätigt durch unser intellektuelles Wissen um die toxische Wirkung des graublauen Belags, strömt sofort durch unseren ganzen Körper und löst das dringende Bedürfnis aus, Distanz zwischen uns und die Ekelquelle zu bringen.

Im Ekel scheint nie weniger als alles auf dem Spiel zu stehen. Er ist ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht. Das macht, selbst bei scheinbar harmlosen Anlässen, den eigentümlichen Ernst der im Ekel getroffenen Unterscheidung von ,Wohlbekommen’ und Ungenießbarkeit, von Einnehmen und Verwerfen (Erbrechen, Aus-der-Nähe-Entfernen) aus. (Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 7.)

Unser Song unternimmt nun einiges gegen den Ernst der Bedrohung, kann (und will) ihn indes nicht völlig aufheben, um ästhetisch von der Affekt-Freisetzung dieses „elementaren Gefühls“ (Darwin) zu profitieren. Unverkennbar ironisch konstruiert sind die Situationen, in denen hier das libidinöse Begehren des Sprecher-Ichs durch schimmliges Brot gestört wird. Während Liebe und Appetit auf Nähe bis hin zur Vereinnahmung eines Objekts durch ein Subjekt zielen, zwingt die durch das schimmlige Brot immer wieder ausgelöste Ekelreaktion das Individuum zur Distanzierung vom eigentlich begehrten Objekt. Das Sprecher-Ich erleidet auf diese Weise gewissermaßen Tantalus-Qualen, die ,uns’ allerdings nur begrenztes Mitleid abfordern, da ,wir’ seine Begehrlichkeiten eher nicht teilen. Deren prekärer, um nicht zu sagen perverser „Geschmack“ wird beim Autounfall am deutlichsten offenkundig; aber die Hörer von Foyer des Arts (von Max Goldt und Gerd Pasemann 1981 gegründet) sollen auch die in unserer Gesellschaft weit verbreiteten und als ,normal’ eingestuften ,Gelüste’ auf Glamour-Politiker, Fernsehshows oder Prominenz als abwegig, ja ,eklig’ empfinden.

In vier jeweils fünfzeiligen Versblöcken (1, 2, 4, 5) begegnen dem Ich zunächst starke Oberflächenreize audiovisueller Art, die stets im ersten Satz, der sich über zwei Verse zieht, beschrieben werden. Deren libidinöse Attraktivität wird mit dem immer gleichen Mittelvers explizit konstatiert „lockt mich, lockt mich“, doch sofort folgt die entscheidende Zäsur von Vers und Strophe „aber nein:“ – „leider, leider, leider, leider“ folgt beim genaueren Hinsehen in stereotyper vierfacher Wiederholung die ernüchternde Wahrnehmung von schimmligem Brot, das wir durchaus als Metapher nehmen dürfen. Der Politiker hält’s in der Hand, d.h. was er zu geben hat, ist wertlos, wenn nicht gar schädlich. Beim Fernsehquiz ist nur „schimmliges Brot“ zu gewinnen – vielleicht nicht für den Saalkandidaten, aber bestimmt für den Zuschauer, dem Belehrendes vorgegaukelt, aber letztlich nur abstruse, wertlose Information präsentiert wird. Der Autounfall scheint ,großes Kino’ zu versprechen, aber am Ende gibt’s nur menschliches Elend zu sehen und den erbärmlichen Voyeurismus der Gaffer. Hochgespannte Erwartungen auf Glamour („Marquesa“) und vorbildliche Philanthropie („Theresa“) der Prominenz verpuffen – vielleicht im Zuge einer Fernsehtalkshow, vielleicht beim Durchblättern einer einschlägigen Illustrierten –, zurück bleibt die Enttäuschung über dümmliches Geschwätz („Im Mund hat sie leider / ein schimmliges Brot).

Das ironische Zentrum des Songs sehe ich also in der ambivalenten Situation eines Sprecher-Ichs, das einerseits einen ausgesprochen ,schlechten Geschmack’ beweist, indem es Objekte libidinös besetzt, die eigentlich als unappetitlich angesehen werden müssten, zugleich aber an der Ausübung dieses schlechten Geschmacks durch kollektiv geteilte Ekelreflexe gehindert wird. Grotesk-komisch wirkt dabei das Auftauchen des konkreten Ekel-Auslösers in der Art eines running gag in unkonventionellen bzw. absurden Konstellationen, wobei sich diese Komik sofort auflöst, sobald man das schimmlige Brot metaphorisch nimmt und angemessen deutet. Komische Effekte gehen darüber hinaus auch von musikalisch-stimmlich hervorgehobenen rekurrenten Phrasen wie dem viermal wiederholten „lockt mich, lockt mich“ aus. (Zur Problematik eines grundsätzlichen Zusammenhangs zwischen ,Verlockung’ und Ekelreaktion vgl. Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 2007, = stw 1845, S. 19 f.)

Die Strophenfolge des Songs besitzt eine für populäre Lieder ungewöhnlich unregelmäßige Struktur. Auf jeweils zwei mit narrativen Inhalten besetzte Versblöcke (zu 5 Versen) folgt zunächst je ein sechszeiliger Refrain, der in umständlichen, künstlich gestelzten, hoch redundanten Formulierungen gewissermaßen die triviale Lehre aus den Erlebnissen des Ichs zieht: Schimmliges Brot „verdirbt oft die Freude“ und „ist selten von Vorteil“. Die vorsichtig-einschränkenden Formulierungen dieser banalen Erkenntnis wirken abermals komisch. Den Abschluss des Liedes bildet ein achtzeiliger Versblock, der sich aus vier Sätzen zusammensetzt. Die ersten drei Sätze betreiben mit ihren ebenso pompösen wie schief-demaskierenden Metaphern und Bildern höchsten rhetorischen Aufwand; dabei scheint das Sprecher-Ich seine individuelle Frustration in eine kollektive gesellschaftliche Empörung überführen zu wollen. Peinlicherweise fallen ihre letzten beiden Verse abrupt auf das banale Sprach- und Denkniveau zurück, das seinem schlichten Geschmack entspricht und diesen einmal mehr entlarvt. Zugleich kollabieren alle vom starken Affekt des Ekels befeuerten revolutionären Energien zum facebookartigen Reflex eines geprügelten Hundes: „Schimmliges Brot / finden wir nicht jut!“ Was sich oberflächlich besehen lustig ausnimmt, ist im Grunde tief traurig.

Der Gesamttext operiert dialektisch mit Ekeltabus: Während das Sprecher-Ich das Nahrungsmitteltabu (schimmliges Brot ist schädlich) affirmiert, verstößt es implizit – wie oben ausgeführt – gegen viele Tabus des ,guten Geschmacks’. Die Hörer des Lieds können dies erkennen und jene Geschmackstabus bestätigen, indem sie sich vom Ich distanzieren und dieses ,verlachen’. Ekel bzw. die Fähigkeit, Ekel zu empfinden, gehört zwar zur menschlichen Natur, die Objekte, auf die sich Ekelimpulse richten, sind aber variabel und werden kulturell ausgehandelt. Das Lied von Foyer des Arts greift nun genau in diesen gesellschaftlichen Prozess der Verhandlung von libidinösen Antrieben und ekelbesetzten Objekten ein (vgl. ganz analog in diesem Zusammenhang auch das Video „Ihhhh, ein Banker“).

Auf ästhetischer Metaebene verstößt der Text gegen konservativ-bürgerliche Konventionen, indem er Ekliges explizit thematisiert und zum Gegenstand von Kunst macht. Damit bewegt er sich auf einem Feld, das spätestens seit dem Barockzeitalter intensiv diskutiert wird (vgl. den Aufstieg von dégoût als diskursiver Kategorie). Seitdem bringen viele Künstler ,Unschönes’ in ihre Werke ein, um dem Grundproblem ,nur-schöner Kunst’ entgegen zu wirken, selber ,eklig’ (in den Formen des ,zu Süßen’, ,Langweiligen’, ,Unwahren’ oder ,Kitschigen’) zu werden.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Das Lebensglück verdaddelt? Oder doch nicht? „Paul ist tot“ von Fehlfarben

Fehlfarben

Paul ist tot 

ich schau mich um und seh nur ruinen.
vielleicht liegt es daran das[s] mir irgendetwas fehlt.
ich warte darauf daß du auf mich zukommst.
vielleicht merk ich dann daß es auch anders geht.

dann stehst du neben mir und wir flippern zusammen.
paul ist tot kein freispiel drin.
ein fernseher läuft taub und stumm.
ich warte auf die frage die frage wohin.

was ich haben will das krieg ich nicht
und was ich kriegen kann das gefällt mir nicht.

ich traue mich nicht, laut zu denken.
ich zögere nur und drehe mich schnell um.
es ist zu spät das glas ist leer.
du gehst mit dem Kellner und ich weiß genau warum

was ich haben will das krieg ich nicht,
und was ich kriegen kann das gefällt mir nicht.

ich will nicht was ich seh ich will was ich erträume.
ich bin mir nicht sicher ob ich mit dir nicht etwas versäume.

     [Fehlfarben: Monarchie und Alltag. Welt-Rekord 1980. Textfassung nach dem
     Booklet, allerdings zur besseren Übersicht in einer Verszeilenanordnung. 
     Dort ist der Text prosaisch gedruckt.]

Paul ist tot ist der letzte Titel auf dem Debütalbum Monarchie und Alltag (1980) der Düsseldorfer/Wuppertaler Post-Punk-Band Fehlfarben, das seinerzeit als Revolution der deutschsprachigen Popmusik gefeiert wurde und auch heute noch als eines der wichtigsten, wenn nicht überhaupt das wichtigste deutsche Rock-Album aller Zeiten gilt (vgl. entsprechende Ranglisten im deutschen Rolling Stone, in SPEX oder der von Uwe Schütte bei Reclam hrsg. Basis-Diskothek Rock und Pop). Der Song formuliert das Lebensgefühl einer jungen Generation, die sich musikalisch vom Stil der in die Jahre gekommenen angloamerikanischen Rockmusik distanzierte und gleichzeitig die Ideologie von Hippies und Ökos mit gezielten Provokationen angriff. Mit ihren Texten „über die glashelle Schönheit des modernen Lebens“ und die „Liebe im Schatten des Schnellen Brüters“ (vgl. entsprechende Verlautbarungen der Band) wehrten sich Fehlfarben gegen den generellen Kitschverdacht bezüglich deutscher Liebeslieder sowie das gerne öffentlich nachgeplapperte Statement des Pop-Literaten Rolf Dieter Brinkmann, dass man auf Deutsch nur philosophieren, aber nicht singen könne. Soviel vorweg, um klarzumachen worauf wir uns im Folgenden einlassen.

Manchmal macht es – aller Lebensweisheit entgegen – doch Sinn, Pferde von hinten aufzuzäumen: „ich bin mir nicht sicher ob ich mit dir nicht etwas versäume“ endet unser Text. Diese Aussage charakterisiert in ihrer Zweideutigkeit die innere Verfassung des Sprecher-Ichs und erklärt sein vorheriges Verhalten. Der zitierte Vers muss wohl so verstanden werden, dass das Ich Angst hat, Lebenschancen zu verpassen und unglücklich zu werden – wenn es sich an ein Du bindet und ebenso, wenn es sich nicht bindet. Die kleine Phrase „mit dir“ löst den Kippeffekt aus, da sie sowohl als „ich verpasse mit dir mein Glück, wenn wir nicht zusammenkommen“ auch als „ich verpasse es wegen dir, wenn ich bei dir bleibe und du mich blockierst“ verstanden werden kann.

Dieses Ich ist zerrissen zwischen dem ,Spatz in der Hand’ und der ,Taube auf dem Dach’, was der Refrain auch genau auf den Punk(t) bringt: „was ich haben will das krieg ich nicht und was ich kriegen kann das gefällt mir nicht.“ Zu einer anderen, unbedingt klügeren Weisheit hat sich das Ich gedanklich noch nicht durchringen können, aber intuitiv scheint es doch in diese Richtung zu steuern: „Besser etwas wollen, was man nicht hat, als etwas haben, was man nicht will.“ Diese These lässt sich, denke ich, aus dem Text heraus belegen.

Betrachten wir dazu den Anfang des Songs und verfolgen dann das weitere Geschehen chronologisch: Der – vermutlich männliche – Sprecher erkennt um sich nur „ruinen“, d.h. er projiziert seine eigene desolate Stimmung auf die äußere Welt. Ihm „fehlt“ etwas, möglicherweise ein Du, das auf ihn zugehen, also den (immer schweren) ersten Schritt machen sollte. Dann ist dieses Du da und beide „flippern zusammen“. Wirklich „zusammen“? Zweifel sollten erlaubt sein, denn die geschilderte Situation deutet nicht unbedingt auf intensive Kommunikation hin. Man steht nebeneinander, ist sich also nicht zugewandt, man konzentriert sich auf ein technisches Gerät, nicht auf das menschliche Gegenüber. Diese Konstellation erinnert mich vertrackt an Erich Kästners berühmte Sachliche Romanze, wo das Paar im kuscheligen Cafe in seinen Tassen herumrührt, aber keine Worte füreinander findet.

Dann kommt der dunkle Satz „Paul ist tot“, der dem Song seinen Titel gab und über den in Fankreisen viel gerätselt wurde. Who the fuck is Paul? Was liest man dazu im Netz: Einer meint, es sei „der Paul in uns allen“, der hier das Zeitliche segnet. Ein anderer verweist auf Gerüchte in Beatles-Fankreisen, wonach Paul McCartney gestorben und durch einen Doppelgänger ersetzt worden sei. Die Anfrage eines Fans bei der Band führt zur schlichten Auskunft, dass mit „Paul“ einfach der Flipper gemeint sei. Den Hintergrund dieser Gleichsetzung erläutern Hinweise eines anderen Chat-Teilnehmers („h p s“) auf eine pinball machine namens ,Paul Bunyan’. Diesen Name trägt eigentlich eine Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffene populäre Sagenfigur aus dem Kreis mythischer Wild-West-Helden, ein Holzfäller von solch riesenhafter Größe, dass er beispielsweise mit seiner nachgeschleiften Axt die Furche des Grand Canyons ins Land zog. Walt Disney widmete der Figur 1958 einen Zeichentrickfilm, sie wurde im Laufe der Zeit von diversen Interessenten vereinnahmt, von Kunst, Literatur, Sport und Gastronomie dargestellt, gefeiert, parodiert und verspottet.

Auch der weiteren Deutung von „h p s“ kann ich mich mit einigen Einschränkungen anschließen, wenn er schreibt: „Die [Flipper-]Kugel stürzt ab, symbolisch stirbt dabei Paul Bunyan. […] Meine Interpretation: In der Beziehung der beiden kriselt es. Es ist kein übermächtiger Paul mehr da, der die Sache einfach regeln könnte. Jetzt muss zwischen den beiden Personen Klartext geredet werden.“ Ob die beiden bereits eine Beziehung haben, ist fraglich, der Text lässt das offen; vielleicht ahnt das Du nicht einmal, dass das stumme Ich interessiert sein könnte. Durch das gemeinsame Flippern drücken sich die beiden m.E. weniger ums „Klartext-Reden“, als überhaupt um ein Gespräch bzw. die Erkenntnis herum, dass sie keine Wort füreinander haben. Wenn „Paul“ tot und kein Freispiel mehr im Kasten ist, wird diese Situation offenkundig. Dem Kellner allemal. Schon das Flipperspiel als solches ist symbolisch aufgeladen; ungefähr analog – als eine Art Mischung von Glücks- und Geschicklichkeitsspiel – scheint das lyrische Ich sein Leben anzugehen. Es scheint dabei aber nicht einkalkuliert zu haben, dass bei jedem Flipperspiel früher oder später die letzte Freikugel verschossen ist.

Die Struktur des Song-Eingangs wiederholt sich im zweiten Versblock: Wie dort in den „ruinen“ spiegelt jetzt der taube und stumme „fernseher“ die Befindlichkeit des Sprechers (vgl. entsprechende Hintergrundszenen im schon oben erwähnten Kästner-Gedicht!), vermutlich sogar die seines Gegenübers. Wieder wartet er auf einen Impuls von außen, nun auf „die frage wohin“, d.h. jene Frage, die endlich eine Richtungs- bzw. Orientierungsklärung in Gang setzen könnte. Diese Frage wird aber nicht gestellt. Die komplizierten Gedanken (1. Refrain) bleiben im Kopf, weil dem Ich die nötige Traute fehlt, dem Du seine ambivalente Haltung offenzulegen. Ein Zögern, ein Umwenden, ein Glas, randvoll mit vielsagender Leere. Dann ist sie (präziser: das Du; der Text expliziert dessen Geschlecht nicht ausdrücklich) weg, mit dem Kellner, der das ganze Beziehungsdrama beobachten und vermutlich dank seiner Berufsroutine richtig interpretieren konnte. Eine kleine Ironie am Rande. Das Ich ist nun wieder allein – und weiß eigentlich auch ziemlich genau warum (2. Refrain, gegenüber dem ersten erweitert), weiß aber nicht, ob es jetzt lachen oder weinen soll, zumal beide Gefühlsregungen in Zeiten Neo-neuer Sachlichkeit uncool herüberkämen.

Anmerkung: Ich wäre auf den Zwanziger-Jahre-Bezügen (neusachlicher Gestus, Kästner-Bezüge) dieses Songs vielleicht weniger herumgeritten, wenn sich Fehlfarben im Booklet zu „Monarchie und Alltag“ nicht grundsätzlich dazu bekannt hätten: „Wir machen unser eigenes Zeug. Gegen den angelsächsischen Rock’n’Roll-Imperialismus wurde an Bruchstellen deutscher und europäischer Kultur neu angesetzt, beim deutschen Schlager der Fünfziger und Sechziger Jahre ebenso wie beim Dadaismus der Zwanziger.“ Ohne den rekonstruierten Paul-Bunyan-Kontext kommt die Zeile „Paul ist tot“ als purer Dada daher.

Hans-Peter Ecker, Bamberg