Florales Abschiedslied: „Es dunkelt schon in der Heide“

Anonym 

Es dunkelt schon in der Heide

1. Es dunkelt schon in der Heide, 
nach Hause laßt uns geh'n;
wir haben das Korn geschnitten 
mit unserm blanken Schwert. 

2. Ich hörte die Sichel rauschen, 
ja rauschen durch das Korn. 
Ich hörte mein Feinslieb klagen, 
sie hätte ihr Lieb' verlor'n. 

3. Hast du dein Lieb' verloren, 
so hab ich noch das mein;
so wollen wir beide mit'nander 
uns winden ein Kränzelein. 

4. Ein Kränzelein von Rosen, 
ein Sträußelein von Klee, 
zu Frankfurt an der Brücke, 
da liegt ein tiefer Schnee. 

5. Der Schnee, der ist zerschmolzen, 
das Wasser läuft dahin, 
kommst mir aus meinem Auge, 
kommst mir aus meinem Sinn. 

6. In meines Vaters Garten, 
da steh'n zwei Bäumelein; 
das eine trägt Muskaten, 
das and're Braunnägelein. 

7. Muskaten, die sind süße, 
Braunnägelein sind schön;
wir beide uns müssen scheiden, 
ja scheiden, das tut weh.

Dieses bekannte und im Volk sehr beliebte Lied gibt es in vielen verschiedenen Fassungen. Strophen wurden (je nach Vorliebe der Singenden) dazugestellt – sogenannte Wanderstrophen – andere wiederum wurden vergessen oder absichtlich weggelassen. Motive, Wendungen und Metaphern zeigen eine Formelhaftigkeit, die typisch ist für das Volkslied. Vieles scheint auch unlogisch, mit dem Verstand nicht erklärbar, doch Gefühl und Gemüt werden um so stärker angesprochen, weil die Symbolhaftigkeit des Liedes eher durch die Seele als durch den Verstand erfasst wird.

Es gibt daher nicht nur eine mögliche Deutung und Interpretation eines Liedes, sondern ebenso viele, wie es Märchendeutungen gibt. Märchen und Lieder stammen in gleicher Weise aus tieferen Schichten der Seele und sprechen daher auch tiefere Schichten der Seele an. Hier also der Versuch einer Deutung des Liedes:

Es dunkelt schon in der Heide,
nach Hause laßt uns geh’n,
wir haben das Korn geschnitten

Bereits in der ersten Strophe fällt auf, dass „Heide“ und „Korn“ vom Verstand her nicht so recht zusammenpassen wollen. Von der Symbolik her jedoch sehr gut.

Betrachtet man Lieder, in denen die „Heide“ vorkommt – einschließlich der Kunstlieder von Walther von der Vogelweides Unter der Linden auf der Heiden bis hin zu Goethes Röslein auf der Heiden – so stellt sich die Heide als Ort dar, der außerhalb des vertrauten Bereiches, wild, jenseits des Sittlichen, als Ort der freien Liebe erscheint.

Das „Korn“ hat eine uralte erotische Vegetationssymbolik. In den Liedern ist Korn, Gerste, grasen gehen, in den Klee gehen, die Metapher für geschlechtliche Vereinigung.

wir haben das Korn geschnitten
mit unserm blanken Schwert

Das Schneiden mit dem Schwert hat etwas Gewaltsames – ein Bild für das Zerschneiden und Zerstören der Zuneigung und Liebe.

Ich hörte die Sichel rauschen

Hier gibt es eine Urfassung:

Ich hört ein sichelin rauschen
wol rauschen durch das korn,
ich hört ein fein magt klagen,
sie het ir lieb verlorn.

Die Eingangsformel der ersten Zeile kann kaum schlichter sein, aber sie trägt Bedeutung genug. So einfach sie sich gibt, so unüberhörbar tönt der Sichelklang. Die zweite Zeile „wol rauschen durch das korn“ nimmt den Klang auf und führt das begonnene Bild zu Ende: Die Sichel fährt durch reife Frucht. Ein verwandtes Bild haben wir in dem alten Lied Es ist ein Schnitter heißt der Tod – Liebe und Tod als zusammengehörendes Gegensatzpaar.

ich hört ein fein magt klagen

Die Klage des Mädchens geschieht unter dem Rauschen der Sichel; wer wollte eins vom anderen trennen? So übergangslos, wie die formelhaft ähnlichen Sätze aufeinanderfolgen, so eins ist beides: Klage und Sichelklang.

Die erste Strophe scheint als selbständiges Lied bestanden zu haben, und Strophe 2 und 3 sind, wie der Liedforscher und -sammler Franz Magnus Böhme meinte, ein altes Tanzlied: Es gibt das flüchtige Gespräch zweier Mädchen wieder, von denen die eine einen Geliebten verloren, die andere ihn gefunden hat. Ludwig Uhland hat die drei Strophen zusammengestellt, weil er die thematische Verwandtschaft spürte, und wir nehmen diese Vereinigung gerne hin.

Manches Lied, das uns als eine glückliche Einheit anmutet, ist mehr oder minder zufällig aus verschiedenen Teilen zusammengewachsen. Motive, Wendungen, Strophen gleichen Tons und gleicher Stimmung können im Reich des Volksliedes sehr wohl zu neuer Einheit zusammenfinden.

„La rauschen, lieb, la rauschen,
ich acht nit wie es ge:
Ich hab mir ein bulen erworben
in feiel und grünen kle.“

„Hast du ein bulen erworben
im veiel und grünen kle,
so ste ich hie alleine,
tut meinem herzen we.“

Wehmut der verlorenen Liebe hat die eine befallen, als sie die Sichel durch das Korn rauschen hörte. Doch die andere achtet nicht darauf, obwohl sie weiß, dass Sichelklang und Ende, Liebe, Kummer und Tod so sehr verwandt sind – „ich acht nit wie es ge.“

Das Lied konzentriert, indem es die Mädchen in sparsamsten Worten Freude und Klage aussprechen lässt, es bleibt im Typischen und berührt so menschliches Fühlen in seiner Allgemeinheit.

„Hast du ein bulen erworben
im veiel und grünen kle,“

Es fehlen nicht die Veilchen und der grüne Klee. Blumen überhaupt sind Lieblinge des Volksliedes, überall sprießen sie empor, Röslein auf der Heide und Blümlein blaue

Die Veilchen und der grüne Klee zeigen den Frühling an, wie er zur Liebe gehört, und führen nun im Ganzen der drei Strophen ein heimliches Widerspiel zum herbstlichen Klang der Sichel. Über dem Ganzen liegt wie ein Schein der Gegensatz zwischen Herbst und Frühling – zwischen Tod und Liebe. Soweit zu den Strophen des alten Liedes vom „Sichleinrauschen“. Nun zurück zum Lied, welches wir vor uns haben:

Hast du dein Lieb verloren,
so hab ich noch das mein:
So wollen wir beide mitnander
uns winden ein Kränzelein.

Ein Kränzelein von Rosen,
ein Sträußelein von Klee

Kranz, Jungfernkranz und Brautkrone, sie weisen symbolisch auf etwas Geschlossenes, noch vollständig Vorhandenes und Unverletztes, auf die bräutliche Unschuld hin. Der Blumenkranz oder auch Rosenkranz ist Sinnbild der jungfräulichen Blüte, das blumenlose Sträußelein von Klee hingegen ist Zeichen der verlorenen Jungfernschaft.

Zu Frankfurt auf der Brücke,
da liegt ein tiefer Schnee.

Die Brücke war früher der Ort der Brautübergabe. Wenn tiefer Schnee liegt, ist die Brücke nicht mehr begehbar. In unzähligen Liedern erscheint der Schnee als Trennungsmotiv. Siehe auch Und in dem Schneegebirge oder Es ist ein Schnee gefallen…

Der Schnee, der ist zerschmolzen,
das Wasser läuft dahin.

Das Wasser – ein Symbol des Eros – läuft davon, die Liebe zerrinnt, ist unwiederbringlich dahin. So z.B. auch im jiddischen Lied Ale vasserlech flisn avek, die gribelech blaybn leydig – All die Wasser fließen dahin, die Gräben sind ausgetrocknet (aus Cesar Bresgen: Europäische Liebeslieder).

Kommst mir aus meinem Auge,
kommst mir aus meinem Sinn.

Die Trennung, die so schmerzlich ist, findet Linderung im Vergessen.

In meines Vaters Garten,
da stehn zwei Bäumelein,
das eine, das trägt Muskaten,
das andre Braunnägelein.

Muskaten, die sind süße,
Braunnägelein sind schön;
wir beide müssen uns scheiden,
ja scheiden, das tut weh.

Seltsam, die beiden Wunderbäume, die Muskaten und Braunnägelein tragen. Muskaten und Braunnägelein sind eine Metapher für die sinnliche Liebe. Die beiden Gewürze mit ihrem starken Duft finden Verwendung als Aphrodisiakum im Liebeszauber. Bei „süßen“ Muskaten ist auch an Muskattrauben zu denken, während bei Braunnägelein wohl die Gewürznelken gemeint sind, deren Form einem Nagel gleicht. Interessant ist auch der Spruch aus dem Hohelohischen, nördlich der Rems:

Unter meim rote Rock
hab‘ i en braune Nägelesstock.
Is denn kei Bu so keck
un bricht mir des Nägele weg.

[aus dem Schwäbischen Wörterbuch]

„Muskaten, die sind süße, / Braunnäglein die sind räss“, wie es in einer anderen Fassung heißt. Räss – das bedeutet im süddeutschen Sprachgebrauch: herb, sauer, zusammenziehend. „Süß“ und „sauer“ als Gegensatzpaar – die Liebe ist sowohl als auch, sie kann Lust und Schmerz bedeuten. Auf süße Lieb’ folgt oft bitteres Leid, die Trennung der Liebenden.

Karin Kothe, Karlsruhe und Karl-Hans Frank

Zuerst erschienen in der Publikation Lied des Monats der Klingenden Brücke, Heft Nr. 29, November 2016.

 

Die heimliche deutsche Hymne. Zu Ludwig Uhlands „Der gute Kamerad“

Ludwig Uhland

Der gute Kamerad

Ich hatt einen Kameraden,
Einen bessern find'st du nit
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.

Eine Kugel kam geflogen,
Gilt's mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär's ein Stück von mir.

Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew'gen Leben
Mein guter Kamerad!

Wie bei den meisten Volksliedern sind seine Urheber vergessen. Auch sein Titel ist eher unbekannt. Wer das Lied kennt, glaubt gern, es heiße: »Ich hatt einen Kameraden«, doch das ist nur sein erster Vers. Sein richtiger Titel lautet: Der gute Kamerad, und es wurde 1809 von Ludwig Uhland in Tübingen gedichtet, Friedrich Silcher gab ihm 1825, ebenfalls in Tübingen, die Melodie. Das Lied entfaltete eine beispiellose Wirkung. Es wurde nationales Trauerlied, ertönte an Kriegsgräbern und an den Gräbern von Zivilisten. Heute ist es nur noch am Volkstrauertag zu hören, zum Gedenken an die Opfer beider Weltkriege sowie deutscher Gewaltherrschaft. Der Soziologe Norbert Elias entdeckte in ihm einen Widerhall kollektiver Todesphantasien. Bis in die Gegenwart hat das Lied sich im kulturellen Gedächtnis der Deutschen gehalten. Als Frontgespenst geistert der Gute Kamerad durch Heiner Müllers Werk, und selbst in Kassibern der »Roten-Armee-Fraktion« blitzen seine Worte auf.

Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker traute dem Guten Kameraden nicht. Er ließ einen Mitarbeiter beim Volksliedarchiv in Freiburg anfragen, woher Text und Musik stammten und welche »Aufführungstradition« das Lied habe. Erwünscht war eine »zuverlässige Rudimentärunterrichtung«, wie es in dem Brief vom 7. September 1993 in schönstem Bundespräsidialdeutsch heißt. Welche Sorge den ersten Mann der Republik wegen des Lieds plagte, verraten Notizen eines Archivars unter dem Briefkopf: »Neue Wache in Berlin – Einigungsvertrag – Wehrmachtstradition«. Mit anderen Worten: Paßte das Lied noch in die politische Gedenkkultur des wiedervereinigten Deutschland?

Im Westen gehört es zum Zeremoniell des Volkstrauertags. »Es wird gebeten, nach der Totenehrung stehenzubleiben, bis das Lied verklungen ist«, lautete die Bitte auf den Einladungskarten zur zentralen Gedenkfeier im Bonner Bundestag. Bei Trauerfeiern der Bundeswehr intoniert ein Solobläser das Lied »nach Absenken des Sarges«. Im Osten war die Uhland-Silcher-Tradition abgebrochen. Andere Töne begleiteten dort die Gedenkfeiern von Partei und Armee: Chopins Trauermarsch oder die Arbeiterlieder Unsterbliche Opfer und Der kleine Trompeter. Geteiltes Land, geteilte Lieder. Nichts, was zusammenklingen könnte.

Die Antwort des Archivs an den Bundespräsidenten war tröstlich: Seit 1918, also auch in der Weimarer Demokratie, sei das Lied bei staatlichen Totenfeiern »aufgeführt« worden. Selbst so erhabene Konkurrenz wie Beethovens Eroica, Wagners Parsifal-Vorspiel und Chopins Marche funèbre hätten es nicht verdrängen können. »Im Alltagsleben des Durchschnittsmenschen gibt es einige musikalische Standardtypen«, schließt der Archivar, »dazu gehört ›Stille Nacht‹, Mendelssohns Hochzeitsmarsch und das Lied vom ›Guten Kameraden‹. Diese Standardtypen sind kaum durch etwas anderes zu ersetzen. Deshalb glaube ich nicht, daß es gelingen könnte, den ›Guten Kameraden‹ zu entthronen.«

Er thront auch weiterhin. Aber fast jedes Jahr, wenn Deutschland sich im November seiner Opfer erinnert, entbrennt irgendwo im Land neuer Streit um das Lied. Die Debatten verlaufen meist nach zwei Mustern: Zum einen ist es ein junger Bürgermeister, dem der Gute Kamerad unheimlich wird. Er untersagt, ihn am Volkstrauertag zu spielen. Als Grund nennt er die dritte Strophe, obwohl das Lied auch in seiner Gemeinde immer nur instrumental zu hören war. Die Strophe sei »kriegsverherrlichend« und habe in der Vergangenheit den Sinn gehabt, »zum Weiterkämpfen zu animieren«. Eine Leserbriefschlacht beginnt. Ehemalige Kriegsteilnehmer klagen über die Verletzung ihrer Gefühle. Einer von ihnen schert aus und erinnert daran, wie das Lied an den »Heldengedenktagen« des »Dritten Reichs« eingesetzt wurde, »um das Volk auf Hitlers Angriffskrieg einzustimmen«.

Nach dem zweiten Muster empören sich Friedensaktivisten über das Lied. Wenn es bei der Trauerfeier erklingt, wenden sie sich demonstrativ ab und fangen zu plaudern an. Gefühle sind verletzt, eine Leserbriefschlacht beginnt. Zum Gemeindefrieden trägt die Belehrung bei, das Lied sei längst »international«: Es finde sich in japanischen Liederbüchern, werde in der Fremdenlegion gesungen (J’avais un camarade), ja selbst in Holland habe der Soldatensong aus dem Fundus des ungeliebten Nachbarn einen Übersetzer gefunden (Ik had een wapenbroeder), und für den Fall, daß die Nationen absterben sollten, sei in der Weltsprache Ido mit einer globalisierten Fassung vorgesorgt: Me havis kamarado tu plu bonan trovas ne tamburo nin vokadis il apud me iradis sampaze quale me.

Am schwersten wiegt das Argument, daß Silchers Melodie von den Franzosen zum Nationalfeiertag am 14. Juli am Grabmal des unbekannten Soldaten gespielt werde. Zur Versöhnung der Bürgerschaft taugt ebenso der Hinweis, daß der Bundespräsident an der zentralen Gedenkfeier in Berlin teilnehme, obwohl dort der Gute Kamerad ertöne.

Es ist nicht schwer zu verstehen, daß vorwiegend Belege von außen in einem an seinen Traditionen irre gewordenen Land Entlastung bringen – mehr als das klügste Argument von innen. Darum muß sich der schon 1985 unterbreitete Vorschlag des Germanisten Peter Horst Neumann, der in Uhlands Lied ein unschuldiges Opfer deutscher Verhältnisse sieht, wie eine Donquichotterie ausnehmen. Neumann plädiert auf Freispruch: »Da die Vereinnahmung auf der rechten Seite geschah, könnte die Ehrenrettung nur von links her erfolgen. Die militaristische Aura wäre zerstoben, hätte Marlene Dietrich auch den ›Guten Kameraden‹ gesungen oder Ernst Busch zusammen mit dem Lied der Spanischen Brigaden oder Wolf Biermann zum Andenken an Robert Havemann.«

Auf unabsehbare Zeit wird das Lied ohne Worte die Begleitmusik staatlichen Gedenkens bleiben. Ärger entzündet sich daran vermutlich auch künftig vor allem auf lokaler Ebene. An der Staatsspitze scheint es unumstritten. Unten müssen Widersprüche im Gedächtnis offenbar weniger krampfhaft aufgehoben werden als oben, wo die Angst vor übler Außenwirkung oder dem endgültigen Verlust einheitsstiftender Symbole die Harmonie erzwingt. Das Lied soll ein Gemeinplatz der Erinnerung sein: Doch in Deutschland existieren zu viele, zu verschiedene Erinnerungen, als daß sie auf diesem Gemeinplatz zusammenfinden könnten. Ob das immer so war?

Uhland schrieb sein Lied während der Befreiungskriege gegen Napoleon. Österreich hatte sich 1809 zuerst erhoben gegen den Imperator. Der junge Poet nahm am Leiden auf beiden Seiten Anteil: Er fühlte mit den Badenern, die unter französischem Befehl gegen die aufständischen Tiroler ziehen mußten, und er trauerte um seinen Förderer Leo von Seckendorf, der als österreichischer Hauptmann gefallen war. Uhland war aufgefordert worden, für ein Flugblatt »zum Besten der (badischen) Invaliden des Feldzugs« ein Kriegslied zu verfassen. Sein Beitrag kam jedoch zu spät, und so nahm sein Freund Justinus Kerner den Guten Kameraden zwei Jahre später in seinen Poetischen Almanach für das Jahr 1812 auf. Danach erschien er in allen eigenständigen Gedichtbänden Uhlands und 1848 im Deutschen Volksgesangbuch Hoffmanns von Fallersleben.

Doch in welcher Nachbarschaft das Lied auch stand, es blieb ein Solitär. Ihm fehlte der Völkerschlachtton, der national-heroische Doppelklang, der in den Kriegsliedern der Zeit dominierte: Arndts Was ist des Deutschen Vaterland?, Körners Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, Nonnes Flamme empor. Lieder (fast) dieses Schlags dichtete Uhland später auch selbst, und dabei mag er seinem Wunsch nach Parteinahme nachgegeben haben – anders als beim Guten Kameraden, bei dem er seinen Ehrgeiz darauf verwandte, den Volksliedton zu treffen, so wie die Sammlung Des Knaben Wunderhorn, für die Tübinger Romantiker eine Art Bibel, diesen Ton traf.

Obgleich Uhlands Gedicht schon vertont war, nahm Friedrich Silcher, der Tübinger Universitätsmusikdirektor, sich seiner nochmals an. Volkstümlich wurde romantische Poesie, wenn sie sich singen ließ. Doch keiner im 19. Jahrhundert setzte romantische Poesie so populär in Singbares um wie Silcher. Ein Leben lang jedoch mußte er gegen das Vorurteil angehen, daß er Uhlands Lied eine Melodie erfunden habe; gefunden hatte er ihm eine, und zwar in der Schweiz, wo ihm das Volkslied Ein schwarzbraunes Mädchen hat ein‘ Feldjäger lieb zu Ohren kam. Wahrheitsgemäß teilt er auf dem Notenblatt des Guten Kameraden mit: »Aus der Schweiz, in 4/4 Takt verändert, v. Silcher«. Trotzdem wurde er unverdrossen für den Schöpfer gehalten. Es kursierte sogar eine Sage, die glauben machen wollte, ein Herbststurm habe Silcher ein Blatt mit Uhlands Versen durchs Fenster seiner Tübinger Kammer zugeweht. Die Entstehung eines Lieds von derart mysteriösem Erfolg war ohne überirdische Hilfe offenbar nicht zu denken.

Man hat es in der Folge gedreht und gewendet, um ihm das Geheimnis seiner Wirkung zu entreißen. 1977 erschien eine Schrift des »Wiener Seminars für Melosophie«, die den »heilenden Kräften« in Silchers Vertonung nachlauscht. Ihr Autor, Victor Lazarski, glaubt, daß das Lied sich durch eine ihm selbst innewohnende Kraft aus »militärischer Enge« befreit und zum Abschiedslied der gesamten Menschheit gewandelt habe. Für Lazarski hat die »Seele« des Lieds ihren Sitz im zehnten Takt. Genau dort aber findet sich eine der wenigen Stellen, wo Silcher in die vorgefundene Melodie eingriff, indem er bei der unechten Wiederholung der jeweiligen Schlußzeile den harten Auftakt weicher gestaltete und so den Marsch ins Elegische umkippen ließ.

Was Lazarski beim genialischen Individuum fand, hatte zuvor Heyman Steinthal beim singenden Kollektiv ausgemacht. 1880 veröffentlichte er in der Zeitschrift für Völkerpsychologie einen Aufsatz, in dem er sich mit den »Umsingungen« von Uhlands Lied befaßt. Er zitiert eine Variante, die er von einem Dienstmädchen singen hörte:

Die Kugel kam geflogen
Gilt sie mir? Gilt sie dir?
Ihn hat sie weggerissen,
Er lag zu meinen Füßen
Als wär’s ein Stück von mir.

Für Steinthal hat der Volksmund hier verbessernd gewirkt und Klarheit geschaffen: »Nicht ›eine‹ Kugel, sondern die fatale kam geflogen. Er sieht sie kommen, und das ›Gilt sie mir? Dir?‹ schildert die Angst des Soldaten, die er aber um sich nicht mehr als um den Kameraden hat, was auch in dem Mangel des ›oder‹ liegt, welches trennen würde. Den Wandel des ›es‹ in ›sie‹ kann ich nur billigen, denn das ›es‹ der dritten Zeile ist ohne rechte Bedeutung. Eine Verbesserung wiederum ist ›er lag zu meinen Füßen‹, parallel zu ›er ging an meiner Seite‹.« Uhlands Fassung scheint ihm nur »volksmäßig«, erst durch die Veränderungen werde ein echtes Volkslied daraus. Voraussetzung sei nur, daß so ein Lied gefalle, dann werde es allmählich umgesungen. »Dies geht durch die Jahrhunderte und breitet sich aus wie die Sprache des Volkes und mit ihr.« Einspruch erhebt Steinthal im Namen des Volkes auch gegen die dritte Strophe. Er verwirft sowohl die »Sentimentalität« des Sterbenden, der dem Kameraden die Hand reichen will, wie auch die »Härte« des anderen, der die Hand nicht nimmt. Zudem mag er die Formulierung vom »ew’gen Leben« nicht, sie sei »abstract«. Aus all diesen Gründen werde die dritte Strophe denn auch nirgendwo gesungen. Doch die Stunde von Härte und Sentimentalität sollte noch kommen. Dem Guten Kameraden stand sein Aufstieg zu unüberbietbarer Beliebtheit noch bevor.

In ihrer Anthologie Lieder, die die Welt erschütterten, präsentiert Ruth Andreas-Friedrich Uhlands Lied bei den Liedern aus dem deutsch-französischen Krieg, wie übrigens auch das Deutschlandlied. War es 1870/71 noch eher ein ergreifendes Soldatenlied als ein »trotziger Kriegsgesang«, so sollte sich das im nächsten Krieg ändern. Eine Umfrage unter Soldaten des Ersten Weltkriegs, gemacht von Volkskundlern, ergab, daß das Lied an deutschen Fronten das meistgesungene war, und zwar wegen seiner »begeisternden Wirkung«. Dazu muß man wissen, daß es jetzt nur noch zum wenigsten aus Uhlands Text bestand, sondern aus einem Potpourri erzpatriotischer Kehrreime. Vorneweg wurden im Originalton jeweils nur die ersten drei Verse gesungen – und dann:

Gloria, Gloria, Gloria Viktoria!
Ja mit Herz und Hand
Fürs Vaterland, fürs Vaterland.
Die Vöglein im Walde,
die sangen all so wunderschön.
In der Heimat, in der Heimat,
da gibt’s ein Wiedersehn.

Noch im ersten Kriegsjahr brachten Uhland-Puristen ein Flugblatt heraus (»Der ›Gute Kamerad‹ in schlechter Verfassung«), in dem sie für derlei »Verhunzungen« das »Eindringen von Operettenschlagern« in die Alltagskultur verantwortlich machen. Doch den wahren Schuldigen entlarvte im August 1918 die »Turn-Zeitung«: Er heiße Wilhelm Lindemann, sei Kabarettist in Berlin und berühmt für die bösen Scherze, die er »zu Vortragszwecken« mit vaterländischem Liedgut treibe. Kein Wunder, daß der an das Lied geklebte Kehrreim so komisch klingt; gesungen wurde er aber im Ernst. Die Verteidiger des Kehrreims kamen der Sache näher. In ihren Streitschriften begrüßen sie das »Gloria« als Ventilation »unsagbarer Gefühle« zwischen Heimweh und Todesfurcht. Willkommen ist ihnen das Schlagwort-Gewitter des »Gloria« auch, weil es wie ein nationales Glaubensbekenntnis tönt. Der Gute Kamerad scheint heimgekehrt ins Kaiserreich, zum »Gemüt« hat er endlich »Gesinnung« erworben. Konnte man mehr recht behalten, als Heyman Steinthal, der das Schicksal des Volkslieds mit dem der Volkssprache verbunden sah? Die Phrase beherrschte die öffentliche Rede – im Sinn von Karl Kraus‘ Erkenntnis, daß das erste Opfer des Kriegs immer die Sprache sei – und folglich Uhlands Lied.

Die nationale Vereinnahmung erzeugte aber auch ihr Gegenstück: die (bewußte) Parodie. Als von 1916 an die Siegeszuversicht schwand, blühten an allen Fronten die Spottversionen. Sie richten sich oft gegen die miserable Versorgung (»Ich hatt einen Katzenbraten«) oder schwelgen – teils mit pazifistischem Unterton – im Überdruß:

Ich hatt einen Kameraden.
Einen schlechtern findst du nit.
Die Trommel schlagt zum Streite,
Er schleicht von meiner Seite
Und sagt: ›I tu nit mit‹.

Fortan wurde das Lied von allen Seiten beansprucht. Doch sein Sinnkern blieb unverletzt, mochten die Seiten noch so gegensätzlich sein. Den stärksten Beleg dafür bietet Wolfgang Langhoff in seinen Moorsoldaten, den Erinnerungen an seine KZ-Haft während der frühen Nazi-Zeit: Die SS hat einen Häftling erschossen. Die anderen überlegen, wie sie dagegen »protestieren« können. Als beim Appell der Befehl kommt: Singen!, stimmen sie den Guten Kameraden an. Die SS-Männer sind irritiert. Einer fragt die Häftlinge: Wieso dieses Lied? Sie sagen es ihm, und er »stiefelt nachdenklich auf seinen Platz zurück«.

Ob sich deutsche Landser im Zweiten Weltkrieg durch Uhlands Lied bei ihren Vorgesetzten ähnlichen Respekt verschafften, ist zweifelhaft, zumindest im folgenden Fall. Es scheint unglaublich, aber da getrauen sich ein paar Todgeweihte, in ihrer Frontkämpferzeitung Nr. 31, Dez. 42 diese Zeilen zu drucken:

Wir hab’n einen großen Führer
Einen größern findt ihr nicht.
Er führt durch blut’ge Kriege
Vier Jahr lang uns zum Siege,
Doch das Ende sehn wir nicht.
Gloria, Gloria, Gloria Viktoria!
Für das Hakenkreuz,
Mit dem Ritterkreuz
Gehn wir zu Grab.

Wie auch Ernst Buschs antifaschistische Neuschöpfung aus dem Spanischen Bürgerkrieg, gewidmet dem gefallenen Kommunisten Hans Beimler (»Eine Kugel kam geflogen / aus der ›Heimat‹ für ihn her«), belegt diese Variante den mythischen Charakter, den das Lied inzwischen angenommen hatte. Es ließ sich endlos aktualisieren, immerfort neuen Erfahrungen und Positionen angleichen, aber stets so, daß darunter der Urkamerad erkennbar blieb. Uhlands Lied wurde sozusagen ein Überschreib-Lied, eine Palimpsest-Hymne nach der Art der mittelalterlichen Schreibvorlagen, die abgekratzt und wieder beschrieben werden konnten, und zwar so, daß die ältere unter der jüngeren Schrift noch lesbar war. Warum aber entstand statt der zahllosen Überschreibungen kein neues Lied? Ein ganz persönliches, unverwechselbares? Fanden die Deutschen im Guten Kameraden zu allen Zeiten ihre heimliche Hymne? Vielleicht wurde für jene, die auf Uhlands Form zurückgriffen, die eigene Erfahrung gerade in dieser Form vertrauter, glaubwürdiger, teilbarer und mitteilbarer.

Eine weitere Antwort gibt in seinen Studien über die Deutschen Norbert Elias, der das Lied als Soldat im Ersten Weltkrieg kennenlernte. Die Deutschen hätten den Guten Kameraden stets so inbrünstig gesungen, weil er ihr »verdüstertes Selbstgefühl« ausdrückte. Daß ihre Lieblingslieder fast alle eine »starke Vorahnung des Todes« erfülle, sei historisch zu erklären: Vom 16. Jahrhundert an war Deutschland durch seine staatliche Schwäche viele Male Europas »Hauptkriegsschauplatz«. Vor allem der Dreißigjährige Krieg hinterließ traumatische Spuren im »Habitus der Deutschen«. Geblieben sei ihnen eine unauslöschliche Erinnerung an Zerstörung, Tod, Vergeblichkeit.

Elias weist so dem Guten Kameraden seine Bedeutung im größtmöglichen Zeitraum deutscher Geschichte zu. Doch ist dies unselige Kontinuum mittlerweile beendet? Was den Guten Kameraden betrifft, sieht es so aus. Zumindest, wenn man den Blick auf sein Erscheinungsbild in Heiner Müllers frühem Drama Die Schlacht lenkt. Darin gibt es eine Szene, in der deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs, vor Hunger dem Wahnsinn nahe, zu Silchers Klang und Uhlands Worten einen Kameraden verspeisen. Das ist die äußerste Katastrophe, die den Guten Kameraden ereilen kann. Im kannibalischen Irrsinn des totalen Kriegs findet die Tübinger Romantik ihr Ende.

Doch seine bisher letzte Wiederkehr fand in den Stammheimer Zellen der RAF statt, und sie ist keine Erfindung. Stefan Aust zitiert in seinem »Baader-Meinhof-Komplex« aus einem konfiszierten Kassiber Gudrun Ensslins, in dem inmitten kleingehackter RAF-Prosa der Vers steht: »Ich hatt einen Kameraden«. Er blitzt auf, als die Verfasserin sich wieder einmal zugunsten Baaders gegen die »Verräterin« Meinhof entscheidet. Der »Gute Kamerad« als Orientierungshelfer zwischen Freund und Feind: So kompliziert konnte im Volksbefreiungskrieg die Lage mitunter sein.

Kurt Oesterle, Tübungen

Der Artikel wurde zuerst im Schwäbischen Tagblatt, Tübingen, am 15. November 1997 abgedruckt; der Verfasser hat dafür den Theodor-Wolff-Preis des Verbandes der deutschen Zeitungsverleger erhalten.