Warum gibt es keine deutschen Weihnachts-Rock-Songs? Zum Unterschied zwischen ‚campy‘ und ‚kultig‘ am Beispiel von Matthias Reims „Letzte Weihnacht“
26. Dezember 2011 1 Kommentar
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Wham!
Last Christmas
Last Christmas
I gave you my heart
But the very next day
you gave it away
This year
To save me from tears
I'll give it to someone special
Once bitten and twice shy
I keep my distance, but you still catch my eye
Tell me baby: Do you recognize me?
Well, it's been a year, it doesn't surprise me.
"Merry Christmas", I wrapped it up and sent it
With a note saying "I love you", I meant it.
Now I know what a fool I've been
But if you kissed me now, I know you'd fool me again.
Last Christmas […]
A crowded room, friends with tired eyes
I'm hiding from you and your soul of ice.
My god I thought you were someone to rely on.
Me? I guess I was a shoulder to cry on.
A face on a lover with a fire in his heart
A man undercover, but you've torn me apart
Oo-hoo
Now I've found a real love, you'll never fool me again.
Last Christmas […]
A face on a lover with a fire in his heart
A man undercover but you've torn him apart
Maybe next year
I'll give it to someone
I'll give it to someone special.
[Wham!: Last Christmas. Epic 1984.]
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Matthias Reim Letzte Weihnacht Letzte Weihnacht ist ein Jahr her, ich gab dir mein Herz, jetzt willst du's nicht mehr. Diesmal, das schwöre ich dir, da schenk' ich es einer Bess'ren. Wir wollten zu zweit sein, am Weihnachtsabend, jetzt sitze ich hier allein, doch zu stören, scheint dich das nicht, wie du mir jetzt hier, so einfach mein Herz brichst. „Frohe Weihnachten“, sprichst du mir auf mein Handy, und ich frag mich, was soll das letztendlich, jetzt weiß ich erst, was ich für dich bin und weiter zu trauern macht echt keinen Sinn. Letzte Weihnacht [...] Ich bin mit all unsren Freunden da, wie heilig Abend genau vor einem Jahr. mein Herz zerreißt, wenn ich an dich denk, du warst mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Ich versuch nicht zu zeigen, was mit mir ist, dass da immer noch diese Wahnsinnssehnsucht ist, ich kann nur hoffen, dass es das nochmal gibt: ein Weihnachtsabend, an dem ich mich verlieb. Letzte Weihnacht [...] Ich versuch nicht zu zeigen, was mit mir ist, dass da immer noch diese Wahnsinnssehnsucht ist, ich kann nur hoffen, dass es das nochmal gibt: ein Weihnachtsabend, an dem ich mich verlieb. Letzte Weihnacht [...] Letzte Weihnacht, es sollte für immer sein, Ich gab dir mein Herz jetzt sitze ich hier allein. Letzte Weihnacht ist ein Jahr her, ich gab dir mein Herz, jetzt willst du's nicht mehr. Dieses Jahr, das schwöre ich dir, da schenk' ich es einer Bess'ren. [Matthias Reim: Die große Weihnachtsparty. Elektrola 2011.]
Warum gibt es zu Last Christmas von Wham! kein deutschsprachiges Äquivalent – also einen Pop- oder Rocksong, dem in der Vorweihnachtszeit zu entkommen kaum möglich ist? Und warum finden sich auf einem Sampler mit dem Titel Rock Christmas – Die Deutsche diverse Lieder, deren Texte gar keinen expliziten Bezug zu Weihnachten haben (z. B. Udo Lindenberg: Horizont, Nena: Wunder gescheh’n)? Im anglophonen Raum bildet das Pop-/Rock-Weihnachtslied ein eigenes traditionsreiches Genre, zu dem (teilweise häufig gecoverte) Klassiker wie Bing Crosbys White Christmas, Gene Autreys Rudolph, the Red-Nosed Reindeer, Eartha Kitts Santa Baby, Queens Thank God It’s Christmas und Chris Reas Driving Home for Christmas zählen. Selbst die Folk-Punk-Band The Pogues partizipiert mit Fairytale of New York an diesem Genre, während deutschsprachige Punkbands, wenn sie sich mit dem Thema auseinandersetzen, Anti-Weihnachtslieder veröffentlichen – wie etwa Hass mit Der Nikolaus ist Stasi, Knecht Ruprecht die SS.
Vielleicht liefert eine nähere Betrachtung von Matthias Reims Versuch, Last Christmas ins Deutsche zu übertragen, Ansatzpunkte für eine Erklärung des Phänomens, dass – außerhalb des sogenannten volkstümlichen Schlagers – Weihnachten und gegenwärtige Musik in Deutschland kaum Berührungen aufweisen. Denn Übersetzungen müssen ja stets nicht nur einen sprachlichen, sondern auch einen kulturellen Transfer leisten.
Schon das erste Verspaar wirkt in seiner Tautologie komisch: Denn die letzte Weihnacht ist ja qua definitionem ein Jahr her (dass das Sprecher-Ich sich im zeitlichen Umfeld von Weihnachten äußert, kann man sich bereits vor dem Einsetzen des Gesangs aus der musikalisch hergestellten intertextuellen Beziehung zum Original erschließen). Ob diese Komik freiwillig oder unfreiwillig ist, lässt sich kaum bestimmen, stellt doch auch das Robert Palmers Addicted to Love-Video zitierende Musikvideo zu Letzte Weihnacht eine selbstironische Haltung aus. Der Rest des Refrains kommt dem Original zwar nahe, unterscheidet sich aber in durchaus wichtigen Nuancen:
Das Sprecher-Ich vergibt sein Herz im Original anderweitig, um sich erneuten Liebeskummer zu ersparen („to save me from tears“); in Reims Fassung hingegen wird aus dem Selbstschutz, dessen Notwendigkeit aus dem Bewusstsein der eigenen tiefen Verletzung abgeleitet wird, ein trotziger, an die ehemalige Partnerin adressierter Schwur.
Und dass aus „someone special“ eine „Bess’re[]“ wird, ist gleich in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen wird damit das – von einem Homosexuellen gesungene und in einer ‚homosexuellen’ Ästhetik gehaltene – Original ohne durch den Sprachtransfer bedingte Notwendigkeit (‚jemand Besond’rem‘ wäre ebenso möglich gewesen) heterosexuell vereindeutigt (was beim Original erst das Video tat). Zum anderen fällt die implizierte Beleidigung der angesprochenen Person anders aus: Im Original versucht das Sprecher-Ich sein Gefühl, beliebiges Objekt akuter Bedürfnisse („Me? I guess I was a shoulder to cry on“) gewesen zu sein, nun derjenigen Person zu vermitteln, die es ihm zugefügt hat: Sie ist eben nicht „someone special“. Reims Sprecher-Ich dagegen beleidigt kompetitiv: Die Neue soll ‚besser‘ sein.
Ferner ist aus dem Vorwurf, der im Original pathetisch in einer Fortentwicklung des Bildes vom vergebenen Herzen, das die/der Beschenkte achtlos weitergegeben hat („you gave it away“), vorgetragen wird, die eher lapidare Feststellung geworden, dass die Angesprochene das Herz nun nicht mehr wolle.
Auch dass die Zeitangabe „the very next day“ fehlt, entdramatisiert das Vorgefallene in Reims Version: Ob die Liebe gleich am nächsten Tag enttäuscht wird oder ob eine Beziehung im Laufe eines Jahres in die Brüche geht, macht einen erheblichen Unterschied.
In den Strophen feststellbare Differenzen dienen ebenfalls der Überführung einer hochemotionalen Ausnahmesituation in eine verallgemeinerbare Alltagsgeschichte: Im Original begegnet das Sprecher-Ich, das aufgrund der ein Jahr zurückliegenden Verletzung noch immer tief verängstigt ist („Once bitten and twice shy“), der damals geliebten Person wieder und versucht, ihr auszuweichen, weil es – obwohl mittlerweile anderweitig glücklich liiert – fürchtet, ihr erneut zu verfallen und erneut verletzt zu werden („But if you kissed me now / I know you’d fool me again“). Es ist die Geschichte einer amour fou, die angesungene Person eine femme fatale oder ein homme fatal.
Bei Reim erinnert sich das Sprecher-Ich anlässlich der Weihnachtsfeier mit den gemeinsamen Freunden, aber, anders als geplant, ohne die geliebte Frau (sie spricht ihm nur auf die Mailbox) an die Anfangsphase der gescheiterten Beziehung, der er noch nachtrauert. Dabei versucht er nicht, sich zu verstecken, sondern lediglich seine Gefühle nicht zu zeigen. An die Stelle der hochpathetischen Bilder („soul of ice“) des Originals treten bei Reim idiomatische Wendungen („mein Herz zerreißt, wenn ich an dich denk“) oder der Populärkultur entlehnte Bilder („du warst mein schönstes Weihnachtsgeschenk“ zitiert u. a. die Refrainzeile „All I want for Christmas is you“ aus Mariah Careys Merry Christmas; das Kompositum „Wahnsinnssehnsucht“ bildete schon den Titel einer Roger Whittaker-Lieds).
Reims Lied lässt sich so als Übertragung eines geradezu idealtypisch campy wirkenden Songs ins Paradigma des deutschen ‚Kult-Schlagers’ interpretieren. An die Stelle der kompromisslos überzogenen Theatralik von Last Christmas, die ins unfreiwillig Komische changiert (aus heutiger Perspektive insbesondere im Weichzeichner-Video), dabei aber nicht endgültig ins Lächerliche kippt, sondern gerade in ihrem Willen zum maximalen Gefühlsausdruck und dessen partiellen Scheitern goutiert werden kann, tritt in Letzte Weihnacht ein durch augenzwinkernde (auch hier vor allem über das Video transportierte) Selbstironie abgesichertes Bemühen, eine Identifikationsmöglichkeit für die Rezipienten zu schaffen.
Diese Beobachtung lässt sich eventuell mit Blick auf die Ausgangsfrage, warum es keine erfolgreichen deutschen Weihnachts-Pop- oder Rocksongs gibt, verallgemeinern: Das Rezeptionsmuster „camp“, wie es Susan Sontag in ihrem Essay Notes On „Camp“ bereits 1964 beschrieben hat und mit dem sich die englischsprachigen Weihnachtssongs goutieren lassen, ist im deutschsprachigen Raum nie weit verbreitet gewesen. Stattdessen hat sich seit den 1990er Jahren das Konzept des „Kultigen“ etabliert, wie es etwa Dieter Thomas Kuhn popularisierte. Wer kulturelle Artefakte als campy rezipiert, findet diese eigentlich ästhetisch grauenhaft, aber gerade deshalb wieder schön, wohingegen derjenige, der kulturelle Artefakte „kultig“ findet, sie eigentlich tatsächlich mag, dies sich und anderen aber nur eingestehen kann, wenn er eine ironische Distanz behauptet.
Martin Rehfeldt, Bamberg