Met em Möllemer Böötche em Orkan: Karl Berbuers „Heidewitzka, Herr Kapitän!“ (1936)

Karl Berbuer
 
Heidewitzka, Herr Kapitän!

Eimol em Johr
dann weed en Scheffstour jemaht,
denn su en Faht hät keinen Baat.
Eimol em Johr well mer der Drachenfels sin
wo köme mer söns hin?
Liebchen ade, mer stechen he
mem Möllemer Böötche endlich en See,
un wenn et ovends spät op Heim ahn dann jeiht,
dann rofe mer vör luter Freud:

[Einmal im Jahr dann wird eine Schiffstour gemacht,
denn so eine Fahrt hat keinen Bart (= ist nicht langweilig, fad).
Einmal im Jahr wollen wir den Drachenfels sehen
wo kommen wir sonst hin?
Liebchen ade, wir stechen hier
mit dem Mülheimer Bötchen endlich in See,
wenn es abends spät heimwärts dann geht,
dann rufen wir vor lauter Freude:]

Heidewitzka, Här Kapitän!
Mem Möllemer Böötche fahre mer su jähn,
mer kann su schön em Dunkle schunkele,
wenn üvver uns de Stääne funkele;
Heidewitzka, Här Kapitän!
Mem Möllemer Böötche fahre mer su jähn.

[Heidewitzka, Herr Kapitän!
Mit dem Mülheimer Bötchen fahren wir so gern,
man kann so schön im Dunklen schunkeln,
wenn über uns die Sterne funkeln;
Heidewitzka, Herr Kapitän!
Mit dem Mülheimer Bötchen fahren wir so gern.]

Volldamp vörus! Et jeiht der Rhing jetzt entlang
met Sang un Klang, de Fesch wähde bang,
met hundert Knöddele, dat litt klor ob der Hand,
wink uns et blaue Band.
Süch ens der Schmitz, met singem Fitz,
die sin ald jetz su voll wie an Spritz,
hä fällt dem Zigarettenboy öm der Hals
brüllt met'ner Stemm su voller Schmalz:

[Volldampf voraus!
Es geht den Rhein jetzt lang
mit Sang und Klang, die Fische werden bang,
mit hundert Knoten, das liegt klar auf der Hand,
winkt uns das blaue Band.
Seht euch den Schmitz an, mit seinem Ältesten
die sind schon jetzt voll wie eine Spritze,
er fällt dem Zigarettenboy um den Hals
brüllt mit einer Stimme so voller Schmalz:]

Heidewitzka, Här Kapitän! [...]

Jung, op dem Scheff
hammer ald Windstärke 11,
bal Halver Zwölf un jar kein Hölf,
selvs de Frau Dotz, die met dem Wallfeschformat,
wood dovun seekrank jrad.
Heimlich un stell bütz doch dat Bell
en der Kajütt ne knochije Böll,
nä et wed Zick met uns, mer müsse ahn Land,
mer sin jo wie us Rand und Band.

[Junge, auf dem Schiff
haben wir schon Windstärke 11,
bald halb zwölf und gar keine Hilfe (in Sicht),
selbst die Frau Dotz, die mit dem Walfischformat,
wurde davon gerade seekrank.
Heimlich und still küsst doch die Babs
in der Kajüte einen knochigen Klotz (Bergler?)
nein, es wird Zeit für uns, wir müssen an Land,
wir sind ja wie außer Rand und Band.]

Heidewitzka, Här Kapitän! [...]

     [Text, Interpunktion und Übersetzung: eigene Varianten, selbstverständlich unter
     Zuhilfenahme von dialektkundigen Sprechern, des Rheinischen Wörterbuchs sowie der
     im Internet verfügbaren Angebote (worunter die einschlägige Seite der
     „koelschakademie“ besondere Erwähnung verdient).]

Warum mir diese Hymne auf die Kölner bzw. Mülheimer Rheinschifffahrt aus dem Jahre 1936 unter den Karnevalsliedern schon immer besonders ans Herz gewachsen war, mag damit zusammenhängen, dass Fahrten mit einem kleinen Motorschiff über den Rhein zwischen Mannheim und Ludwigshafen, ausnahmsweise auch ein Klassenausflug mit einem solchen „Böötche“ nach Speyer, zu den absoluten Höhepunkten meiner Kindheitserinnerungen zählen. Vielleicht hat mich aber auch schon als Kind die muntere Grußformel „Heidewitzka!“ in besonderer Weise angesprochen, zumal man in der Kurpfälzischen Binnenschifffahrt wie im Ludwigshafener und Mannheimer Fastnachtsgeschehen nur auf ein vergleichsweise uninspirierendes „Ahoi!“ zurückzugreifen pflegte. Nun wird die Debatte um die Herkunft des geheimnisvollen Wortes „Heidewitzka“ schon an anderer Stelle im karnevalistischen Geiste wissenschaftlich höchst profund ausgetragen, so dass ich zu diesem Problemkreis hier und heute nichts weiter ergänzen muss und mich mit einem Verweis auf die betreffende Quelle aus der Affäre ziehen darf: koelschakademie.finbot.com. (Diese defensive Haltung sollte aber keinen Leser, keine Leserin dieses Artikels davon abhalten, im Kommentarteil neue Informationen zu Wortherkunft, -wandlung und Verwendungsweise zum Besten zu geben – die wissenschaftliche Community wartet darauf!)

Dem Süd-, Nord- und Ostdeutschen erschließt sich bei diesem Karnevals- und Stimmungslied die Melodie leichter als der Text; so kann man es mit großer innerer Anteilnahme mitsingen bzw. -schunkeln (beabsichtigter Wortgebrauch!), ohne die darin erzählte Geschichte bis in die letzten Feinheiten der Kölschen Seele zu begreifen. Dem echten Liebhaber entsprechender Kulturgüter wird aber gerade dieses irgendwann zum inneren Bedürfnis; und wo könnte er diesem Drang schöner frönen als in Martin Rehfeldts ,Bamberger Anthologie‘?

Selbstverständlich, das weiß jeder Philologie, beginnt jedes tiefere Sinn-Verständnis bei der Sprache. Meine Übersetzungsarbeit ging im Großen und Ganzen dank gewisser Vorbildungen im Kölschen (,die einzige Sprache, die man trinken kann‘…) flott vonstatten, stieß dann aber doch auf ein paar Probleme, für deren schließlich gefundene Lösungen ich nicht unbedingt eine Hand ins Feuer legen würde. Wieder einmal sei betont, dass Hilfe-Leistungen seitens eingeborener Domstädter durchaus erwünscht sind! Dass eine Schifferlfahrt auf dem Rhein (etwa im Kontrast zu interkontinentalen Kreuzfahrten) nach Meinung der Sprecherinstanz im Lied „keinen Baat“ hat, kann ich mir aufgrund der oben angedeuteten eigenen Erfahrung gut vorstellen und mit „ist nicht fad“ ins Süddeutsche übersetzen. Der Drachenfels im Siebengebirge ist mit seinen 321 Metern eine – für Kölner und vermutlich auch für Düsseldorfer – ehrfurchtgebietende Erhebung über dem Rhein, und man kennt als Alpenanrainer ja auch diese Sehnsucht nach den Eisriesen, die ihre uralten Häupter über die niedrigen Gefilde des Alltags erheben, dessen Nebel durchstoßen und uns dem Göttlichen nahe bringen, wenn wir sie erklimmen oder auch nur zu ihnen aufschauen. Dass der Jeck also wenigstens einmal im Jahr seinen Drachenfels sehen muss, liegt auf der Hand.

Der Abschiedsgruß „Liebchen ade“ macht da schon ein wenig mehr Kummer. Warum darf das Liebchen nicht mit, warum geht es nicht ohne diese grausame Trennung in einem ansonsten doch ganz heiteren Lied? Die eine Frage führt zur anderen: Wer macht sich hier auf die Reise zu Wasser, wen haben wir uns hinter der kollektiven Sprecherinstanz vorzustellen, die z.B. im Refrain immer wieder beteuert, dass man so gerne die Mülheimer Verkehrsinfrastruktur zu Wasser nutzt? Nach langem hin und her habe ich mich entschlossen, in der am Ende doch recht ausgelassenen Reisegesellschaft die Teilnehmer eines Betriebsausfluges zu identifizieren. Das würde die gemischte Truppe und den Ausschluss des ,Liebchens‘ gleichermaßen plausibel machen, das beispielsweise bei einer Kegel- oder Karnevalsclub-Sause dabei sein sollte.

In der Refrainstrophe erklärt sich die kollektive Freude am Schunkeln im Dunkeln sowie am grenzenlosen Sternenhimmel über dem Böötchen weitgehend von selbst, wenn man einmal das „Wallfeschformat“ der Frau Dotz oder das Risiko der haubitzenvollen Schmitzens, neben denen zumindest ich nicht sitzen wollte, wenn im Dunkeln geschunkelt wird, ausklammert; aber von diesen Umständen ist sowieso erst in den nächsten Strophen die Rede. Erwähnenswert scheint mir hier aber noch ein rezeptionsästhetischer Aspekt. Wie Iser und Jauß vor vielen Jahren plausibel ausgeführt haben, wachsen literarischen Texten im Zuge ihrer Rezeptionsgeschichte wichtige und interessante Bedeutungen zu, von denen ihr Autor noch keine Ahnung hatte, haben konnte. So habe ich im Internet einen Kommentar zu „Heidewitzka“ gefunden, in welchem darauf hingewiesen wird, dass das Schunkeln im Dunkeln und die Sterne über dem Böötchen für Menschen in den Bunker- und Bombennächten (Sterne als Positionslichter an den Flugzeugen, evtl. auch als ,brennende Weihnachtsbäume‘) des 2. Weltkriegs eine ganz neue und besondere Bedeutung erhalten hätten, an die Karl Berbuer beim Texten des Titels im Jahre 1936 mit Sicherheit nicht gedacht haben wird.

In der zweiten Strophe steigt der allgemeine Übermut an Bord, übrigens zum Nachteil der Fische im Rhein, denen es angesichts der Jecken über ihnen nur Angst und Bange werden kann. Hätte sich Berbuers Kollege Willy Schneider (1905-1989) dieses Szenario vor Augen gehalten, hätte er seiner Phantasie (vgl. „Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär / ja, dann möcht ich so gern ein Fischlein sein“) sicher eine andere Richtung gegeben! Dessen ungeachtet traue ich der inzwischen hochgestimmten Sprecherinstanz nicht ganz über den Weg, wenn sie behauptet, man sei mit 100 Knoten (rund 180 Stundenkilometern, wenn ich jetzt richtig rechne) über den Rhein gebrettert: da hätte man ja gar nichts vom Drachenfelsblick gehabt! Auch bei den Hoffnungen, die man sich im Lied aufs ,Blaue Band‘ macht, den Preis für das schnellste Passagierschiff auf der Transatlantikroute Europa-New York, scheint Skepsis geboten, obwohl ,uns Böötche‘ mit 100 Knoten die in den Dreißiger Jahren tatsächlich erreichten Geschwindigkeiten der Siegerschiffe um mehr als das Dreifache überboten hätte.

Mit an Bord sind u.a. – nun fällt der erste konkrete Name – die Schmitzens, Vater und Sohn („Fitz“ von filius). Bei meinem Übersetzungsvorschlag habe ich „met singem Fitz“ als „mit seinem Ältesten“ wiedergegeben, weil es im irischen Kulturkreis üblich ist, dass jeweils der älteste Sohn den Namen des Vaters, kombiniert mit dem Zusatz ,Fitz“ (etwa ,Fitzpatrick‘, ,Fitzgerald‘) erhält. Außerdem scheint es mir eher angemessen, zu solch feucht-fröhlichen Unternehmungen wie besungener Böötche-Fahrt, ältere Kinder mitzunehmen als jüngere… „Schmitz“ ist ein typischer Kölner Name; an den berühmten Karnevalisten Jupp Schmitz (1901-1991) wird Karl Berbuer 1936 noch nicht gedacht haben, stieß der Jupp doch erst nach dem 2. Weltkrieg zur karnevalistischen Zunft.

Mit den kniffligsten Sprachproblemen wartet schließlich die letzte Strophe auf. Dass „Dotz“ als sprechender Name in unscharfer Weise auf rundlich Ausgebeultes verweist, ließ sich leicht ermitteln. Härter sind die Nüsse, die uns die Reimworte „Bell“ – „Böll“ zu knacken geben. Im Rheinischen Wörterbuch gibt es zu beiden Ausdrücken und ihren jeweiligen Ableitungen lange Artikel mit zahlreichen Bedeutungsnuancen, von denen sich prinzipiell mehrere für eine Übersetzung anbieten. „Bell“ steht vom Kontext her eindeutig für einen weiblichen Vornamen; im Wörterbuch habe ich einen Beleg für „Kurzform für Barbara“ gefunden und deshalb in meiner Übersetzung „Babs“ geschrieben, ohne dass ich ausschließen könnte, dass besagte „Bell“ vielleicht doch eigentlich eine ,Isabella‘, eine ,Annabelle‘ oder ,Billa‘ war. Dazu darf – je nach Gusto – allerlei anderes hinzuassoziiert werden: ,schön‘ nach frz. ,belle‘ oder, ganz anders gedacht, der Umstand, dass „Bell“ im Kölschen ein beliebter Name für Ziegen und Kühe (gewesen) ist.

Bei „Böll“ darf man ,hohle‘ (auch im Sinne von ,tumb‘) Objekte eher gedrungener, dicker Form assoziieren. Auch die Bezeichnung ,Bergbewohner‘ für aus großstädtisch-arroganter Sicht grobe, dumme und ungehobelte Menschen ist belegt; für einen Kölner wäre der Ausdruck für Eifel-Bewohner oder Bergische denkbar. Bleibt die Verbindung mit dem Adjektiv „knochije“ zu bedenken: ein „knochiger Dickwanst“ klingt schief. Insofern habe ich bei meiner Übersetzung das ,Zylinderförmig-gedrungene‘ der Form von „Böll“ und die Konnotationen ,derb‘ bzw. ,grob‘ bei „knochije“ betont, die ganz gut zueinander und zur Situation passen; denn hier mokiert sich ja die Sprecherinstanz darüber, dass sich die ihm offenbar wohlbekannte „Bell“ auf ein Kajütentechtelmechtel mit so einem dahergelaufenen „Böll“ einlässt. Auch dieser Vorfall beweist jedenfalls, dass es allerhöchste Zeit ist, wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen. (Von wegen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergehn!“)

Ansonsten wäre noch viel zu sagen: zu Karl Berbuer, einem der erfolgreichsten Texter und Komponisten im Kölner Karneval; zu seinem Möllemer-Böötche-Denkmal von Bonifatius Stirnberg am Karl-Berbuer-Platz in Köln, einem stilisierten Narrenschiff mit vielen Symbolfiguren des Kölschen Karnevals an Bord (vgl. www.bilderbuch-koeln.de); zu dem Umstand, dass „Heidewitzka“ in der Nachkriegszeit, als Deutschland noch keine Nationalhymne hatte, einmal bei einem Besuch Adenauers in Chicago diese Funktion übernommen und – allem Vernehmen nach – mit Anstand und Würde, wenn auch zum Missvergnügen des Gastes, erfüllt hat (vgl. www.n-tv.de); zur wechselvollen, manchmal hochdramatischen Geschichte der Mülheimer Schifffahrt und ihrer Böötche (vgl. www.gmkg.de); zur produktiven Rezeptionsgeschichte des Schlagers bei anderen Interpreten usw. usw. – aber morgen ist ein anderer Tag.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

 

Alaaf, wir Leben noch. Zu Karl Berbuers „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“

Karl Berbuer

Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien 

Mein lieber Freund, mein lieber Freund,
die alten Zeiten sind vorbei,
ob man da lacht, ob man da weint,
die Welt geht weiter, eins, zwei, drei.

Ein kleines Häuflein Diplomaten
macht heut die große Politik,
sie schaffen Zonen, ändern Staaten.
Und was ist hier mit uns im Augenblick?

Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,
Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!
Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien,
Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!
Wir sind zwar keine Menschenfresser,
doch wir küssen um so besser.
Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,
Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!

Doch fremder Mann, damit du's weißt,
ein Trizonesier hat Humor,
er hat Kultur, er hat auch Geist,
darin macht keiner ihm was vor.

Selbst Goethe stammt aus Trizonesien,
Beethovens Wiege ist bekannt.
Nein, sowas gibt's nicht in Chinesien,
darum sind wir auch stolz auf unser Land.

Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien [...]

     [Karl Berbuer: Trizonesien Song. Polydor 1948.]

Zu Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien (1948) von Karl Berbuer wurde schon viel gesagt und geschrieben. Der Hit des ersten Kölner Karnevals nach Ende des Zweiten Weltkrieges gehört zu den Stimmungsschlagern von damals, die sich auch über die närrische Zeit hinaus behaupten konnten und seither bekannt und beliebt blieben. Wer das Lied nicht aus dem Fasching kennt, könnte es im Geschichtsunterricht oder in Dokumentation über die Gründungsphase der BRD und die deutsch-deutsche Teilung gehört haben. Geschichtsdidaktiker empfehlen seinen Einsatz „als Spiegel der Mentalitäts- und Politikgeschichte 1948“ (Urbach, Dirk: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien.“ In: Praxis Geschichte 17 [2004] 5, S. 26-30). Schließlich war es ja auch einmal eine Art Nationalhymne: da die erste Strophe des Deutschlandlieds 1945 verboten und die dritte Strophe erst wieder 1952 offiziell gesungen wurde, spielte man in der Zeit dazwischen bei gegebenen Anlässen auf westdeutscher Seite Beethovens Ode an die Freude (als gemeinsames Musikstück für die gesamtdeutschen Mannschaften bei den Olympischen Spielen bis 1964), Heidewitzka, Herr Kapitän (aus dem Jahre 1936 ebenfalls von Karl Berbuer) oder eben besagtes Trizonesien-Lied (beispielsweise beim Sechs-Tagerennen in der Kölner Sporthalle 1949).

In Verbindung gesetzt wurde Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien mittlerweile u.a. mit einem Artikel der Times Anfang 1949, in dem es um die neue Aufmüpfigkeit der Deutschen ging (Kölner Stadtanzeiger). Der Karnevalsschlager und sein Anklang beim Publikum wird als Ausdruck eines gewissen neuen Selbstbewusstseins gesehen. Die Mitsingenden waren wieder lauthals „stolz auf unser Land“. Man kann das Lied entsprechend als einen Schritt Richtung Normalität ansehen, als der „in Selbstironie verpackte Wunsch, die nationale Isolation zu überwinden“ (Probst: Zur psychologischen Funktion des Karnevalsschlagers. In: Rheinischer Karneval. Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, Jg. 23 (1978), S. 38 ); oder man betrachtet es als „infam(e) und perfide“ (Heni: „Trizonesien“ revisited, oder 60 Jahre sekundärer Antisemitismus in Köln) Beleidigungen gegenüber den Opfern des Weltkriegs und des Holocausts, als wiederbelebter Revanchismus und „sekundärer Antisemitsmus“ (ebd.).

Gemäß zweiter Lesart lässt sich die Refrainzeile „Wir sind zwar keine Menschenfresser“ mit damals kaum vier Jahre zurückliegenden Gräueltaten kontrastieren. Demnach müsste es heißen: „Wir sind zwar keine Menschenfresser, aber wir haben Millionen Menschen umgebracht.“ (Ritzel: Was ist aus uns geworden? Ein Häufchen Sand am Meer). Stattdessen wird auf das Küssen verwiesen. Hier lässt sich jene Flucht in die Harmlosigkeit erkennen, die dann auch die seichten Liebeskomödien und Heimatfilme der 1950er Jahre prägt. Was die Deutschen tatsächlich mit „Eingeborenen“ ,„indigenen Völkern“ oder „Ureinwohnern“ verbindet, sind die „Mägdelein mit feurig wildem Wesien“, dazu noch das ausgelassene Tanzen zu „Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm“. Die „Menschenfresser“, leben woanders, nämlich in „Chinesien“, Polynesien oder Indonesien, bzw. in den althergebrachten Vorurteilen gegenüber diesen Ländern.

Nun, da die„alten Zeiten […] vorbei“ sind, müssen sich die Deutschen freilich selbst zu den Kolonialisierten zählen. Die Alliierten besetzen das Land und ein „kleines Häuflein Diplomaten macht heut die große Politik“, die, so könnte man ergänzen, jetzt nicht mehr von einem „Größten Feldherrn aller Zeiten“ und noch nicht von den großen Figuren des demokratischen Neubeginns in Europa, etwa Adenauer oder de Gaulle, geprägt wird. Die ersten beiden Strophen fassen diese Phase des Übergangs zusammen. Es ist viel geschehen, es hat sich viel verändert, doch „die Welt geht weiter, eins, zwei, drei“. Man mag in einer solchen Formulierung Zarah Leanders „Durchhalteschlager“ (Die Welt) Davon geht die Welt nicht unter (1942) oder den Titel des letzten filmischen NS-Propagandaversuchs Das Leben geht weiter (1945) nachklingen hören, tatsächlich heißt es in Bully Buhlans ebenfalls 1948 entstandenem Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm (wohl noch ein wenig bekannter in der Version von Hildegard Knef) ähnlich lakonisch: „Aus Glück wurde Pech und aus Pech wurde Glück, solange die Welt sich dreht“. Sätze wie „Hurra, wir leben noch“ wurden zu charakteristischen Slogans des Neuanfangs.

Mit den Strophen drei und vier wird sich gegenüber jenen positioniert, die in den neuen Zeiten als „fremder Mann“ in Trizonesien auftreten. Die Besatzungsmächte sollen wissen, dass der Deutsche „Humor“, „Kultur“ und „Geist“ besitzt. Obschon eben diese Eigenschaften in den zurückliegenden Jahren etwas vernachlässigt wurden, zeigt man sich selbstsicher: „darin macht keiner ihm was vor“. Zum Beleg werden „Goethe“ und „Beethoven“ angeführt (auf diese beiden „Weltwerte“ „aus dem deutschen Mutterboden“ bezog sich im September 1949 auch der neugewählte Bundespräsident Theodor Heuss in seiner Antrittsrede, vgl. Heuss: Die großen Reden. Der Staatsmann. Tübingen 1965, S. 91). Der Verweis auf die Klassiker beschwört gegenüber der Zäsur 1945 eine nationale Kontinuität und entspricht ganz dem „Goethe-Kult“ (vgl. etwa Klaus Schwab: Zum Goethe-Kult. In: Zur literarischen Situation 1945-1949. Hg. v. Gerhard Hay. Kronberg 1977, S. 240-251) sowie der bruchlosen Beethoven-Verehrung jener Tage. Während sich die Überlegenheit des deutschen Volkes nicht mehr militärisch oder wirtschaftlich manifestiert, kann man kulturell noch etwas präsentieren, was es „nicht in Chinesien“ gäbe.

So betrachtet erscheint Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien tatsächlich als eine äußerst aufschlussreiche Reflexion der Zeit zwischen Weltkriegsende und Wirtschaftswunder – und zwar nicht nur, weil der Text das „Entscheidungsjahr“ 1948, die Bildung der Trizone und die fortschreitende deutsche Teilung dokumentiert. Es geht um „uns“ (alle), „hier“ (in Westdeutschland), „im Augenblick“ (kurz nach der „Stunde Null“), es ist der Versuch einer Standortbestimmung in Zeiten des Umbruchs. Im Narrenkleid bot sich die Möglichkeit einer freizügigeren Artikulation unterdrückter Themen, Haltungen, Stimmungen und letztlich auch Wünsche. Es offenbaren sich recht desorientierte Deutsche, die das alte Denken noch nicht gänzlich ablegen konnten, Geschehenes verdrängen, Gegenwärtiges überwinden und nebenbei auch eine neue nationale Identität stiften wollen.

Martin Georg Kraus, Bamberg