„Bunt sind schon die Wälder“ von Johann Gaudenz von Salis-Seewis – Deutschlands beliebtestes Herbstlied
14. September 2022 2 Kommentare
Johann Gaudenz von Salis-Seewis Bunt sind schon die Wälder 1. Bunt sind schon die Wälder gelb die Stoppelfelder und der Herbst beginnt Rote Blätter fallen graue Nebel wallen kühler weht der Wind. 2. Wie die volle Traube an dem Rebenlaube purpurfarbig strahlt Am Geländer reifen Pfirsiche mit Streifen rot und weiß bemalt. 3. Dort im grünen Baume hängt die blaue Pflaume am gebognen Ast gelbe Birnen winken dass die Zweige sinken unter ihrer Last. 4. Welch ein Apfelregen rauscht vom Baum! es legen in ihr Körbchen sie Mädchen, leicht geschürzet und ihr Röckchen kürzet sich bis an das Knie. 5. Winzer, füllt die Fässer Eimer, krumme Messer Butten sind bereit Lohn für Müh und Plage sind die frohen Tage in der Lesezeit. 6. Unsre Mädchen singen und die Träger springen alles ist so froh Bunte Bänder schweben zwischen hohen Reben auf dem Hut von Stroh. 7. Geige tönt und Flöte bei der Abendröte und bei Mondenglanz schöne Winzerinnen winken und beginnen deutschen Ringeltanz*. * heute meistens „frohen Erntetanz“
Der Text wurde 1782 vom Schweizer Dichter Johann Gaudenz von Salis-Seewis verfasst. Mit ursprünglich sieben Versen erschien er 1786 zum ersten Mal im Vossischen Musen-Almanach. Heute sind hauptsächlich die Strophen 1, 2, 6 und 7 bekannt.
In der von Friedrich Matthisson 1793 herausgegebenen Fassung findet sich noch eine weitere Strophe, welche zwischen der 3. und 4. Strophe eigentlich vorgesehen war, die allerdings in der Mehrheit der mir zugänglichen Liederbücher nicht mehr vertreten ist.
Sieh! wie hier die Dirne*
Emsig Pflaum’ und Birne
In ihr Körbchen legt;
Dort, mit leichten Schritten,
Jene, goldne Quitten
In den Landhof trägt
* Bedeutung zur Zeit der Entstehung: Mädchen.
Eine rühmliche Ausnahme bildet das über 750 Lieder umfassende Werk von Theo und Sunhilt Mang: Der Liederquell – Volkslieder aus Vergangenheit und Gegenwart, Ursprünge und Singweisen (2015, S. 83 f.).
Freiherr von Salis-Seewis wurde 1762 auf dem Stammschloss seiner Familie im Kanton Graubünden geboren. In Weimar machte er die Bekanntschaft von Goethe, Herder, Schiller und Wieland. Bis zur Flucht 1789 des französischen Königs Ludwig XVI. anlässlich des Fortschreitens der Französischen Revolution war von Salis-Seewis Offizier in dessen Schweizergarde. Später bekleidete er etliche Staatsämter in der Schweiz. Er starb 1834 auf dem Familiensitz.
Die heute noch geläufige Melodie der bunten Wälder aus dem Jahr 1799 stammt vom deutschen Komponisten Johann Friedrich Reichardt, eine andere aus dem Jahr 1816 von Franz Schubert, der eine ganze Anzahl von Gedichten des Freiherrn vertont hat.
Reichardt wurde 1752 in Königsberg geboren. Er war preußischer Hofkapellmeister und später Theaterdirektor. In Weimar war er gut bekannt mit Goethe, Schiller und Herder. Reichardt unternahm viele Kunstreisen innerhalb Europas. 1814 starb er in Giebichenstein bei Halle. Einen Namen machte er sich vor allem durch die Vertonung vieler Gedichte von Goethe.
Unser Lied beschreibt anschaulich, wie sich die Erscheinungen der Natur im Herbst wandeln. Die grünen Blätter nehmen verschiedene Farben an, sie werden braun, gelb und rot in mannigfaltigen Schattierungen. Der Buntheit der Wälder entsprechen abgeerntete Felder mit ihrem von der Sonne gegilbten Stroh. Stellvertretend für viele Blätter werden hier die roten Blätter (in anderen Versionen „bunten Blätter“) genannt, die zu Boden fallen. Und da es nicht mehr so warm wie im Sommer ist, wallen graue Nebel und weht der Wind kühler.
Und im Herbst sind auch die Weintrauben reif. Exemplarisch für alle Traubenarten schwärmt der Dichter hier offensichtlich von den Rotweinsorten, die (in der Sonne) purpurfarbig strahlen. Am Geländer (Spalierobst) reifen die Pfirsiche, die dem Dichter – romantisierend ausgedrückt, aber nicht der Realität entsprechend – vorkommen, wie mit roten und weißen Streifen bemalt.
Dass das Lied aus der Zeit der Romantik stammt, ist auch daran zu erkennen, dass hier nicht die häufig schwere Erntearbeit oder die nicht minder schweißtreibende Weinlese beschrieben werden. Die Träger, die die schweren Weinkiepen geschleppt haben, sind froh, wenn die Arbeit vorbei ist. Und es ist nicht nur Feierabend, sondern die Ernte ist eingebracht und das Erntefest kann beginnen. Da springen die Träger und die Mädchen singen. Alles jubelt und die Mädchen (und jungen Frauen) haben ihre Hüte, die sie bei der Arbeit vor der sengenden Sonne schützen, mit bunten Bändern geschmückt.
Mit Einbruch der Dunkelheit spielt die Musik auf: Man kann sich vorstellen, dass Geige und Flöte hier für ein ganzes Ensemble stehen, das flotte Melodien spielt. Die jungen Winzerinnen winken den jungen Männern zu, und es beginnt der frohe Erntetanz. Das Fest ist so stimmungsvoll, dass bis tief in die Nacht bei Mondenschein gefeiert wird.
Heutzutage würde der Herbst anders beschrieben werden. Vorzeitig haben viele Bäume Blätter abgeworfen, da es ihnen an Wasser mangelt. Der Herbstanfang ist nicht warm, sondern heiß, die Pfirsiche werden halbreif gepflückt, bevor sie in der Sonne vertrocknen oder verfaulen. Die Winzer beklagen sich über die Schwerstarbeit bei der sengenden Hitze und versuchen die Traubenlese vorzuziehen. Landwirte kommen mit der Ernte nicht nach, so dass Feldfrüchte verderben. Auf den Getreidefeldern werden die Halme vorzeitig zu Stroh.
Als 2008 das christliche Magazin chrismon (Beilage der Wochenzeitung Die Zeit) ihre Leser und Leserinnen um die Nennung des deutschen Liedes gebeten, das sie am liebsten singen oder hören, erreichte nach Der Mond ist aufgegangen (Rang 1) und Die Gedanken sind frei (Rang 2, Interpretation hier) unser Herbstlied den fünften Rang.
Im September 2011 hatten der MDR Figaro (Mitteldeutscher Rundfunk) und das MDR-Fernsehen von 250.000 Volksliedern 20 Lieder ausgewählt und seine Hörer und Zuschauer nach dem schönsten Volkslied befragt. Die Auswertung der Anrufe und Zuschriften ergab, dass Bunt sind schon die Wälder die achte Stelle der Rangfolge erreicht hatte. Wahrscheinlich wäre im Herbst 2022 unser Lied nicht einmal in eine Auswahl von100 Volksliedern aufgenommen worden.
Doch nach wie vor ist dieses Herbstlied in vielen Schulliederbüchern zu finden. In der Mundorgel, dem deutschen Liederbuch mit der höchsten Auflage von 11 Millionen, habe ich es jedoch vermisst.
Dagegen weist Youtube 30 Videos aus, darunter mit den Interpreten Hannes Wader und Rolf Zuckowski (und Freunde) und in der Vertonung von Franz Schubert gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Und die Anzahl der im Internet angebotenen CDs mit dem 240 Jahre alten Lied Bunt sind schon die Wälder beträgt auch heute noch über 70.
Georg Nagel, Hamburg