Gesungener Wahlomat. Warum Jennifer Rostock in „Wähl die AfD“ niemanden beleidigt haben.

Jennifer Rostock

Wähl die AfD

Bist du alleinerziehend und willst nicht, dass der Staat dich unterstützt?
Dann wähl die AfD!
Willst du 'ne Steuerpolitik die nur dem Großverdiener nützt?
Dann wähl die AfD!
Willst du, dass man Sozialleistungen kürzt, und sowieso:
Was spricht schon gegen Arbeit unterm Mindestlohnniveau?
Bist du bereit auch noch mit 67 nicht in Rente zu gehen? Ok...
dann wähl die AfD!
 
Aber nur die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber.

Drei Kinder pro Familie, Mann im Job und Frau am Herd,
das will die AfD.
Einen Lehrplan an den Schulen, der auch nur dieses Weltbild lehrt,
das will die AfD.
Bist du gegen Inklusion und für ein Abtreibungsverbot?
Bist du ein bisschen chauvi und ganz schön homophob?
Scheißt du auf gesellschaftlichen Fortschritt, sag der freien Welt ade und geh...
wähl die AfD!
 
Aber nur die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber.
 
Willst du ne Partei, die ihre Wähler manipuliert?
Dann wähl die AfD. 
Die deren Ängste instrumentalisiert?
Dann wähl die AfD.
Eine Religion als Feidnbild, rechter Terror und was weiß ich,
das alles riecht verdammt nochmal nach 1933.
Du willst, dass sich was ändert in nem Land und zwar zum Guten?
Na, dann geh und wähl...
nur bitte diesen Scheiß nicht!

Vertonte Wahlprogramme haben bislang selten großen Anklang beim Publikum gefunden und sind meist nur als ungelenke popkulturelle Kuriosa wie das JU-Lied vereinzelt wahrgenommen wurden. Umso überraschender, dass die Usedomer Band Jennifer Rostock mit einem solchen Lied innerhalb weniger Tage über fünfzehn Millionen Internetaufrufe erzielt hat. Zwar ist die Band auch ansonsten sehr erfolgreich, aber einen solchen viralen Hit wie mit Wähl die AfD konnte sie bislang nicht erzielen (ihre übrigen Musikvideos haben bei Youtube je zwischen einer halben und sechs Millionen Aufrufe).

Nun unterscheidet dieses Lied von anderen Wahlprogrammliedern, dass es nicht in der Absicht verfasst ist, für das referierte Programm zu werben, sondern davor zu warnen. Entsprechend fiel die Resonanz nicht nur affirmativ, sondern teilweise auch kritisch aus. Dabei blieb es nicht bei sachlicher oder auch polemischer Kritik, sondern insbesondere die Sängerin Jennifer Weist wurde, wie derzeit jede/-r, die oder der sich öffentlich gegen die AfD positioniert, zum Objekt von zahllosen, teilweise mutmaßlich justiziablen Beschimpfungen und Drohungen. Eine davon postete sie auf facebook:

Genau wegen solcher schlampen wie dir wähle ich afd !!!!!!!!!!!!!!!!!!
von politik keine ahnung aber mitreden wollen
hör auf uns AfD-Wähler zu beleidigen !!!!!!!!!!!!!!!!!!
die verfickte hure merkel und das ganze cdu pack muss weg ..

Neben dem Inhalt und der Sexualisierung der Beleidigung von Frauen ist hier zu berücksichtigen, dass die Sängerin diesen anonymen Brief in ihrem privaten Briefkasten fand. Mit dieser Handlung ist die implizite Drohung verbunden: ‚Wir wissen wo du wohnst und können jederzeit kommen.‘ Spätestens ab dieser Eskalationsstufe, auf der die Veröffentlichung eines Liedes persönliche Bedrohungen nach sich zieht, hätte man (zugegebenermaßen naiverweise) erwarten können, dass sich andere AfD-Anhänger oder Vertreter der Partei, die stets eine angebliche Gesinnungsdiktatur beklagen und sich zu Kämpfern für die Meinungsfreiheit stilisieren, sich von diesen Methoden distanziert hätten. Jedoch lautete der Tenor in AfD-freundlichen Kommentaren unter Artikeln über die Bedrohung von Jennifer Weist ‚Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus‘, wer AfD-Wähler derart beschimpfe wie Frau Weist und zudem noch Lügen über die Partei verbreite, der müsse sich nicht wundern. Das wäre schon, wenn die Vorwürfe, die Band beleidige AfD-Wähler und verbreite Lügen zuträfen, eine antidemokratische Einstellung, da damit legitimiert wird, auf (und seien es unrichtige und polemische) Diskursbeiträge mit der Androhung von Gewalt zu reagieren. Dieses Verhalten zielt nicht darauf, den anderen mit rhetorischen Mitteln zu überzeugen, sondern stattdessen Angst zu verbreiten, damit Gegenmeinungen in Zukunft gar nicht erst geäußert werden. Zu dieser Strategie bekennen sich viele kommentierende AfD-Sympathisanten also ganz offen – was die andere typische Antwort ad absurdum führt, derzufolge es sich wahrscheinlich um eine false flag-Aktion der band selbst handle, um Publicity zu erhalten.

Zu klären wäre aber dennoch, ob denn die gegenüber Jennifer Rostock vorgetragenen Vorwürfe der Beleidigung und Lüge zutreffen – auch wenn selbst das das Verhalten vieler AfD-Anhänger nicht rechtfertigen könnte. Der Youtuber Hagen Grell hat sich an einem „Faktencheck“ versucht, indem er die einzelnen Liedverse mit dem AfD-Grundsatzprogramm abgleicht, wobei er sich gar nicht erst die Mühe macht, zu versuchen, zu verstehen, worauf sich Jennifer Rostock beziehen könnten, sondern lediglich Passagen zum gleichen Thema vorliest um dann erwartbarerweise zu konstatieren, dass das aber anders klinge. Unabhängig von dieser schlampigen und voreingenommenen Subsumption, die er höhnisch sowie mit den offenbar unvermeidlichen persönlichen Beleidigungen durchzogen vorträgt, erscheint dieses Verfahren eines bloßen Wortlautabgleichs mit dem Grundsatzprogramm aus mehreren Gründen wenig geeignet, um Aussagen über den Wahrheitsgehalt von Jennifer Rostocks Liedtext zu treffen. Denn Parteien im Allgemeinen und die AfD im Besonderen kommunizieren in der Regel auf anderen Wegen mit dem Wähler als mittels der (im Falle der AfD überhaupt erst nach mehreren Landtagswahlen erfolgten) Veröffentlichung von Grundsatzprogrammen, die, teilweise aus strategischen Gründen, teilweise wegen der durch die Textsorte geforderten Kürze und der Notwendigkeit, einen parteiinternen Konsens herbeizuführen, meistens sehr vage gehalten und in vielen Punkten stark interpretationsbedürftig sind. Deshalb muss die Datenbasis zur Beantwortung der Frage, welche Ziele eine Partei vertritt, breiter gefasst werden und auch Äußerungen von Spitzenpolitikern sowie natürlich das politische Handeln der Partei mit einschließen. Dies gilt im Falle der AfD umso mehr, als deren Vorsitzende Frauke Petry sich ganz offen zu der Kommunikatiosstrategie bekannt hat, zunächst mit provokanten Äußerungen Aufmerksamkeit zu generieren, die man anschließend noch immer relativieren könne (vgl. welt.de) – also einerseits ein weit rechts stehendes Milieu anzusprechen, das die halbherzigen Relativierungen als taktische Manöver auffasst, und andererseits ein nicht so weit rechts stehendes Publikum davon zu überzeugen, man meine es gar nicht so. Das markanteste Beispiel dafür waren wohl die Petrys Äußerungen zum Waffeneinsatz gegen friedliche Menschen im Falle eines ungenehmigten Grenzübertritts sowie Beatrix von Storchs Präzisierung, das gelte auch für Frauen und Kinder, die sie später u.a. mit der berühmt gewordenen Einlassung relativierte, sie sei auf der Maus ausgerutscht. Auch Frauke Petrys Adaption von Neonazi-Jargon („Antifanten“) oder Alexander Gaulands Äußerungen über Jerome Boateng sowie seine positive Bezugnahme auf ein Plakat mit einem Slogan der rechtsradikalen Band Gigi und die brauenen Stadtmusikanten fallen in diese Kategorie. Als jüngste Beispiele wären Frauke Petrys Einlassungen dazu, dass der rechtsradikale Kampfbegriff „völkisch“ wieder positiv besetzt werden solle.

Angesichts dieses Verhaltens erscheint es grundsätzlich als legitime Strategie der verbalen politischen Auseinandersetzung, auch Aussagen des Grundsatzprogramms in Frage zu stellen, wenn sie im Widerspruch zu andernorts getroffenen Aussagen stehen. Wer auf eine widersprüchliche Kommunikationsstrategie setzt, um verschiedene Wählergruppen anzusprechen, muss hinnehmen, dass der politische Gegner jene Aussagen aufgreift, die aus seiner Sicht zur Skandalisierung taugen. Für den Umgang mit dem Liedtext von Jennifer Rostock heißt das: Solange sich eine prominent mitgeteilte Aussage oder ein entsprechendes Verhalten seitens der AfD finden lässt, das im Einklang mit den Vorwürfen von Jennifer Rostock steht, lassen sich diese nicht als Lügen klassifizieren. Zu den Aussagen im Einzelnen.

Beendigung der Unterstützung Alleinerziehender: Im Grundsatzprogramm der AfD findet sich folgende Passage: „Wir wenden uns entschieden gegen Versuche von Organisationen, Medien und Politik, Einelternfamilien als fortschrittlichen oder gar erstrebenswerten Lebensentwurf zu propagieren. Der Staat sollte stattdessen das Zusammenleben von Vater, Mutter und Kindern durch finanzielle und andere Hilfen in Krisensituationen stärken.“ Von einer gesonderten Unterstützung Alleinerziehender ist nicht die Rede, andernorts lediglich davon, dass allgemeine Maßnahmen zur Unterstützung von Eltern auch Alleinerziehenden zugutekämen. Im Programmentwurf wurde noch ein Verschuldensprinzip propagiert: „Wer unverschuldet in diese Situation geraten ist, verdient selbstverständlich unser Mitgefühl und die Unterstützung der Solidargemeinschaft. Eine staatliche Finanzierung des selbstgewählten Lebensmodells ‚Alleinerziehend‘ lehnen wir jedoch ab.“ (Entwurf, S. 41) Es erscheint also durchaus plausibel, dass die AfD anstrebt, bisher bestehende steuerliche und sonstige Vorteile für Alleinerziehende abzuschaffen.

Steuerpolitik, die nur Großverdienern nützt: Die AfD fordert in ihrem Grundsatzprogramm einen Stufentarif, einen höheren Grundfreibetrag, ein Familiensplitting sowie eine Abschaffung der ausgesetzten Vermögenssteuer und der Erbschaftssteuer. Während die Folgen des Stufentarifs nicht abzuschätzen sind, weil die AfD die Höhe der Stufen nicht benennt, nutzt der Grundfreibetrag allen Steuerzahlern gleichermaßen, das Familiensplitting hingegen ermöglicht vor allem bei hohen Einkommen für kinderreiche Familien eine erhebliche Steuerersparnis und die Abschaffung von Vermögens- und Erbschaftssteuer kommen ausschließlich Wohlhabenden zugute, da schon jetzt bei der Erbschaftssteuer der Freibetrag für Ehepartner 500.000 und für Kinder 400.000 Euro beträgt. Somit trifft die im Liedtext behauptete Ausschließlichkeit des Nutzens für Großverdiener zwar nicht zu, jedoch liegt der Schwerpunkt der geplanten Steuerpolitik der AfD durchaus bei der Entlastung von Wohlhabenden. (vgl. dazu auch faz.net)

Kürzung von Sozialleistungen: Im Grundsatzprogramm findet sich zur Höhe von Sozialabgaben nichts. Im Entwurf war aber noch davon die Rede, das ALG I durch eine freiwillige private Versicherung zu ersetzen, mithin in seiner bisherigen Form zu streichen. Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen äußerte zudem „31 Prozent des BIP sind Sozialausgaben. Da sind einige Zöpfe dabei, die ohne große Folgen abgeschnitten werden können“. (ebd.) Zudem wären Kürzungen bei den Sozialleistungen allein schon unumgänglich, um bei Einhaltung der Schuldenbremse und einer zusätzlich von der AfD geforderten Steuerbremse die steuerlichen Mindereinnahmen sowie die geplanten Mehrausgaben u.a. im Verteidigungsetat gegenzufinanzieren. Dass die AfD, wenn sie an die Regierung käme, Sozialleistungen kürzen würde, kann somit als sicher gelten.

Abschaffung des Mindestlohns: Hier trifft der Vorwurf von AfD-Anhängern, der Liedtext gebe aktuelle Parteipositionen nicht korrekt wieder, vollumfänglich zu, denn in ihrem Grundsatzprogramm bekennt sich die AfD ausdrücklich zum Mindestlohn. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass bei diesem Thema eine radikale Kehrtwende der Partei stattgefunden hat: Im Programm zur Wahl des Europäischen Parlaments 2014 lehnte die AfD einen gesetzlichen Mindestlohn noch ab: „Zudem sind diese Arbeitsplätze gerade durch den Mindestlohn gefährdet. Der überhöhte gesetzliche Mindestlohn in Frankreich wird von vielen Ökonomen als Hauptursache für die hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesem Land angesehen.“ Und noch am 28. April 2015 hatte Frauke Petry sich auf der AfD-Homepage mit folgenden Ausführungen zitieren lassen: „Das Gesetz über den Mindestlohn steckt voller Fehler. Geringqualifizierte und Beschäftigte in den klassischen Trinkgeld-Branchen sind zunehmend von Arbeitslosigkeit bedroht.“ Das ließ sich kaum anders verstehen, als dass in den genannten Bereichen der Mindestlohn nicht gelten solle.

Renteneintrittsalter über 67: Hier ist das AfD-Grundsatzprogramm eindeutig, wenn „flexible Modelle einer sich parallel zum Anstieg der Lebenserwartung verlängernden Lebensarbeitszeit“ (S. 42), was ein höheres Renteneintrittsalter impliziert, propagiert werden.

Traditionelle Geschlechterrollen, Chauvinismus und Homophobie: Das Leitbild von drei Kindern pro Familie hat nicht nur Frauke Petry formuliert (vgl. u.a. zeit.de), es findet sich auch im Grundsatzprogramm, wo von eine „spezielle Förderung von Mehrkindfamilien“ (S. 37, 41) gefordert wird. „Drei Kinder pro Familie“ ist also voll und ganz AfD-Programmatik. Das gilt auch für „Mann im Job und Frau am Herd“: Denn die AfD plädiert in ihrem Grundsatzprogramm für die Betreuung kleiner Kinder zu Hause und der Frau wird dabei idealtypisch die Rolle der Kinderbetreuung und -erziehung zugewiesen, etwa, wenn davon die Rede ist, die „Diskriminierung der Vollzeit-Mütter“ zu stoppen (Grundsatzprogramm, S. 43) und Vollzeit-Väter nicht erwähnt werden. Auch das wiederholte Bekenntnis zur ‚traditionellen  Familie‘ evoziert dieses Bild ebenso wie  die Positionierung „gegen die vom ‚Gender-Mainstreaming‘ propagierte Stigmatisierung traditioneller Geschlechterrollen“ (S. 41). An anderer Stelle heißt es: „Die Gender-Ideologie marginalisiert naturgegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern und wirkt damit traditionellen Wertvorstellungen und spezifischen Geschlechterrollen in den Familien entgegen. Das klassische Rollenverständnis von Mann und Frau soll durch staatlich geförderte Umerziehungsprogramme in Kindergärten und Schulen systematisch ‚korrigiert‘ werden.“ (S. 55) Ein solches Geschlechterbild muss man nicht mit dem negativ konnotierten Begriff ‚chauvinistisch‘ bezeichnen, kann dies aber durchaus tun, da männlichem Chauvinismus, um den es hier geht, eine Geisteshaltung bezeichnet, die den Mann als der Frau überlegen vorstellt, und Vertreter diskriminierender Auffassungen diese selten selbst als solche bezeichnen, sondern regelmäßig auf angeblich ’natürliche‘ Unterschiede verweisen, denen sie Rechnung trügen – Bernd Höcke forderte gegenüber der Thüringer Allgemeinen: „Schädliche, teure, steuerfinanzierte Gesellschaftsexperimente, die der Abschaffung der natürlichen Geschlechterordnung dienen, zum Beispiel das Gender-Mainstreaming, sind sofort zu beenden.“ (taz.de) Doch wie steht es mit dem Vorwurf der Homophobie? Im Grundsatzprogramm findet sich folgende Passage: „Eine einseitige Hervorhebung der Homo- und Transsexualität im Unterricht lehnen wir ebenso entschieden ab wie die ideologische Beeinflussung durch das ‚Gender-Mainstreaming‘. Das traditionelle Familienbild darf dadurch nicht zerstört werden. Unsere Kinder dürfen in der Schule nicht zum Spielball der sexuellen Neigungen einer lauten Minderheit werden.“ (S. 55) Diese Passage spielt in ihren Formulierungen gleich drei klassische homophobe Topoi an: Die Behauptung, Homosexuelle würden gegenwärtig übermäßig beachtet und idealisiert, die Vorstellung, die Akzeptanz von Homosexualität würde die Familie gefährden und die (wenn auch hier nur unterschwellig suggerierte) Assoziation von Homosexualität mit Pädophilie.

Ideologische Bildungspolitik an Schulen: Während das Grundsatzprogramm bezüglich konkreter Lehrinhalte lediglich formuliert, „Das Klassenzimmer darf kein Ort der politischen Indoktrination sein.“ (S. 54) macht ein Blick ins Wahlprogramm der AfD Baden-Württemberg, deren Spitzenkandidat Jörg Meuthen auch als einer der beiden Bundessprecher der AfD fungiert,  deutlich, dass damit lediglich gemeint ist, dass andere Auffassungen als die eigene als ‚Ideologien‘ keine Platz im Lehrplan finden sollen, wohingegen die eigenen ideologischen Vorstellungen als natürlich gegeben und wahr aufgefasst werden: „Aufgabe der Bildung muss es sein zu vermitteln, dass die Geschlechter aufeinander zugeordnet sind, einander ergänzen“. (Wahlprogramm Baden-Württemberg, S. 30) „Die AfD fordert, die Familie in Schulbüchern positiv und realitätsnah darzustellen. Schulbücher, welche die Familie relativieren und zugleich gesellschaftlich kaum relevante Konstellationen (LSBTTIQ [=lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer]) überhöhen, sollen für den Gebrauch an öffentlichen Schulen nicht zugelassen werden.“ (Wahlprogramm Baden-Württemberg, S. 30) Die Zulassung von Schulbüchern soll also ausdrücklich ideologischen Vorgaben folgen.

Ablehnung von Inklusion: Hier ist im Lied die Position der AfD korrekt wiedergegeben, wie ein Blick ins Grundsatzprogramm zeigt: „Die ideologisch motivierte Inklusion ‚um jeden Preis‘ verursacht erhebliche Kosten und hemmt behinderte wie nicht behinderte Schüler in ihrem Lernerfolg. Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen ein.“ (S. 54)

Abtreibungsverbot: Im Grundsatzprogramm heißt es lediglich: „Wir fordern daher, dass bei der Schwangerenkonfliktberatung das vorrangige Ziel der Beratung der Schutz des ungeborenen Lebens ist.“ „Die AfD wendet sich gegen alle Versuche, Abtreibungen zu bagatellisieren, staatlicherseits zu fördern oder sie gar zu einem Menschenrecht zu erklären.“ (S. 44) Im Entwurf war aber noch die Rede davon, dass „bei nicht signifikant sinkender Zahl der Schwangerschaftsabbrüche eine Gesetzeskorrektur zum besseren Schutz des Ungeborenen vorzunehmen“ sei (Entwurf, S. 42) Und der Stuttgarter AfD-Stadtrat Heinrich Fiechtner ist als Redner bei einer Veranstaltung von Abtreibungsgegnern, die teilweise Abtreibungen mit der Shoa vergleichen, aufgetreten (vgl Stuttgarter Nachrichten). Nimmt man die moralische Ablehnung von Abtreibungen, das Insistieren darauf, dass es kein Recht auf Abtreibung gebe, Pläne für ein eventuelles Verbot, die noch im Programmentwurf geäußert wurden, und die Äußerungen einzelner AfD-Politiker zusammen, so erscheint es keineswegs abwegig, die Gefahr zu sehen, dass die AfD perspektivisch ein weitgehendes Abtreibungsverbot anstreben könnte.

Fortschrittsfeindlichkeit: Als nicht nur konservative, also den status quo bewahren wollende, sondern reaktionäre (vgl. zur Begrifflichkeit eingehend auch zeit.de), also einem früheren Zustand wieder herstellen wollende Partei ist die AfD ganz dezidiert gegen das, was man gemeinhin als „gesellschaftlichen Fortschritt“ bezeichnet, z.B. eine Angleichung der Geschlechterrollen und die Gleichberechtigung Homosexueller. Der stellvertretender Sprecher und Programmkoordinator der AfD Baden-Württemberg, Marc Jongen, führte dazu 2014 in einem Beitrag in Cicero aus: „Wo Bewahrenswertes noch lebendig ist, muss es gegen das weitere Fortschreiten der Korruption verteidigt werden. Wo aber der Amoklauf der Moderne sein ‚Krise‘ genanntes Zerstörungswerk schon vollendet hat, müssen tradierungswürdige Zustände neu geschaffen werden. Eine Schlüsselrolle werden dabei unsere Landessprache und die Familie spielen.“ „Genuin liberal zu sein, heißt heute, konservativ zu sein. Zuweilen sogar reaktionär.“

Manipulation: In der dritten Strophe geht es dann zunächst nicht mehr um programmatische Inhalte, sondern um Kommunikationsstrategien der AfD. Diese werden nicht näher beschrieben, was aber auch nicht notwendig ist, weil sie mittlerweile sattsam bekannt sind. Was Jose Mourinho unter den Fußballtrainern ist, das ist die AfD unter den deutschen Parteien. Anstelle einer komplexen Realität setzt sie ein schlichtes Gut-/Böse-Weltbild, demzufolge sich alle, die sich nicht zur Partei bekennen, Feinde sind. Was Mourinho das allgegenwärtige Komplott von sportlichen Gegnern, Medien und Schiedsrichtern ist, ist der AfD (ebenso wie Pegida und deren Ablegern) die behauptete Allianz aus „Alt-„, „System-“ bzw. „Einheitsparteien“, „Lügenpresse“ bzw. „Systemmedien“, Behörden, („Kuschel-„)Justiz, Polizei und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Dabei wird der Eindruck erweckt, alle übrigen Parteien von CSU bis Die Linke glichen sich bis zur Ununterscheidbarkeit, wohingegen es keine Partei gäbe, die auch nur ähnliche Positionen wie die AfD vertrete. Selbst die Vorstellung, Polizei und Antifa bzw. autonome linke Szene, die sich seit Jahrzehnten teilweise gewalttätige Auseinandersetzungen liefern, würden gegen die AfD gemeinsame Sache machen, ist nicht zu absurd, um von AfD-Anhängern immer wieder vorgetragen zu werden. Diese Weltsicht fördert den internen Zusammenhalt, führt aber zu einer derart verzerrten Realitätswahrnehmung, dass die Kommunikation mit politisch Andersdenkenden nahezu unmöglich wird, weil keine Einigung auf eine gemeinsame Faktenbasis (z.B. Kriminalstatistiken), auf der kontrovers diskutiert werden könnte, mehr möglich ist: Während jeder facebook-Post, in dem ein anderer AfD-Anhänger behauptet, ein Bekannter bei der Polizei habe ihm etwas gesagt, als erwiesene Wahrheit gilt, wird bei nichts, was der Feind (also alle Politiker anderer Parteien, alle Behörden, nahezu alle Wissenschaftler und Medienvertreter) sagt, auch nur in Erwägung gezogen, dass es der Wahrheit entsprechen könnte.

Instrumentalisierung von Ängsten: Eine weitere Strategie, die AfD nutzt, besteht darin, politische Sachfragen zu Existenzfragen zu stilisieren. Angefangen bei der bisherigen Europolitik, die Deutschland den finanziellen Ruin bringe, über die aktuelle Asylpolitik und die Geburtenrate autochtoner Deutscher, wodurch Überfremdung, Bevölkerungsaustausch bzw. ‚Umvolkung‘, Islamisierung, No-Go-Areas, und, wie Frauke Petry jüngst erklärt hat, „Bürgerkrieg“ drohten, bis hin zu den Gender Studies und der rechtlichen Gleichstellung von Homosexuellen, die die Familie bedrohten, und schließlich Aufklärungsunterricht in der Grundschule, der einer „Frühsexualisierung“ gleichkomme und das Kindeswohl gefährde. Nun kann und sollte die gegenwärtige Euro-, Asyl- und Familien- und Schulpolitik selbstverständlich in einer Demokratie kontrovers diskutiert werden. Eine funktionierende Demokratie setzt aber voraus, dass, wenn sich die Mehrheit bei einer Wahl oder Abstimmung für die andere Position als die eigene entscheidet, auch deren Umsetzung akzeptiert wird – ein in diesem Sinne demokratischer Wahlkampfslogan der SPD mit Gerhard Schröder lautete „Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser.“ Ist die politische Gegenposition zuvor aber nicht nur als relativ zur eigenen schlechter, sondern als sicherer Weg in den Untergang dämonisiert und zudem der Eindruck erweckt worden, nur eine sofortige und vollständige Umsetzung der eigenen Vorstellungen könne das ansonsten sichere Verhängnis noch abwenden, so ist schwer vorstellbar, dass die eigenen Anhänger dieses Ergebnis akzeptieren.

Religion als Feindbild: Dass die AfD die ansonsten gängige Differenzierung zwischen Islam und Islamismus immer wieder verwischt und darauf insistiert, der Islam als Religion gehöre nicht zu Deutschland, dass sie darüber hinaus für Muslime das Grundrecht auf freie Religionsausübung einschränken will (Verbot von Minaretten und Muezzinrufen sowie der Grundsatz, dass dem der islamischen Regligionsausübung nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch „unsere Werte“ Schranken gesetzt werden sollten, Grundsatzprogramm, S. 48), ist hinlänglich bekannt. In einer derartigen Dämonisierung einer durch ihre Religion definierten Bevölkerungsgruppe eine Parallele zur nationalsozialistischen Haltung gegenüber den ‚Juden‘ zu sehen (auch wenn sie diese, was einen erheblichen Unterschied darstellt, nicht religiös, sondern ethnisch definierten) ist nicht völlig abwegig. Denn der Religionsangehörigkeit kommt zwischen der ethnischen Zugehörigkeit als gänzlich unveränderbar einerseits und der politischen Überzeugung als frei wählbar andererseits eine Zwischenstellung zu: Zwar können Menschen ihren Glauben ablegen oder einen neuen annehmen; nur ist dies kein willkürlich steuerbarer Vorgang, sondern ein komplexer Prozess, der sich nur bedingt intellektuell beeinflussen lässt.

Rechtsterrorismus: Mit ‚braunem Terror‘, etwa den zahlreichen Brandanschlägen auf teils noch leerstehende, teils aber auch bereits bewohnte Flüchtlingsunterkünfte in Verbindung gebracht zu werden, dürfte manchen AfD-Anhängern nicht zusagen. Allerdings wird im Liedtext, anders als in den vorangegangenen Strophen („Das will die AfD“) auch kein direkter Bezug zur Partei hergestellt. Deren Vertreter haben sich zwar einerseits stets von Brandanschlägen distanziert, sie aber andererseits wiederholt zum Anlass genommen, auf die aus ihrer Sicht verfehlte Flüchtlingspolitik der Bundesregierung hinzuweisen und die Anschläge dabei gleichsam als unerfreuliche, aber notwendige Folge dieser angesehen:

Sollte es tatsächlich Brandstiftung gewesen sein, verurteilen wir als AfD-Fraktion eine solche Tat natürlich auf das Schärfste. Wir haben ausschließlich Verständnis für jene, die mit legalen Mitteln gegen die verfehlte Asylpolitik der Altparteien in Bundes- und Landesregierung demonstrieren. Es ist aber auf keinen Fall hinzunehmen, dass geplante Unterkünfte für Asylbewerber angegriffen werden. Es reicht aber auch nicht, jetzt mit dem Finger auf die zu zeigen, die sich in der Vergangenheit kritisch zur Unterbringung von Asylbewerbern in Nauen ausgesprochen haben. Die Verantwortung für solche Taten haben die gesamte Gesellschaft und in erster Linie die Politiker der Altparteien, die zur jetzigen Eskalation der Flüchtlingsproblematik beigetragen haben. Eine zügige Bearbeitung der Asylanträge und eine konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber hätten schon frühzeitig die Situation in Brandenburg und auch in Nauen entspannt. Wären die Bürger einbezogen worden und hätten sie das Gefühl, dass nicht nur sie und die Kommunen gefordert werden, sondern auch die Politik auf Bundes- und Landesebene alles tut, um der Situation Herr zu werden, ließen sich Reaktionen wie jetzt in Nauen sicherlich verhindern! (Alexander Gauland, zitiert in einer Pressemitteilung der AfD-Fraktion im Brandenburgischen Landtag)

Zunächst beginnt die Äußerung damit, dass infrage gestellt wird, dass es sich in Brandstiftung gehandelt habe – obwohl die Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits mitgeteilt hatte, dass sie von Brandstiftung ausgehe und ein technischer Defekt höchst unwahrscheilich sei (vgl. spiegel.de). Dann folgt eine höchst indirekte Distanzierung, indem nicht gesagt wird, dass man kein Verständnis für Verbrechen (dieser Begriff wird konsequent vermieden) habe, sondern für welche Protestformen man welches aufbringe. Noch bevor im erst dritten Satz endlich gesagt wird, dass solche Angriffe nicht hinzunehmen seien, wird die Politik der Regierung bereits im zweiten als verfehlt kritisiert. Der größere Teil der Einlassung wird dann darauf verwendet, den Politikern aller anderen Parteien vorzuwerfen, erst ihre Politik habe die „Reaktion“ des Brandanschlags hervorgerufen. Dass zukünftige Täter ermutigt werden, wenn man ihre Taten zum Anlass nimmt, vor einer breiten medialen Öffentlichkeit für ihre politischen Ziele zu werben, liegt auf der Hand.

NS-Parallelen: Diejenigen AfD-Anhänger für die 1933 ein negativ besetztes Datum ist, könnten sich außerdem an der am Ende der dritten Strophe gezogenen Parallelen zum Jahr der Machtübertragung an die Nationalsozialisten stören. Und zweifellos lassen sich gravierende Unterschiede feststellen, sowohl hinsichtlich der Programmatik als auch der Intensität der Auseinandersetzungen und nicht zuletzt hinsichtlich der Wahlergebnisse. Jedoch haben mit der Etablierung der AfD Umgangsformen in den politischen Betrieb Einzug gehalten haben, die zuvor nicht denkbar gewesen wären – so etwa, dass ein AfD-Abgeordneter im Sächsischen Landtag bedauert, dass die Verantwortlichen der aktuellen Flüchtlingspolitik nicht zum Opfer von Terroranschlägen geworden sind (vgl. zeit.de). Und mutmaßlich AfD-Anhägnger haben im Wahlkampf Plakate der Politiker anderer Parteien mit „Volksverräter“ beschmiert. Angesichts solcher Entwicklungen erscheint der Vers „das alles riecht verdammt nochmal nach 1933“ zumindest nicht vollkommen abwegig.

Angebliche Beleidigung von AfD-Wählern: Einen weiteren Vorwurf stellt die angebliche Beleidigung von AfD-Wählern durch den Vers „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber“ dar. Dieser erscheint zunächst plausibel, da Tiervergleiche außerhalb des Felds der Kosenamen selten schmeichelhaft gemeint sind und zudem die Charakterisierung als dumm gemeinhin abwertend verwendet wird. Jedoch ist zunächst zu beachten, dass das Lied als Beitrag zum Landtags-Wahlkampf im Mecklenburg-Vorpommern vor dem Wahltermin veröffentlicht worden ist. Die Gruppe, die hier als ‚dümmste Kälber‘ apostrophiert wird, existiert also noch gar nicht, da die Handlung, aufgrund derer jemand ihr zugerechnet würde, in der Zukunft liegt. Edmund Stoiber hingegen, der dieses abgewandelte Brecht-Zitat im Bundestagswahlkampf 2005 benutzt hat, bezog es auf das zurückliegende Wahlverhalten in ostdeutschen Bundesländern („Es gibt leider nicht überall so kluge Bevölkerungsteile wie in Bayern.“) und kam damit einer Beleidigung wesentlich näher. Hinzu kommt, dass die explizite Absicht der Sprechinstanz, wie ja im eigentlichen Sprechen am Ende des Liedes geäußert wird, darin besteht, dass möglichst niemand die AfD wählt. Vom metaphorischen in den alltäglichen Sprachgebrauch übersetzt lautet die Aussage also: „Ich hoffe doch, dass niemand so dumm sein wird, die AfD zu wählen.“ Nun kann man sich als jemand, der den festen Vorsatz hat, die AfD zu wählen, natürlich darüber ärgern, weil man selbst das für klug hält und hofft, dass möglichst viele Wähler die AfD wählen werden. Beleidigt fühlen kann man sich aber gerechtfertigterweise kaum. Auch kann von einer Beleidigung schon auf Ebene der Tiermetaphorik nicht die Rede sein. Denn als Kälber werden hier alle Wähler eingestuft und ihnen gilt auch durchaus die Sympathie der Sprechinstanz. Als tertium comparationis ist im vorliegenden Kontext wohl die Bedrohung durch eine machtvolle Instanz (Metzger bzw. Regierung) zu sehen. Nun haben die Kälber aber die Möglichkeit, zu versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen, oder darin einzuwilligen. Und diese Einwilligung zu geben wird als unkluge Entscheidung bewertet. ‚Dumm‘ ist hier also nicht im global abwertenden Sinne gemeint, sondern auf unkluges Handeln bezogen. Es geht also um einen Appell, der sich an alle richtet, nicht um die Abwertung einer Gruppe.

Fazit

Jennifer Rostocks Wähl die AfD ruft explizit dazu auf, die titelgebende Handlung zu unterlassen. Es handelt sich um ein Wahlkampflied, das – auch das reduzierte Arrangement und die LoFi-Aufnahme nebst Video deuten darauf hin – die Band kurzfristig als Statement zur Tagespolitik auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht hat. Wie ernst es der Band damit war, zeigt auch, dass sie in der dritten Strophe die rhetorisch elegantere Strategie der ironischen Aufforderung zur AfD-Wahl durch eigentliche Rede ersetzen, was man ästhetisch durchaus als eine Schwäche des Lieds sehen könnte. Und nach dem konsensfähigen Plädoyer zur Wahlbeteiligung wirkt „diesen Scheiss“ gewollt grob. Aber es gehört zu Erfahrungswerten mit Popmusik, dass tagespolitisches Engagement oft mit ästhetischen Kompromissen einhergeht.

Interessant ist ohnehin weniger das Lied als solches, sondern seine Wirkung, konkret die Aggression gegen die Sängerin. Denn zu den ersten beiden Strophen lässt sich festhalten, dass – mit Ausnahme der Haltung zum Mindestlohn, bei der die Partei mittlerweile das Gegenteil ihrer früheren Haltung vertritt – Positionen der AfD zutreffend, wenn auch zuweilen zugespitzt wiedergegeben sind. In einem demokratischen Wahlkampf wäre es zwar illegitim, Desinformation zu verbreiten, nicht aber, Ziele des politischen Gegners, die dieser tatsächlich vertritt, negativ darzustellen, was sich geradezu als das Wesen von Wahlkampf beschreiben ließe – man denke an Kampfbegriffe wie „Herdprämie“. Es handelt sich hier also zwar um ein Wahlkampflied, das sich gegen die AfD richtet, keineswegs aber um ein irreführendes. Eine demokratische Reaktion von AfD-Anhängern wäre gewesen, zu fragen, was denn nun an den genannten Zielen schlimm sein solle; dass aber von vielen behauptet wird, der Liedtext weise keinerlei Übereinstimmung mit AfD-Positionen auf, verwundert. Entweder sie wissen tatsächlich nicht, welche Ziele die von ihnen favorisierte Partei vertritt – oder es handelt sich um ein weiteres Beispiel für den in sozialen Medien zu beobachtenden Reflex von AfD-Anhängern, auf jede Kritik oder abweichende Meinung mit massiver Aggression ad personam zu reagieren. Eine Ursache dafür könnte die in der dritten Strophe angedeuteten Kommunikationsstrategien der AfD sein. Es leuchtet ein, dass die Angst vor einem neuen Faschismus gerade in der dritten Strophe, in der es u.a. um diese Strategien geht, geäußert wird. Denn dass eine Partei die referierten Positionen vertritt, schadet der Demokratie noch nicht; wohl aber, wenn eine Partei in ihrer Rhetorik eine Radikalisierung betreibt, die aus dem politischen Wettbewerber einen Volksfeind werden lässt.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Kitsch für einen guten Zweck. Zur deutschen Version des Band Aid-Projektes „Do They Know It’s christmas?“ (2014)

Band Aid Thirty (Text: Campino, Marteria, Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings)

Do They Know It’s Christmas? (Deutsche Version)

Endlich wieder Weihnachtszeit (Campino [Die Toten Hosen])
Die Nerven liegen so schön blank (Philipp Poisel)
Egal ob’s regnet oder schneit (Clueso)
Wir treffen uns am Glühweinstand (Seeed)
Wir vergessen unsere Nächsten nicht (Andreas Bourani) 
Kaufen all die Läden leer (Ina Müller) 
Die ganze Stadt versinkt heut‘ Nacht im Lichtermeer (Jan Delay) 
Und du fliegst nur 6 Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen (Marteria)
Kleine Jungs im Barcelona-Shirt malen ihre Träume an die Wände (Marteria und Max Herre)
Es gibt so viel Zukunft, so viel Vielfalt (Max Herre) 
In all den 54 Ländern (Cro)
Doch immer nur dieselben Bilder (Cro und Michi Beck) 
Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern (Michi Beck)
Du gehst durch den Dezember (Peter [Sportfreunde Stiller])
Mit einem Lied im Ohr (Steffi [Silbermond])

Do they know it’s Christmas Time at all? (Clemens [Milky Chance])

Wir feiern unsere Feste (Max Raabe)
Doch wir sehen nicht wie sie fallen (Wolfgang Niedecken)
Der Tod kennt keine Feiertage (Udo Lindenberg) 
Und schon ein Kuss kann tödlich sein (Sammy Amara [Broilers] und Anna Loos)
Kein Abschied und keine Umarmung (Peter Maffay)
Jeder stirbt für sich allein (Thees Uhlmann & Joy Denalane)

Do they know it’s Christmas Time at all? (Gentleman)
Do they know it's Christmas Time at all? (Patrice)
Do they know it's Christmas Time (Chor)

Und auf all den Feiern (Clemens [Milky Chance])
Von hier bis nach Monrovia (Jan-Josef Liefers)
Denken wir daran in dieser stillen Nacht (Adel Tawil)

Do they know it's Christmas Time at all? (Campino)
Do they know it's Christmas Time at all? (Inga Humpe [2Raumwohnung])
Do they know it's Christmas Time (Chor)
Heal the world (Chor) 
Heal the world (Donots)
Heal the world (Chor)
Let them know it’s Christmas Time. Heal the world (Gentleman und Patrice)
Let them know it’s Christmas Time (Jennifer Rostock)
Heal The World.

Do we know it's Christmas Time at all.

Heal The World.

Let them know it's Christmas Time again (Chor)

     [Band Aid 30: Do They Know It’s Christmas? (2014). Polydor 2014.]

 

Es ist so weit, der Advent ist wieder da und mit ihm auch die kopfschmerzbereitende Geschenkefrage, die Plätzchenbäckerei und die in Endlosschleife gespielten Weihnachtslieder im Radio. Ja, wir hassen den Hype manchmal, der mittlerweile um die Weihnachtsfeiertage zelebriert wird, aber entziehen können wir uns ihm nicht. Und ganz ehrlich – am Ende lässt sich doch jeder von der hektischen, aber trotz allem besinnlichen Stimmung mitreißen. Denn der Grundgedanke dieses Festes berührt letztendlich jeden von uns. Das hat sich in diesem Jahr auch Bob Geldof zum Ziel gesetzt, den vor einigen Wochen die UNO darum gebeten hat, zum Jubiläum seines Klassikers Do they know it’s christmas? von 1984 eine Neuauflage zugunsten der Ebola-Opfer in Westafrika zu produzieren. Der Sänger ließ sich nicht lange bitten, sondern trommelte im Handumdrehen eine Gruppe stimmgewaltiger Briten (u.a. Ed Sheeran, Sinead O’Connor und Chris Martin) zusammen, die den Song in unveränderter Form neu aufnahmen. Da dieses Projekt, das Band Aid genannt wird, in dieser Art schon des Öfteren organisiert wurde, zuletzt 2004, als das Geld zur Bekämpfung einer Hungersnot im afrikanischen Sudan verwendet wurde, ist es nicht unbedingt eine Überraschung, wenn der Weihnachtshit auch dieses Jahr wieder im Radio rauf und runter gespielt wird. Neue Töne werden diesmal allerdings aus den deutschen Lautsprechern schallen. Zum ersten Mal nämlich gibt es auch eine deutsche Version des Band Aid-Projektes, das von Campino, dem Frontsänger der Punkrockband Die Toten Hosen, auf Anfrage/Bitte/Auftrag von Bob Geldof in die Wege geleitet wurde. Der Rocksänger wurde Anfang November von seinem alten Bekannten angerufen, der ihm, wie Campino im ZEIT-Interview gestand (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!), keine andere Wahl ließ als zuzusagen, den deutschen Beitrag zu organisieren. Kurz darauf, am 13. November, war Campino in der Lage, sein All-Star-Team vorzustellen, für das er fast die gesamte deutsche Pop-Elite gewinnen konnte. Rund dreißig Musiker haben Do they know it’s christmas? nun neu aufgenommen und jeder von ihnen singt i.d.R. eine Textzeile der Übersetzung, die Campino zusammen mit Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings (u.a. Texter von Adel Tawil) und Marteria in mühevoller Kleinarbeit erarbeitete. Das allein sei laut dem Punksänger schon ein „Himmelfahrtskommando“ gewesen, wie er im Morgenmagazin von ARD/ZDF berichtete (vgl. Sendung vom 21.11.2014). Die Musiker hätten sich bemüht, den deutschen Text des Klassikers von all den Flachheiten zu reinigen, die, wie Bob Geldof selbst zugab, im Original steckten. Campino wollte mit seinem Team einen Song schaffen, hinter dem die deutschen Musiker stehen könnten und der frei von den Klischees und Undifferenziertheiten ist, die in der Gegenwart sowieso schon überhandgenommen haben. Natürlich ist der Song immer noch Kitsch – aber dafür Kitsch auf hohem Niveau.

Als Beispiel für eine solche Flachheit des Originals kann die Textzeile „And there won’t be snow in Africa this Christmas Time“ dienen. So hat man sich schließlich für einen komplett neuen Text entschieden, der nicht wie die Originalversion auf Hungersnöte eingeht, sondern spezifisch auf die Ebola-Epidemie verweist: „Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern“. Daher haben Campino und Co. auch den Refrain-Zusatz „Feed the world“ in „Heal the world“ verwandelt (und dabei Michael Jacksons Metapher wörtlich genommen). Manchmal sind Neuerungen einfach unumgänglich. Der Text überzeugt zwar nicht von tiefsinnigen Betrachtungen über das Elend in Afrika und er stellt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger Moralvorstellungen in den Mittelpunkt. „Natürlich ist es ein Kitschlied“, meinte selbst Campino dazu. Aber es ist schon eine Leistung, dass der Text nicht in den Ohren weh tut, sondern man sich trotzdem noch an ihm erfreuen kann.

Do they know it’s christmas? wird mit seinem Bezug zur deutschen Alltagssprache zu einer Weihnachtshymne, in der Campino und Co. unter anderem auch deutsche Sprichwörter miteinbezogen haben: „Wir feiern unsere Feste / doch wir sehen nicht wie sie fallen“. Diese Redewendung verwendete in jüngster Vergangenheit schon die Newcomerin Julia Engelmann, die Anfang des Jahres mit ihrem Beitrag One Day/Reckoning Text beim Bielefelder Campus TV Hörsaalslam, einem Poetry-Slam-Wettbewerb, für Furore sorgte: „Lasst uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reißen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind“. Man sieht, die junge Slammerin und auch die deutsche Band Aid-Gruppe haben mit der Botschaft, die sie in ihren Werken vertreten, irgendwie den Nerv der Zeit getroffen: Müssen die Deutschen mittlerweile daran erinnert werden, die Feste dann zu feiern, wann sie sind, anstatt sie aufzuschieben, obwohl der übervolle Terminkalender sowieso keinen Platz für sie lässt? Der Text appelliert also nicht nur an unsere Hilfsbereitschaft, sondern auch an unser Unvermögen, unseren Wohlstand so zu genießen, wie es ihm gebührt. Eine recht philosophische Botschaft für solch eine leichte Lektüre, wenn man es sich recht überlegt.

In diesem Sinne ist es wohl auch ein großer Pluspunkt des Projektes, dass sich Musiker aus so vielen unterschiedlichen Genres an der Spendenaktion beteiligen, die dem Song alle individuelle Stimmungen und Schattierungen geben, kurz, die dem Text, so verschieden wie diese Sänger sind, ihren Stempel aufdrücken. Es finden sich hier etablierte Interpreten aus Pop und Rock, aber auch unbekanntere Musiker aus dem Soul wie Joy Denalane oder dem Reggae wie Patrice. Abwechslung bieten insbesondere die Textzeilen der Rapper Marteria und Max Herre, die genau wie Cro und Michi Beck (Fanta 4) die idyllische Stimmung gesanglich wie textlich wieder auf den Boden holen: „Und du fliegst nur sechs Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen“. Natürlich könnte man sich nun fragen, weshalb Herbert Grönemeyer und Schlagerstars wie Helene Fischer oder Andrea Berg nicht bei dem Projekt mitgewirkt haben. Auch eine deutsche Diskursband wie Tocotronic hätte sich in der bunten Vielfalt an Musikercharakteren sicher gut gemacht. Letztendlich spielt es aber keine Rolle, wer dabei war und wer nicht. Und Campino stellte außerdem ganz schnell klar, dass er „über die reden möchte, die mitgemacht haben und nicht über die, die nicht mitgemacht haben.“ (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!)

Der Kampf gegen Ebola hat also dazu geführt, dass Musiker wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten (und von denen sich mit Sicherheit einige bei der ECHO-Verleihung lieber aus dem Weg gehen), ein Lied produziert haben, das wider aller Erwartungen sogar richtig gut geworden ist. Der Band Aid Trust entscheidet schließlich, wem die Einnahmen aus dem Verkauf der Singles und Downloads zugespielt werden. Die Entwicklung eines neuen Impfstoffes ist neben der Bekämpfung des akuten Ausbruchs der Krankheit das Hauptanliegen der Bemühungen. Aber trotz des guten Zwecks wurden schon vor Veröffentlichung des Videos des deutschen Band Aid-Beitrags am Freitag, dem 21.11.14, kurz vor den Tagesthemen um 20.00 Uhr, kritische Stimmen laut. „Schlimmer als Ebola“ sei diese Version, die nur eine „neue Eskalationsstufe von Scheiße“ erreichen würde, wertete das Vice-Magazin den Beitrag ab. Harte Worte in Anbetracht der noch härteren Lage in Afrika. Natürlich könnte man die Künstler, die sich daran beteiligten, bezichtigen, dies nur wegen des Imagegewinns zu tun und auch für die Plattenfirmen bietet sich hier ein kostenloses globales Marketingmittel. Der Appell¸ der mit dem Lied aus dem Radio in unsere Ohren transportiert wird, grenze an zwischenmenschlichen Druck, der auf uns aufgebaut werden würde, sodass man gar keine andere Möglichkeit habe, als die Single zu kaufen. Das könnten schon alles wahre Worte sein. Aber muss man bei einem einfachen Popsong, dessen Gewinne lediglich an eine Hilfsorganisation gehen, gleich von modernem Ablasshandel sprechen, der uns wie eine Drohung mit dem Fegefeuer einschüchtert? Nun, diese Ansicht ist mit Sicherheit leicht übertrieben. Campino hält das alles jedenfalls für „beispiellosen Zynismus“. Und wenn man folgende Zeilen auf dem Internetauftritt des Vice-Magazins liest, dann stimmt man ihm auch schon mal zu: „2014 hat soeben offiziell seine Bewerbung für das beschissenste Jahr der Weltgeschichte eingereicht, 1939 kriegt schon kalte Füße.“ (Nicht mal Ebola rechtfertigt die deutsche Version von „Do They Know It’s Christmas“, 18.11.14). Soll man da lachen oder weinen? Man weiß es einfach nicht.

Die Ambivalenz eines solchen Projekts zeigt sich darin, dass zwar ungewiss ist, in welchem Umfang der die Veröffentlichung dieses Songs den Ebola-Opfern hilft, dass er jedoch uns  in jedem Fall hilft, uns in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Denn das ist heutzutage ja auch, um Campino zu zitieren, „ein Himmelfahrtskommando“.

 Marina Willinger, Bamberg