Wieder nichts los heute. Gedanken zu „Was so alles geschieht in der Carnaby Street“ (1969) von Peggy March (Komponist: Henry Mayer, Texter: Hans Bradtke)
5. Oktober 2022 Hinterlasse einen Kommentar
Peggy March Was so alles geschieht in der Carnaby Street (Text: Hans Bradtke) Was so alles geschieht in der Carnaby Street Und ein Carnaby Boy spielt auf seiner Guitar Für die Leute ein Lied in der Carnaby Street Was so alles geschieht, ja die Girls und die Boys Kommen raus aus dem Haus Denn sie hören den Beat in der Carnaby Street Allen geht der Beat in die Beine Und die Melodie geht ins Ohr Ja und alle denken das eine Das gibt es nur in der Carnaby Street Was so alles geschieht in der Carnaby Street Ja die Girls und die Boys Alle pfeifen das Lied in der Carnaby Street Was so alles geschieht in der Carnaby Street Unser Carnaby Boy spielt mit seiner Guitar Nun auf Platten die Hits aus der Carnaby Street Was so alles geschieht Ja die Girls und die Boys zahlen gerne den Preis Und sie kaufen den Hit aus der Carnaby Street Allen geht der Beat in die Beine Und die Melodie geht ins Ohr Ja und alle denken das eine Das gibt es nur in der Carnaby Street Was so alles geschieht in der Carnaby Street Ja bei Tag und bei Nacht Pfeiffen alle den Hit auf der Carnaby Street [Peggy March: Happy End Im Hofbräuhaus / In Der Carnaby Street. Decca 1969.]
Die literarisch-ästhetische Geschichte der Moderne im 20. Jahrhundert hat viel mit Illusion und Desillusion zu tun, mit Posern und Sich-Entlarvt-Fühlenden. In seiner radikalsten Form sieht man das wohl heute auf den diversen sozialen Medien-Plattformen. Da gibt es Bilder, in denen eine braungebrannte Person vor einer in Schnee erstrahlenden Berglandschaft steht, oder eine andere Person mit Hund im wundervoll-blauen Meer herumhüpft. Das alles sieht dann perfekt aus, irgendwie bunt und irgendwie so cool, dass man das dann auch gerne möchte (vielleicht). Und dann fährt man zur glitzernden Eislandschaft, und findet dort Tauwetter (das seit ungefähr zehn Jahren herrscht, die Schneekanonen waren natürlich nicht im Bild, fein säuberlich rausediert). Oder man fährt ans Meer (ohne Hund) und findet dort, links und rechts des Bildrands, Kräne vor in der Ferne und wolkenverhangene Klimaextreme.
Das Ganze ist freilich keine neue Einsicht, dass die abgebildete Realität hinter der Abbildung oft wenig mit dem zu tun hat, was man sehen gemacht wird, ja zumeist in dieser Form gar nicht existiert. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat die radikalste Form dieser künstlich erzeugten Kopien ohne real vorhanden Ursprung Simulacrum genannt. In der amerikanischen Literatur ist die große Entzauberung abseits der sozialen Bühne Thema vieler Romane, Filme und Theaterstücke. Fitzgeralds Gatsby mag deswegen so eine große Renaissance erfahren, weil er die existenzielle Crux personifiziert, dass, selbst wenn das perfekte Bild mit viel persönlichem und finanziellem Aufwand dann erzeugt ist, man auch nicht wirklich aller Probleme des Lebens ledig ist.
Style over stubstance, also hippes Aussehen über das Tiefgründige zu stellen, ist – vor allem in Jugendkulturen – ein wichtiges Identitätsmerkmal, oder Teil von deren Performanz. Das ‚Posen‘ (also das sich Darstellen) hat hier vielleicht seine unterschwellige Kritik in jüngerer Zeit verloren. Als ich noch zur Schule ging, war ein Poser jemand, der vielleicht zu sehr darum bemüht war, nach Außen einen überkandidelten Eindruck zu machen. Heute sind wir wohl alle auf die eine oder andere Weise Posende, und keine findet es mehr ungewöhnlich, sich nach links zu drehen (das Profil ist dann schöner) oder nach rechts (heute seh ich da einfach besser aus) oder leicht von oben fotografiert zu werden (mit Schnute – was auch immer das zu bedeuten hat). Da unsere Kulturen inzwischen auch oft Erwachsene wie Kinder behandeln, und Erwachsene sich wie Kinder behandeln lassen, scheint die Jugendkultur nun altersfrei und grassierend.
Nun, Poser in diesem Sinne gab es in den verschiedensten Epochen (man denke nur an die Dandys), nur vielleicht nicht so viele. Im postmodernen Kontext kann der Hang zum coolen Aussehen spielerisch eingesetzt werden, und die Identitätsfassade zum Puzzlespiel werden, aus dem hervor geht, dass hinter dem Schein kein Sein ist und folglich Freiheit. Ich möchte im modernen Sinne aber argumentieren, dass das Posen (im exzessiven Maße) oft vor allem eine anderweitige Leere maskiert. Posen ist eine performative Antwort auf einen modernen Ennui, in dem man zu viel Zeit hat und folglich, das eigentlich Langweilige zur Substanz erhebt.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Lied von der Schnittstelle der modernen Poser-Kultur hin zur postmodernen beleuchten. In Peggy Marchs Was so alles geschieht in der Carnaby Street, veröffentlicht 1969, wird von Textdichter Hans Bradkte (übrigens neben seinem Beruf als Textdichter und Komponist auch als sozial-satirischer Karikaturist in der Nachkriegszeit tätig) die Ironie auf den Punkt gebracht: Auf der telling-Ebene versichert der Panorama-Sprecher unzählige Male, dass in der Carnaby Street so einiges geschieht (mehr als ein Fünftel des Lieds setzt sich aus der Titelzeile zusammen.) Qualitativ ausgewertet, und auf der showing-Ebene, allerdings, passiert recht wenig abseits der Ästhetik, oder es geschieht genau Folgendes: Ein Straßenmusiker zupft auf seiner Gitarre. Jemand kommt aus einem Haus, pfeift und tanzt ein bisschen, und irgendwie geben Leute gerne Geld aus, um cool dazuzugehören. Also im Grunde passiert dort nichts, was heute nicht auch an jedem anderen Tag in jeder x-beliebigen Straße, vor jedem x-beliebigen Haus passieren könnte. Im Gegenteil: In der Straße eines Mannheimer Polizeipräsidiums passiert gerade in diesem Moment vermutlich mehr, obwohl es die Carnaby Street auch heute noch als Shoppingmeile, Fußgängerzone und Touristenmagnet gibt. Der Unterschied ist der sozial-historisch Kontext und die brand association: Da es in der Carnaby Street geschieht, ist es was besonders. Um diese soziokulturelle Verortung auch nie aus den Augen zu verlieren, wird, dem modernen product placement entsprechend, das Wort Carnaby ganze 14 Mal in einem Liedtext von 28 Zeilen platziert. Werbetechnisch könnte man von Sättigung sprechen. Selbst nach dem ersten Hören, kann wohl jeder sagen, wo die Handlung spielt.
Kulturelle Gesten wie gesprochene Worte, das wissen wir aus der Sprachphilosophie, erhalten ihre Bedeutung und ihren Sinn im Widerspiel mit anderen Zeichen. Natürlich, werden viele jetzt sagen, muss man die Carnaby Street und was dort geschieht, nicht von heute aus betrachten, sondern im späten 1960er-Jahre-Kontext sehen. Da gab es die Beats und die Mods (im Grunde wie die Beats nur öfter im Anzug, Rod Stewart soll mal einer gewesen sein), die Rock‘ n‘ Roll und anti-establishment culture in das Zentrum eines Swinging Londons trugen. So gesehen, war damals auf der Straße Tanzen und Pfeifen vielleicht doch so rebellisch wie wenn Lady Gaga heute zu einer Preisverleihung ein Kleid aus rohem Fleisch aufträgt (obwohl das nun auch schon wieder Schnee von gestern ist). Und ja, das Lebensgefühl eines Swinging Londons wird im Lied sicherlich heraufbeschworen. Die Anglizismen Carnaby Boy and Girl scheinen hier eine klare Kategorisierung vorzunehmen, die diese besonderen Jugendlichen von den provinziellen Mannheimer Jungs und Mädels sicherlich unterscheiden möchte. Auch Peggy Marchs angelsächsische Vokalität (sie war eigentlich Amerikanerin nicht Britin) und das anglisierende Clipping „Guitar‘“ tragen dazu bei. Auch heute noch klingt Englisch cool in der Werbe-, Mode-, und Popmusik-Sprache.
Ungeachtet dessen geht es vor allem um den Style in der Carnaby Street: Die Boys und Girls möchten gesehen werden, sie kommen aus dem Haus. Sie wollen cool wirken und dazugehören. Da liegt der Ursprung der FOMO – der fear of missing out oder Angst des Verpassens, denn „alle denken nur das eine“ und dieses eine ist nicht konkret ausgeformt oder substantiell, es ist konzeptionell, „was so alles geschieht“, und damit vage. Man weiß nie genau, was man jetzt eigentlich abseits vom wortreichen Poser-Getöse verpasst hat. Und damit bleibt es interessant. Zu viel Bewegung gibt es auch nicht im liedtextlichen Milieubild, Jugendlich-kulturelles Understatement kommuniziert ein Cool Britannia: Der Beat (ein weitere Anglizismus mit direkter Referenz auf die Beatles) geht in die Beine, aber reißt wohl nicht den ganzen Körper mit (auch wenn das vermutlich durch Konzert-Ausschnitte der Beatlemania damals schon assoziiert werden konnte). Heute wird dieses jugendliche Understatement auf sonore Weise weiterperformt, wenn YouTuber zum Beispiel einen gelangweilten Stimmton anschlagen, den sogenannten vocal fry, um so unterinteressiert-relaxt wie möglich zu wirken, gerade so, als könne ihnen das Leben auf Kim Kardashians linker Po-Hälfte heruntertuschen. Die hat das, zu Deutsch, Stimmbrutzeln übrigens vor einigen Dekaden populär gemacht. (Also nicht die Po-Backe, natürlich, aber Sie wissen schon.)
Gesittetere Elternhäuser der 1960er sehen in diesem Carnaby Beat, der die boys und girls auf die Straße lockt, vielleicht eine Art Rattenfänger von Hameln-Situation. Im Text geht es vor allem um die verführerisch neue Musik einer jungen Popkultur. Musik-Wörter sind die einzigen von praktischer Substanz im Text (hören, Gitarre spielen, Hit, Melodie, Platten). In der Tat ist das die Essenz der 1960er Beat-Kultur: Man trifft sich (als junge Leute) und hört Musik zusammen, die amerikanisch angehaucht und oft unerhört psychedelisch-aufreizend ist. Als ich vor einigen Monaten in Liverpool bei einer Galerie nahe des Beatles-Museums mit einer Dame sprach, die das Geschäft seit vielen Jahren betreibt, wurde mir das revolutionäre Potenzial dieses inzwischen alltäglich wirkenden ästhetischen Zusammenseins klar. Sie erzählte mir, wie sie als junges Mädchen von 15 Jahren im Cavern Club, also dem damaligen Ort für neue Popmusik in Liverpool, die Beatles und andere Musiker sah. Sie traf sich dort oft, sagte sie, nicht zu Alkohol und Drogen-Partys, sondern zum Kaffee, am Nachmittag, nach der Schule. Da der Club nach unten ging und selten gut belüftet war, waren die Wände pelzig und nass.
Das Wort ‚unschuldig‘ kommt einem hier in den Sinn. Ja, Mode und Musik wurden wichtige Faktoren in der kulturellen Revolution (und Kommunikation) der Jugend, die Mitte des letzten Jahrhunderts an Fahrt aufnahm. Als soziokultureller Schauplatz steht die Carnaby Street auch dafür. Aber es ging auch darum gesehen zu werden, als Gemeinschaft, in der jemand einen roten Pelz und eine gelbe Boa trug, und bewundert werden wollte und es vermutlich auch wurde, bevor man dann zusammen etwas unternahm. Heute, kann man vielleicht sagen, geht es nicht mehr so sehr um die Gemeinschaft, sondern um das Gesehen-Werden allein und die Dokumentation des Dabeiseins (ein Selfie, wie ich diesen Artikel schreibe, können Sie gerne bei mir direkt anfordern).
Vielen tragen inzwischen rote Kunst-Pelze oder ein Äquivalent und realisieren damit, womöglich unbewusst, was Monty Python schon im Life of Brain aufs Korn genommen haben. „Ihr seid doch alle Individuen!“, ruft die Titelfigur da. Und eine treue Meute antwortet mit dem Kopf nickend: „Ja, wir sind alle Individuen.“ Was also unschuldig begann, hat sich hin zu einer merkwürdigen Massentendenz zur Vereinzelung stilisiert. Gesehen werden, reicht nicht immer. Vielleicht schaut man heute zusammen, wie jemand ein Computerspiel spielt, allerdings trifft man sich dazu vermutlich nicht mehr in einem pelzigen Club zum Kaffee. Wenn Bradtke in seinem Text die Kosten eines jugendkulturellen Geschehens beiläufig erwähnt („Ja die Girls und die Boys zahlen gerne den Preis“), dann möchte man von einer kulturkritischen Position fast 50 Jahre später einmal fragen, was so alles geschehen ist seitdem, und welchen (mentalen) Preis des Dabeiseins beispielsweise die Boys und Girls auf Instagram heute zahlen.
Auch dort ist eigentlich nicht wirklich viel Bewegendes los. Aber alle wollen ständig hin.
Florian J Seubert, London