Das Image der Ruinen. Wirklichkeit durch Beschönigung sehen: Zum Subgenre des Trümmerfilmschlagers und seinen offen euphemistischen Realitätsdarstellungen am Beispiel von Hans Albers‘ „Und über uns der Himmel“ (1947, Text: Michael Freytag)
27. Oktober 2014 2 Kommentare
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Hans Albers (Text: Michael Freytag) Und über uns der Himmel Es weht der Wind von Norden Er weht uns hin und her Was ist aus uns geworden? Ein Häufchen Sand am Meer Der Sturm jagt das Sandkorn weiter dem unser Leben gleicht Er fegt uns von der Leiter Wir sind wie Staub so leicht Was soll nun werden? Es muß doch weitergehn Noch bleibt ja Hoffnung für uns genug bestehn Wir fangen alle von vorne an weil dieses Dasein auch schön sein kann Der Wind weht von allen Seiten So lass den Wind doch wehn Denn über uns der Himmel läßt uns nicht untergehn läßt uns nicht untergehn [Hans Albers: Und über uns der Himmel. Odeon 1947.]
Die Welt hinter den Schlagern liegt eigentlich immer in Trümmern. Ein Stück gebrochenes Herz, ein Fetzten geplatzten Traums hängt irgendwo zwischen den Ruinen des Menschseins. Durch dessen Straßenschluchten fegend spricht das populäre Lied doch eigentlich von Ruinen, wo es von heilen Welten singt. Der vielbeschworene Radikaleskapismus des Schlagergenres ist fragwürdig, fungiert er doch eigentlich immer auch als indirektes Stilmittel, um Alltagsrealität zu beschreiben. Vergisst der Zuhörer wirklich die Realität ganz, wo der Schlager von honigsüßen Wunderwelten singt? Würde er, verlöre die Eskapismusmethode ihre Bewegungsrichtung und damit auch ihre eigentliche Wirkung, beruht ihr Wirken doch darauf, dass dem Hörer stets die Dialektik von Traum und Wirklichkeit präsent ist, er insgeheim weiß, wovor er flieht, aus welchen Kontexten, und von welchem Hintergrund er sich abstößt.
Der Trümmerschlager (vgl. hierzu Interpretationen in diesem Blog zu Der Insulaner verliert die Ruhe nicht und Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien) eignet sich meiner Meinung nach besonders gut, um eine allzu strikte eskapistisch-realistische Dialektik aufzuweichen. Er tritt in einem Kontext auf, in dem man aufgrund der harschen Wirklichkeitserfahrung mit ebenso harscher Wirklichkeitsflucht rechnen könnte. Doch schon im Namenskompositum verwischen die Grenzen widersprüchlicher Darstellungskonzepte, zwischen Trümmerrealität und Schlagerphantasie. Seine distinkte historische Markierung erlaubt außerdem griffige Verweise auf eine nicht zu stark vereinfachte Idee von „Wirklichkeit“ (für einen Umriss zur Trümmerepoche aus popkultureller/filmwissenschaftlicher Sicht vgl. W. Wilms u. W Rasch: German Postwar Films: Life and Love in the Ruins. Palgrave 2008.)
Die (scheinbaren) Euphemismen, die die zwei Trümmerfilmschlager Über uns der Himmel (1947) und In den Ruinen von Berlin (1948) anwenden, um nicht direkt von der zertrümmerten Realität eines Nachkriegsdeutschlands sprechen zu müssen, erlauben immer auch den Bezug auf eine Trümmerlokalität und blenden sie nicht aus. Eine wirklichkeitsnahe und eine wirklichkeitsferne Lesart existieren dabei problemlos nebeneinander. Trotz ihrer oder vielleicht eher durch ihre unterschiedlichen Methoden der literarischen Verschönerung zeigen die Schlager Realität und berühren das Wirklichkeitsempfinden einer historischen (Leidens-)Gemeinschaft. Ich wähle zudem bewusst zwei Trümmerfilmschlager, da sich ihre euphemistische Strategie auch kulturgeschichtlich interessant auswerten lässt. In beiden Fällen spielt die Unterhaltungsindustrie der Nachkriegszeit mit einem vor dem Krieg etablierten Starimage der Interpreten. Der einzelne Schlager wird dazu jeweils im filmischgeschichtlichen Kontext vorgestellt. Aus welchem Wortfeld die Euphemismen auch genommen werden und in welches Starimage sie sich flüchten, in beiden Texten finden sich Formulierungen, die zwischen schöner Umschreibung und schlichter Beschreibung der Realität oszillieren.
I. Hoffnung ist eine Unmöglichkeit. Hans Albers geht nicht unter. Michael Freytag textet für Seemänner und Heimkehrer. Zu „Und über uns der Himmel“ (1947)
Als Hans Albers in Große Freiheit Nr. 7 kurz vor Ende des Kriegs 1944 die Bildfläche verlässt, reist er in die Ferne auf einem Schiff voller Matrosen. Umbraust von Wellen ist Albers’ Abenteurer-Starperson ganz in ihrem Element. An Land, im Heimathafen, scheint der UFA-Star nie wirklich zu Hause. Dem Publikum ist er bestens vertraut durch Rollen wie Münchhausen, als Der Mann, der Sherlock Holmes war oder eben als Seefahrer Hannes. Albers braucht die große Freiheit der sieben Meere, der außerirdischen Mondlandschaft oder des britischen Schelmenstücks und nicht die mit Hausnummer versehene kleine eines Nachtclubs auf der Reeperbahn, wo er seine Seemannslieder singt, aber nicht seinen Seemannstraum lebt. Auf ins Abenteuer, auf in den Kampf. Heroisch sehen die letzten Einstellungen in Helmut Käutners Hamburger Farbfilm Große Freiheit Nr. 7 aus. Goebbels sah das allerdings anders. Er sah keine „deutschen Seehelden“, sondern ein rechtes halbseidenes Lotterleben. Einer breiten Öffentlichkeit konnte Käutners Film so erst nach Kriegsende gezeigt werden.
Als Hans Albers in Josef von Bákys Trümmerfilm …und über uns der Himmel (1947) als Heimkehrer auf die Nachkriegsleinwand zurückfindet, auf der er gerade erst als Seefahrer davongereist war, tut er dies als kraftkerliger Seebär. Zu einem Bruch mit diesem Image kommt es nicht. Der Seefahrer ist ein Heimkehrer, so wie der Soldat ein Abenteurer war. Das lässt sich auch an dem im Film gespielten Lied ablesen, für das sich Texter Michael Freytag des Treibguts der Seemannslieder bedient. Um in diesem Trümmerlied, die Trümmerlandschaft und die Situation eines Heimkehrers in seine Trümmerwelt zu beschreiben, ohne sie direkt benennen zu müssen, nutzt er einen sturmdurchbrausten Wortschatz, der zu Albers’ Starperson wie die Faust aufs Auge passt. Auf diese Weise ist der Schlager Ablenkungsmanöver und Wirklichkeitsbeschreibung zugleich und dient außerdem als Vehikel, um Albers’ abenteuerliche Berühmtheit in die Nachkriegsgesellschaft zu tragen. Wie auch bei Friedrich Hollaenders Trümmerfilmhit für Marlene Dietrich In den Ruinen von Berlin (Interpretation folgt zu einem späteren Zeitpunkt) bildet deren ruinöser Zustand genügend Raum um ein erfolgreiches Vorkriegsimage auf einer zerstörten Realität wiederaufzubauen. Das über das Starimage transportierte/unterstützte Doppelbewusstsein des Trümmerfilmhits macht den besonderen Reiz dieses Subgenres im Bereich der Trümmerschlager aus. Es erlaubt mit Kontinuitäten von Brüchen zu sprechen.
Der maritime Eingang des Lieds ist ein einziger großer seemännischer Euphemismus für die Trümmersituation des Sprechers und eines angesprochenen, seelenverwandten Kollektives. Dass von „uns“ die Rede ist, holt den Hörer mit hinein stellt dessen Lebenssituation auf eine Schwelle mit dem Sprecher. Der wiederum richtet eine bestandsaufnehmende Frage (im Perfekt) an seine Hörer: „Was ist aus uns geworden?“ und beantworte diese mit einer Strandmetapher selbst: ein Häufchen Sand am Meer. So norddeutsch diese Metapher auch eingefärbt sein mag, sie spricht vom Häufchen Elend ebenso wie von der ewig wogenden Vergänglichkeit des Meeresmahlwerks, dass mit seinen Wellen irgendwann jede Existenz in kleine Körnchen überführt. Wüsste man nicht, dass das Lied im Kontext eines Trümmerfilms eingesetzt und entsprechend bebildert wurde, könnte es sich bei der ersten Strophe auch um eine Stück philosophierender Erlebnislyrik handeln. Einsam scheint hier ein Seewanderer über dem Wogenmeer zu stehen und vom unendlichen Rauschen des Meeres ins Nachdenken gebracht. Das Nordisch-Melancholische passt zur Starperson Albers, der zuvor La Paloma (vgl. Interpretation in diesem Blog) sang, Nimm mich mit Kapitän (vgl. dazu auch die Interpretation des STS-Songs Wohin die Reise) oder das haurukige Das ist die Liebe der Matrosen. Nordwind und Meer sind eindeutige verbale Signale, um diese Tradition fortzuführen.
Der doppelte Reiz des verwendeten Bilderschatzes liegt aber nun darin, dass die Sprachbilder auch rekontextualisiert in einer Trümmersituation funktionieren und hier diese benennen, ohne sie direkt anzusprechen. Dass der Wind spürbar von Norden kommt und den Menschenschlag hin und hertreibt, ist für die Kinobesucher/Schlagerhörer des Jahres 1947 unmittelbar nachvollziehbare Gefühlswirklichkeit in ihren zugigen Häusergerippen an und zerbombten Straßen. Der windige Euphemismus wird in der letzten Strophe schließlich noch deutlicher zur Realitätsumschreibung. Der Wind weht tatsächlich von allen Seiten, wo keine Wände mehr stehen. Ebenso wie das Zugige ist Sand in einer Trümmerlandschaft aus Bauschutt und Geröll eine Allgegenwärtigkeit. Leichenreste und Knochenstücke mögen zwischen den Steinen zu Häufchen zusammengesunken sein. Und die, die leben, sind aufgrund von Unterernährung (Hungerwinter in den späten 1940ern) und körperlicher Auszehrung in der Tat „wie Staub so leicht“, von Naturgewalten leicht angreifbar, schnell einmal von der Leiter gefegt. Die Lebensleiter ist hier auch eine Metapher, die auf eine grassierende handwerkliche Rührigkeit der Trümmerbevölkerung verweist. Zumeist wirken die seemännischen Metaphern im Trümmerkontext aber elegant und im Vergleich zur groben Realität ungleich feiner.
Die Wortfelder zu ‚Lebenspartikel‘ (Sand, Sandkorn, Staub) und ‚bewegende Naturgewalt‘ (Wind, Meer, Sturm) positionieren den Menschen als sandkorngroßen Spielball eines stürmischen Geschicks. Das Trümmerkollektiv ist damit als passive und vergänglich apostrophiert. Treibsand. Die ersten zwei Strophen schildern eine fast gänzlich fremdbestimmte Selbstaufgabe der wenig mehr als Dahinlebenden, die näher am Ableben als am Aufleben sind, sich wie Staub zu Staub gesellen. Die zukunftsgerichtete Frage der dritten Strophe allerdings reißt das Ruder herum: „Was soll nun werden?“ Was wird, beantwortet das Sprecher-Ich nicht, aber dass etwas wird, stellt es ohne Umschweife mit modaler Kantigkeit fest: „Es muß doch weitergehen“ [Hervorherbung FS].
Daraufhin führt die Sprechinstanz an, was aus der Ambivalenz einer zunächst lähmenden Schicksalspassivität eben auch entstehen kann: Vertrauen darauf, dass alles wird, alles weitergeht. Irgendwie. Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch das Mainzer Nachkriegslied Heile, heile Gänsje (1947), das seinen Trost aus ebenjenem Vertrauen auf ein heilsames Weitergehen/Vergehen der Zeit schöpft. Diese Hoffnung bleibt auch in Zeiten größter Hoffnungslosigkeit „genug bestehen.“ Die Kraft zum unverrückbaren Vertrauen darauf, trotz einer gegenwärtig scheinbar hoffnungslosen Situation erwächst aus einer Geborgenheit in einer realen Gefühlsgemeinschaft, einem gemeinsamen Erleben. Geteiltes Leid ist halbes Leid: „Wir fangen alle von vorne an“. Und plötzlich, im Vertrauen auf die Gemeinschaft und das Geschick, zeigt sich, dass das „Dasein auch schön sein kann“. Da kann der Wind wehen, wie er will, von allen Seiten. Soll er doch, ja soll er doch. Und die Hoffnung wird in ein starkes Bild gepackt, in eine naturgewaltige Unmöglichkeit, da es ja weitergehen muss: „Und über uns der Himmel / läßt uns nicht untergehen.“ Selbst in Zeiten der Trümmer hat der Himmel Bestand.
Dieses Bild ist nicht nur aufgrund der vermittelten Absolutheit des Vertrauens bemerkenswert, sondern ist auch sprachästhetisch faszinierend: Der Himmel wird zu einem Akteur, ob nun theologisch gesehen oder schlicht säkular-schicksalhaft, der sein schützendes Zelt über eine am Boden zerstörte Gesellschaft ausbreitet. So groß scheint diese beschützende Macht des Firmaments zu sein, dass sie gewohnte naturgesetzliche Topoi überwindet und den Himmel in einer ungewohnten Personifizierung selbst zum Leben erweckt. Es ist nicht der vielbesungene regelmäßige Rhythmus der Sonne, der wie z.B. bei Udo Jürgens Immer wieder geht die Sonne auf (1967) hoffnungsvoll das Auf und Ab des Lebens erklärt, sondern etwas, das immer da ist, das niemals untergehen kann. Der Himmel wird zur einer großen Konstante. Das Sprecher-Wir wird darin zu einem Gestirn, sein Auf und Ab als Ganzes in einer größeren, sicheren Heimat verortet. Gleichzeitig ist der ‚Himmel über uns‘ eine weitere elegante Metapher, um die dachlose Unbehaustheit der Nachkriegsgeneration zu beschreiben. Gerade aus dieser Dopplung von Euphemismus und Realität entfaltet die Metapher ihre starke positive Kraft für den zeitgenössischen Hörer (und vielleicht noch den heutigen). Der schiere Wille, sich die Realität im wahrsten Sinne des Wortes schön zu reden, lässt aus einer erschütternden Alltagsrealität den Ausdruck größter Hoffnung werden. Das ausgesprochene Vertrauen fußt in einer Gegenwart, in der Hoffnung durch eine (reale) Unmöglichkeit scheint: Mag auch alles um uns herum untergehen, der Himmel über uns kann es nicht.
Die identifikatorische Kraft, die dieser Schlager auf seine Hörergemeinschaft ausgeübt haben muss, ist an einer zeitgenössischen Filmkritik aus der Süddeutschen Zeitung vom 13.1.1948 ablesbar. Über das dramatis personae des Films urteilt der Rezensent Gunter Groll mit Wirklichkeitsentzug: „Seine Typik kennt zwischen den ganz besonders schwarzen Schwarzhändlern und den himmelblauen Werktätigen kaum jene Nuancierungen, aus denen die heutige Wirklichkeit besteht.“ Den Schlager allerdings nimmt er geradezu als kollektive Notwendigkeit als Antwort auf ein wirkliches Empfinden in Empfang: „Mackeben [und Michael Freytag!] schrieb[en] einen Trümmerschlager, der uns dringend gefehlt hat. [Hervorhebung und Anfügungen F.S.]“ Diese Aussage zeigt auch, wie gesellschaftlich übergreifend der emotionale Zusammenhalt der Trümmergemeinschaft gewesen sein muss. Ins emphatisch geäußerte Wir des Journalisten zählen die Einwohner eines ganzen Landes mit hinein – vielleicht sogar grenzüberschreitend alle, die für geraume Zeit unter einem realen oder metaphorischen Trümmerhimmel leben und die ihre Hoffnung gerade daraus schöpfen können, dass der Himmel über ihnen nicht untergeht.
Florian Seubert, Bamberg