Mehr Oberindianer war nie – Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ (1983)

Udo Lindenberg

Sonderzug nach Pankow

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ich muß mal eben dahin, mal eben nach Ost-Berlin.
Ich muß da was klären, mit eurem Oberindianer,
Ich bin ein Jodeltalent, und ich will da spielen mit 'ner Band.
Ich hab'n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker,
Das schlürf' ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker
Und ich sag: Ey, Honey, ich sing' für wenig Money
Im Republik-Palast, wenn ihr mich lasst …

All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen,
Dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen,
Nur der kleine Udo, nur der kleine Udo,
Der darf das nicht - und das versteh'n wir nicht.

Ich weiß genau, ich habe furchtbar viele Freunde
In der DDR und stündlich werden es mehr.
Och, Erich ey, bist du denn wirklich so ein sturer Schrat,
Warum lässt du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat?

Ist das der Sonderzug nach Pankow?

Ich hab'n Fläschchen Cognac mit […]

Honey, ich glaub', du bist doch eigentlich auch ganz locker,
Ich weiß, tief in dir drin, bist du eigentlich auch'n Rocker.
Du ziehst dir doch heimlich auch gerne mal die Lederjacke an
Und schließt dich ein auf'm Klo und hörst West-Radio.

Hallo Erich, kannst' mich hören?
Hallolöchen – Hallo!
Hallo Honey, kannst' mich hören?
Hallo Halli, Halli Hallo,
Joddelido …

     [Udo Lindenberg: Sonderzug nach Pankow. Polydor 1983.]

Ein Bekannter beendet fast alle seiner schriftlichen Äußerungen mit dem Rat, die Dinge, die man tun will, am besten gleich zu erledigen – schon morgen könnten sie verboten sein oder besteuert werden. Da mir diese Mahnung absolut einleuchtet, werde ich noch heute Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow besprechen, weil da gleich in der vierten Verszeile ein gefährliches Wort vorkommt, durch den Vorsatz „Ober-“ sogar noch gesteigert! Da wir uns im Vorfeld einer neuen Regierungsbildung bewegen, ist die Einschätzung der Zukunft noch unsicherer als zu normalen Zeiten und das Risiko nicht zu vernachlässigen, schon zu St. Martin nicht mehr „Indianer“ sagen zu dürfen.

Theoretisch hätte ich mir natürlich auch einen anderen Lindenberg-Song mit geringerem Fettnäpfchen-Potential aussuchen können, beispielsweise den Rudi Ratlos oder die Andrea Doria, welche mir sogar immer noch einen Tick besser gefallen haben als der Sonderzug; aber erstens habe ich nicht überprüft, welche Risiken in jenen Texten auf arglose Interpreten lauern, und zweitens halte ich hier ausgewählten Titel für den zeitgeschichtlich bedeutenderen und rhetorisch raffinierteren.

Unser Song steht in einem komplexen historischen Kontext. Man kann auch ohne Kenntnisse dieses Hintergrunds seinen Spaß daran haben, aber ich denke, dass der Gewinn größer ist, wenn man die Vorgänge der Vor- und Nachgeschichte in den Grundzügen kennt, wobei hier mindestens drei Ebenen zu unterscheiden sind, nämlich zum Ersten die Ebene des speziellen Konflikts zwischen Udo Lindenberg, den DDR-Kulturbehörden und Erich Honecker, sodann zweitens die Ebene des innenpolitischen Konflikts der DDR-Führung mit erheblichen Teilen der eigenen Jugend und letztlich drittens auch noch die Ebene der politischen Großwetterlage zwischen BRD, DDR und der Sowjetunion. Die ganze Sache wird noch einmal komplizierter, wenn man sich klarmacht, dass sich die Machtverhältnisse und Interessen auf den genannten Ebenen seinerzeit relativ dynamisch entwickelt haben und die beteiligten Akteure zu bestimmten Zeitpunkten nur vage Vermutungen haben konnten, wohin die Reise gehen würde …

Was Udo Lindenbergs künstlerische und geschäftliche Interessen angeht, ist bekannt, dass er schon seit Beginn der 1970er Jahre wiederholt den Wunsch geäußert hatte, ein Konzert in Ost-Berlin zu geben, lieber noch eine Tournee durch die DDR. Er war schon in den 1970er Jahren in der DDR-Jugendszene ausgesprochen beliebt, nahezu verehrt, und jene über Songs (vgl. „Rock’n’Roll-Arena in Jena“, 1976) und Interviews bekundete Absicht war seiner dortigen Popularität noch einmal zuträglich. Für ihn bedauerlicher, ja geradezu ärgerlicher Weise stieß sein Anliegen bei der DDR-Führung, insbesondere deren Kulturchef Paul Hager, auf entschiedene Ablehnung, was im Rückblick natürlich nicht überrascht. 1974 hatte die Volkskammer ein ,Jugendgesetz‘ beschlossen, dessen Leitidee die Erziehung des eigenen Nachwuchses zur ,wehrhaften, fleißigen, staatstreuen und körperlich ertüchtigten sozialistischen Persönlichkeit‘ war. Da konnte man seine naiven Welpen nicht einfach der Beschallung durch einen Menschen aussetzen, der laut Stasi-Geheimberichten ,durch und durch gleichgültig, pessimistisch und dekadent‘ daherkam (vgl. Grabowsky/ Lücke, 2008, S. 63), zumal man sich der Anfälligkeit des eigenen Nachwuchses für Jeans, Beatrhythmen, lange Haare, Pazifismus und noch Unanständigeres durchaus bewusst war.

Die Sache mit dem geplanten Auftritt in Ostberlin zog sich also in die Länge, bis Lindenberg 1983 mit seinem „Sonderzug-Song“ Bewegung in die Sache brachte. In Westdeutschland avancierte das Lied schnell zum Hit, im Osten wurde es offiziell, zumal vom Oberindianer höchstselbst, als Majestätsbeleidigung aufgefasst und dem entsprechend verboten bzw. boykottiert. Dass es den dortigen Lindenberg-Fans gleichwohl nicht unbekannt blieb, versteht sich. Nun ist es durchaus bemerkenswert, dass die Kontrahenten – Lindenberg und sein Management einerseits, Honecker und seine kulturpolitischen Berater andererseits – zwischenzeitlich klüger geworden waren und ihren ,clash of cultures‘ mit diplomatischen Äußerungen und Gesten abfederten. 

So sandte der Rockstar dem (dabei auch mit dem geziemenden Titel angeredeten) Staatsratsvorsitzenden einen kleinen Beschwichtigungsbrief, im Gegenzug erhielt er von Egon Krenz, dem Ersten Sekretär des Zentralrats der FDJ, der 1983 übrigens der Aufsteiger in der politischen Führungsriege der DDR war, eine Einladung zum ,FDJ-Friedenskonzert‘ im Palast der Republik. Lindenberg nahm an und kam den Programm-Wünschen der Gastgeber die Titelauswahl betreffend weitgehend entgegen, so dass das Konzert (ohnehin vor ausgewählten politischen Kadern, nicht vor seinen Fans) mehr oder minder problemlos über die Bühne ging, selbstverständlich ohne den Oberindianer-Song. Zu einer landesweiten Tournee des Panikorchesters, wie für 1984 angedacht, sollte es erst nach der Wende kommen.

Bei der behutsamen Annäherung zwischen Lindenberg und Honecker in den 1980er Jahren, die nach dem Friedenskonzert noch mit lustigen wechselseitigen Geschenken fortgesetzt wurde, dürfte der Wandel der politischen Großwetterlage eine erhebliche Rolle gespielt haben, der ich hier aber nicht konkreter nachgehen will. Besonders schwierig zu beurteilen scheint mir die Frage, inwieweit für Personen der DDR-Führungsriege (z.B. Krenz) schon spürbar gewesen ist, dass sich in der Sowjetunion größere Veränderungen zusammenbrauten. Eigentlich sollten die großen Reformprogramme zur Modernisierung des Systems – Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) – erst 1987 durch Michail Gorbatschow (der selber erst 1985 zum mächtigsten Mann im Staat aufgestiegen war) öffentlich verkündet werden, doch dürften besagte Programme intern schon einige Jahre früher angedacht und in Pilotversuchen getestet worden sein. Ebenso schwer zu beurteilen sind für mich die politischen Ausstrahlungen der polnischen Streiks (Solidarność-Bewegung seit ca. 1980) auf die DDR. Zu solchen politischen Geschehnissen im Hintergrund, die das kulturpolitische Klima veränderten, dürften vermutlich auch die verschärften ökonomischen Schwierigkeiten der DDR beigetragen haben, die den Einfluss der ,Falken‘ im System schwächten und gleichzeitig die Vertreter ,reformerischen Gruppen‘ auch und gerade der jüngeren Generationen stärkten.

Noch ein kurzes Wort zu den oben erwähnten ,lustigen Geschenken‘. 1987 beglückte Lindenberg Honecker unter Bezug auf seinen Sonderzug-Song mit einer Lederjacke, worauf dieser mit einem einfallsreichen Schreiben (in dem er die Vereinbarkeit von Rockmusik und Sozialismus vom Grundsatz her großzügig bejahte) und einem interessanten Gegengeschenk reagierte. Bei besagter Gegengabe handelte es sich um ein Musikinstrument, allerdings eines, das nicht gerade zur Standardausstattung einer Rockband gehört, obwohl ihm durchaus laute Töne entlockt werden können. Dafür konnte Erich Honecker darauf verweisen, dass ein solches Gerät einstmals von ihm selber gespielt worden war; die Rede ist von einer Schalmei. Dieses Klangwerkzeug, dem der einschlägige Wikipedia-Artikel einen „durchdringenden Klang“ bescheinigt, sollte man jetzt nicht mit den gleichnamigen historischen ,lieblichen‘ Holzblasinstrument (vgl. „Es tönen die Lieder, der Frühling kommt wieder; es flötet der Hirte auf seiner Schalmei …“) in Verbindung bringen. Bei der Honeckerschen Schalmei bestehen verwandtschaftliche Beziehungen eher zu den sog. Rufhörnern (gemeinsprachlich: ,Hupen‘) vorsintflutlicher Automobile. Besonders beliebt waren derartige Schalmeien Anfang des 20. Jahrhunderts speziell bei den Spielmannszügen des Roten Frontkämpferbundes (vgl. in diesem Zusammenhang das Repertoire des Schalmeien-Orchesters Fritz Weineck, mit einschlägigen Hörproben), in denen der seinerzeit noch junge Indianerkrieger nachweislich mitgewirkt hatte.

Dieses Geschenk nutzte wiederum der nette Udo als Steilvorlage für eine weitere Gegengabe: Anlässlich eines Besuchs Honeckers im Westen revanchierte er sich prompt noch im gleichen Jahr vermittels einer E-Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“. Dieser ebenso humorvoll wie anspielungsreich inszenierte Austausch symbolträchtiger Geschenke belegt einerseits den diplomatischen Lernprozess, den beide Seiten im Laufe der Jahre offensichtlich erfolgreich absolvierten, andererseits aber auch ihre Fixierung auf indianische kulturelle Praktiken, was mir für meinen Essay sehr zupass kommt, da ich – wie sich gleich noch genauer zeigen wird – nun einmal den Begriff „Oberindianer“ zum Leit- und Zentralgestirn meiner Interpretation erkoren habe. Klären wir zuvor aber noch kurz, welche kulturellen Praktiken der indigenen amerikanischen Bevölkerung ich wohl im Sinn gehabt haben konnte, als ich Lindenberg und Honecker eine einschlägige Fixierung unterstellte.

Kenner der ethnologischen Materie wissen um die – speziell von Stämmen der nordamerikanischen Pazifikküste praktizierte – Methode rituellen Schenkens, für die sich die Bezeichnung ,Potlatch‘ eingebürgert hat. Hier ist natürlich nicht der richtige Ort, das Phänomen gebührend darzustellen und zu würdigen. Er mag also genügen darauf hinzuweisen, dass bei diesem Ritual durch Art und Wert der ausgewählten Geschenke Ehre erlangt werden kann und nebenbei noch soziale Hierarchien konstituiert werden. Im Prinzip ist es ja auch eine feine Sache, Streitigkeiten per Geschenkorgien auszufechten und nicht mit Hilfe von Knüppeln.

Andererseits hat dieser schöne Brauch aber auch einen Haken, weshalb er zeitweise von der kanadischen Staatsregierung verboten worden war: Indianerhäuptlinge ruinierten im Bestreben, den Gegenpart durch immer wertvollere Geschenke auszustechen, nicht selten sich selbst und ihren ganzen Stamm. Auch in diesem Sinne muss man für die politische Wende von 1989 dankbar sein, die der Schenkerei zwischen Lindenberg und Honecker ein ebenso unspektakuläres wie rasches Ende gesetzt hat! Der Rocker durfte dann auch, ohne weitere Unkosten auf sich nehmen zu müssen, schon im Januar 1990 mitsamt Panikorchester die lang ersehnte DDR-Tour antreten …

Nun aber von den Hinter- zu den Vordergründen! Wie allseits bekannt, dichtete Udo seinen Text auf die Melodie des klassischen Swing-Titels Chattanooga Choo Choo des in den 1930er bis 50er Jahren äußerst erfolgreichen italoamerikanischen Komponisten und Songwriters Harry Warren. Chattanooga war und ist ein wichtiger Knotenpunkt im US-Eisenbahnnetz, war im 19. Jahrhundert Schauplatz blutiger Schlachten des Bürgerkriegs und in den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung (damals noch unter dem Namen Ross’s Landing) mit dem Schicksal der Cherokee-Indianer verbunden. Der Chattanooga Choo Choo-Song (1941) war zunächst für eine verwickelte amerikanischen Filmkomödie (Sun Valley Serenade, dt.: Adoptiertes Glück) geschrieben worden, die von der Produktionsfirma als Mix aus Musikfilm und Eisrevue angelegt worden war, um die vielfache norwegische Eiskunstlauf-Olympiasiegerin und -Weltmeisterin Sonja Henie in einer Hauptrolle glänzen zu lassen.

Im Songtext von Mack Gordon geht es um eine Dampflokfahrt, deren Anfangszeile von Udo Lindenberg im Gestus für seinen Sonderzug nach Pankow übernommen wird. Bei Mack Gordon fragt die Sprecherinstanz „Pardon me boy, is that the Chattanooga Choo Choo?“ – Lindenberg setzt ein mit „Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?“ Danach streben allerdings die Wege, pardon!, Geleise auseinander …

Erwähnen sollte ich an dieser Stelle vielleicht noch eine frühere deutsche Cover-Version des Chattanooga Choo Choo-Songs von Peter Rebhuhn und Bully Buhlan. Deren Kötschenbroda-Express nahm 1947 satirisch das desolate deutsche Bahnwesen der Nachkriegszeit aufs Korn:

„Verzeih‘n Sie, mein Herr, fährt dieser Zug nach Kötschenbroda?“
„Ja, ja, Herrschaft, vielleicht, wenn‘s mit der Kohle noch reicht.“
„Ist hier noch Platz in diesem Zug nach Kötschenbroda?“
„Oh, das ist nicht schwer, wer nicht mehr steh‘n kann, liegt quer.“

Am Ende lässt die Sprecherinstanz den Freund alleine nach Kötschenbroda fahren und bleibt selber lieber zu Hause.

Indem Udo Lindenberg die erste Zeile des Chattanooga Choo Choo-Songs mehr oder minder übernimmt, erweist er dem Vorbild seine Reverenz, knüpft aber zugleich an eine etablierte Tradition von Wortspielen mit einschlägigem Bezug an. Er richtet seine Frage an einen DDR-Bürger, von dem er erwartet, dass der sich auf dem Bahnhof auskennt, vermutlich einen Bahnbeamten. Zunächst erklärt er diesem sein Gesprächsanliegen (Klärungsbedarf mit dem ,Oberindianer‘) und stellt sich selbstironisch als ,Jodeltalent‘ vor, was die einigermaßen despektierliche Bezeichnung für den Staatsratsvorsitzenden ein bisschen ausbalanciert. Im weiteren Verlauf des Songs verschiebt sich die Rede-Konstellation quasi unter der Hand so, dass die Sprecherinstanz sich nun direkt an Erich Honecker wendet. Halbwegs erklären könnte man diese neue Sprechsituation so, dass sie – der Realität vorausgreifend – vom ,Jodeltalent‘ imaginiert und dem Bahnbeamten vorgespielt wird. Die Schlussverse – „Hallo Erich,“ usw. – wenden sich allerdings dann ganz eindeutig direkt an Honecker, was im gegebenen Kontext nur Sinn macht, wenn die Sprecherinstanz unterstellt, dass dieser über Lausch-Apparaturen mithört, was am Gleis gesprochen wird …

Besonders bemerkenswert an Lindenbergs Songtext sind für mich die Flapsigkeiten, die sich der Sänger gegenüber Erich Honecker herausnimmt, beginnend mit dem Ausdruck „Oberindianer“, weitergeführt über die Vorstellung, mit dem Spitzenpolitiker gemütlich ein eingeschmuggeltes Fläschchen Cognac zu verputzen, die Mahnung, doch nicht den „sture[n] Schrat“ zu geben, bis hin zur Unterstellung, dass der Staatsratsvorsitzende sich heimlich auf dem Klo Rocker-Phantasien hingeben könne. Lindenbergs lyrische Sprache ist generell, d.h. weit über den Sonderzug-Song hinaus, von solchen flapsigen Ausdrücken und ungewöhnlichen Bildern geprägt, die hier nur deshalb so überdeutlich auffallen und seinerzeit den entsprechenden Anstoß erregt haben, weil sie in die verkrustete offizielle Formelsprache des real existierenden Sozialismus eingeschlagen sind.

Man würde Lindenbergs sprachliche Kreativität und lyrische Potenz arg verkennen, wenn man seine Formulierungen leichthin als Schnoddrigkeiten oder schlichte Frechheiten abtun würde. Nein, seine Wortwahl ist wohlüberlegt und funktioniert auf mehreren Ebenen, wie sich am Begriff des ,Oberindianers‘ (Wortbildung analog zu ,Oberwachtmeister‘, ,Oberlehrer‘ oder ,Oberfeldwebel‘ usw.) bestens zeigen lässt. Dieser Ausdruck ist natürlich despektierlich, aber er passt dennoch ziemlich perfekt: U.a. entspricht er der politischen Farbenlehre, derzufolge in Ostberlin ,die Roten‘ regieren. Sodann verweigert er Honecker die wesentlich ehrenvollere Bezeichnung ,Häuptling‘, weil bei „Oberindianer“ vermutlich mitgedacht ist, dass der wahre Häuptling der Roten seinen Wigwam in Moskau aufgeschlagen hat. Weiterhin kann man sich als Rezipient des Songs zumindest vorstellen, dass Lindenberg mit seiner Indianer-Terminologie auch kritisch auf die damalige politische Situation (Kalter Krieg mit Nachrüstungs-Entscheidung im Bundestag, ersten Raketenstationierungen, Friedensdemos und geplatzten Abrüstungsverhandlungen) Bezug nimmt, indem er sie als Cowboy und Indianer-Spiel ,framt‘.

Nicht von ungefähr ist Udo Lindenberg im Laufe seiner Karriere mehrfach für seine Verdienste um die deutsche Sprache ausgezeichnet worden – zunächst für die Tatsache, dass er das Deutsche für Rockmusik hoffähig gemacht hat, in späterer Zeit aber auch für seine Leistungen um dessen Pflege und Weiterentwicklung: Er habe die deutsche Sprache lockerer gemacht, wurde ihm z.B. bei der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises (2010) vom Laudator bescheinigt. ,Locker‘ ist nicht mit ,schnoddrig‘ oder ,sorglos‘ zu verwechseln, sondern als ,entspannt‘ und ,entkrampfend‘ zu verstehen. Dass die Konfrontation mit einer solchen Ausdrucksweise für die DDR-Bosse zunächst schockierend gewesen sein muss, ist gut nachvollziehbar, hatte der östliche Teil Deutschlands die große gesellschaftliche ,Lockerung‘, die Westdeutschland in den 1960er Jahren erlebt hatte, doch weitgehend unterdrückt. Umso bemerkenswerter scheint mir in diesem Zusammenhang das Tempo, wie schnell sich die DDR-Führung in den Folgejahren auf Lindenberg und seinen Stil einstellen konnte (vgl. die oben behandelte Verständigungs-Diplomatie).

Zu den weiteren kreativen ,Unverschämtheiten‘ in Lindenbergs Song wären noch manche Anekdoten und ästhetische Würdigungen (etwa zu dem wunderbaren Reim ,Schrat – Arbeiter- und Bauernstaat‘) nachzutragen, doch irgendwann muss jeder Beitrag einmal sein Ende ansteuern. Somit schließe ich mit einem kleinen Nachtrag zu den „Schlageraffen“, die zu Lindenbergs offensichtlichem Missvergnügen alle schon in der DDR singen durften. Bei meinen Recherchen konnte ich nicht ermitteln, ob er sich hier auf bestimmte Personalien bezieht oder nur allgemein auf den Umstand abhebt, dass das Schlager-Genre in der DDR als politisch harmlos gesehen wurde, so dass erfolgreichen Sängerinnen und Sängern aus dem westlichen Ausland häufig Auftritte im Palast der Republik und sogar beste Sendezeiten im Ost-Fernsehen eingeräumt worden sind. Auf alle Fälle lässt die Begriffswahl des Jodeltalents für seine Schlager-Konkurrenz vermuten, dass hier eine gewisse Energie im Spiel war …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Jacob-Grimm Preis an Udo Lindenberg. In: Zeit-Online vom 23. Oktober 2010.

Udo Lindenberg mit Thomas Hüetlin: Udo Lindenberg. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018.

Zahlreiche einschlägige Wikipedia-Artikel, u.a. zum Chattanooga Choo Choo-Song und seinen vielfältigen Bezügen.