Rabe schwarz auf Weiß. Zu Rainald Grebes „Der Rabe“
24. September 2012 1 Kommentar
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Rainald Grebe Der Rabe ich hatt mal einen raben der folgte mir überall hin ich muß viel an ihn denken wenn ich einsam bin er flog durchs offene fenster auf ein weißes blatt papier er sagte ich bin dein rabe ich bleibe jetzt bei dir krah krah krah krah er saß auf meiner schulter das war sein liebster platz er hat sie immer vollgekackt und zerkratzt wir haben zusammen gebadet er hat von meinem teller gepickt er konnte viele kunststücke er war da sehr geschickt krah krah krah krah rabe rabe rabe rabe rabe schön daß ich dich habe rabe rabe wir kletterten auf bäume wir hüpften durch das feld er stellte mir die raben vor ich mochte seine welt ich stieg mit ihm auf dächer wir schauten über berlin unten da liefen menschen ich wollte da nicht mehr hin krah krah krah krah rabe rabe rabe rabe rabe schön daß ich dich habe rabe rabe ich wollte ihm was sagen was mit liebe und mit glück ich fasste an meine schulter da war der rabe weg krah krah krah krah jetzt ist er weg er ist weg er ist weggeflogen der rabe ist weg er ist weg er ist weg er ist weggeflogen und kommt nicht mehr zurück er ist weg er ist weg er ist weggeflogen der rabe ist weg und eine schwarze feder liegt in meinem bett er ist weg ich hatt mal einen raben der folgte mir überall hin ich muß viel an ihn denken wenn ich einsam bin krahkrahkrah [Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung: Zurück zur Natur. Versöhnungsrecords 2011.]
In Rainald Grebes Liedern wimmelt es bei genauerem Hinhören von Tieren, besonders auffällig und naheliegend auf dem Album Zurück zur Natur. Da wäre zum Beispiel die (sprechende) Katze auf dem Schoß des Städters, der zwischen den Jahren in der Pampa jenseits von Berlin Am Ofen sitzt. Im Stück Aufs Land, das eskapistische Idealisierungen des ländlichen Lebens parodiert, symbolisieren verschiedene Haus- und Kleintiere Naturnähe:
ich will ein gehöft ein gehöft gehöft
wo der hirtenhund kläfft
ich hab sehnsuch nach fell hundegebell
meine katze legt mir mäuse vor die tür
maulwurfshügel igel
kikeriki der hahn ist die uhr
ich will zurück zur natur
Aus einem kurzen Einspieler kann man außerdem erfahren, dass ein Leben ohne Blauwale vorstellbar ist.
Track 11 schließlich heißt Der Rabe und erzählt eine Mensch-Tier-Liebesgeschichte, wenn man so will. Der Titel plakatiert aber bereits, dass sich dieses Lied auch als Bearbeitung eines der bekanntesten Texte von Edgar Allan Poe verstehen lässt.
Zur Erinnerung: In Poes 1845 erstmals veröffentlichtem Gedicht hat ein Melancholiker, der in alten Büchern Trost sucht, nachdem seine Geliebte Lenore gestorben ist, zur Geisterstunde in einer Dezembernacht („Once upon a midnight dreary […]“; „it was in the bleak December“ [Edgar Allan Poe: Der Rabe. Gedichte und Essays. Aus d. Amerikan. von Arno Schmidt, Hans Wollschläger, Friedrich Polakovics u. Ursula Wernicke. Mit Anm. von Kuno Schuhmann. Zürich: Haffmans 1994. (The Raven und Die Methode der Komposition werden nach dieser Ausgabe zitiert.]) eine unheimliche Begegnung mit einem Raben. Als der schwermütige und schon recht schläfrige Lesende ein Klopfen an der Tür hört, glaubt er zunächst nur an einen späten Besucher. Da er den Raum vor seiner Tür aber leer findet, flüstert er „Lenore“ ins Dunkel. Nach dieser jähen irrationalen Anwandlung, es könne sich um eine Geistererscheinung der toten Geliebten handeln, versucht er sich das nächtliche Geräusch mit dem Wind zu erklären, der am Fenstergitter rüttelt. Wie er nun das Fenster samt Gitter öffnet, um diese vernünftigere These zu verifizieren, schreitet jedoch ein stattlicher Rabe – „with mien of lord or lady“ – in das düstere Zimmer und nimmt auf einer Büste Platz, die Pallas Athene darstellt.
Gefragt nach seinem Namen, antwortet der schwarze Vogel „Nevermore“. Damit ist das bis zum Ende des Gedichts refrainartig wiederholte, zunehmend raunend-finstere Wort erstmals gefallen. Zugleich irritiert und ein wenig belustigt, beobachtet der nächtlich Heimgesuchte das Tier und sinnt über die Bedeutung des wiederholten „Nevermore“ nach. Er nimmt an, dass es sich bloß um ein antrainiertes Wort handelt, das der Rabe nicht mit einer Aussageintention artikuliert, kann aber einem Drang nicht widerstehen, es selbst mit einem tieferen Sinn zu verbinden. So versteigt er sich schließlich zu der Frage, ob er denn Lenore im paradiesischen Jenseits wiedertreffen werde. Die Antwort des Raben fällt so vorhersehbar wie erschütternd aus: „Nevermore“. Von dieser – freilich selbst provozierten – dunklen Prophezeiung schwer getroffen, versucht der von Schmerz und Trauer nun völlig Überwältigte den Raben unwirsch aus dem Zimmer heraus zu komplimentieren. Aber: „[…] the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting / On the pallid bust of Pallas […]“.
Hier wechselt das Tempus vom Präteritum ins Präsens. Die Beklemmung und die Befangenheit in der schauerlichen Situation halten also an. Der ebenso absurd wie abgründig erscheinende schwarze Rabe thront weiterhin höhnisch kontrapunktisch auf dem marmorn-bleichen Bildnis Athenes, der Göttin der Weisheit und der Patronin der Gelehrten. Wie ein teuflischer Dämon wird er sein Opfer, das sich in seiner Einsamkeit und in einer Welt aus Büchern eingerichtet hatte, nicht mehr aus seinem bösen Bann entlassen: „And my soul from out that shadow that lies floating on the floor / Shall be lifted – nevermore!“ Der Rabe ist zum Katalysator überwältigender, rational nicht integrierbarer Verzweiflung und Trauer angesichts des Todes Lenores – und der Sterblichkeit überhaupt (vgl. E. Y. Meyer: Das sprechende Tier oder Der nicht rationalisierbare Rest. Zu Edgar Allan Poe, seinem Gedicht Der Rabe und dem sich darauf beziehenden Essay Die Methode der Komposition. In: Edgar Allan Poe: Der Rabe. In der Übertragung von Hans Wollschläger. Zweisprachig. Mit dem Essay Die Methode der Komposition von Edgar Allan Poe in der Übersetzung von Ursula Wernicke. Mit einem Nachwort von E. Y. Meyer. Frankfurt a. M.: Insel 1982 [= Insel-Bücherei 1006], S. 53–92.) – geworden.
In seinem Essay Die Methode der Komposition schreibt Poe, dass der Clou seines Langgedichts in der Verbindung von Schönheit („Atmosphäre und Wesen des Gedichts“), Melancholie („Tonart“) und einem „künstlerischen Reiz“ liege: Konkret meint er damit zunächst die Entfaltung der Trauer eines Liebenden um seine verstorbene schöne Geliebte:
[D]er Tod einer schönen Frau ist also fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden – und ebenso zweifellos ist der geeignetste Mund für einen solchen Gegenstand der eines Liebenden, der die Geliebte durch den Tod verlor.
Jenen „künstlerischen Reiz“ erzeugt das refrainartig wiederholte und dabei semantisch variierte „Nevermore“.
Grebes Lied thematisiert seinerseits den Verlust von jemand Geliebtem; nur ist hier keine schöne Frau gestorben, sondern ein Vogel „weggeflogen“. Der Rabe rückt also in die Position des Betrauerten bzw. Vermissten und wird nicht zum Unheilsverkünder. Ebenso wenig ist er das peinigende „Sinnbild trauervoller und nie endender Erinnerung“, wie es in der Methode der Komposition heißt, sondern ein Gegenüber, das das Wesen von Liebe und Glück verstehbar und erfahrbar gemacht hat. Dieser Kontrast zwischen den beiden Texten schlägt sich auch sprachlich nieder: Die Zeilen „jetzt ist er weg er ist weg er ist weggeflogen / der rabe ist weg / er ist weg er ist weg er ist weggeflogen“ betonen die Flüchtigkeit der schönen Erfahrungen und greifen die repetitive Struktur aus der Schlussstrophe von The Raven auf, in der der Rabe zum ästhetischen Bild erstarrt: „And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting“.
Der Rabe wird – anders als durch Poes selbstquälerischen Melancholiker – bei Grebe nicht dämonisiert. Die überzüchtete abgründige Schwermut des Poe-Textes erscheint hier vielmehr positiv gebrochen. Das beginnt schon bei der Ausgangssituation: Der Rabe kam einst durch ein offenes Fenster hereingeflogen und traf auf einen Menschen, der sich nicht abschottete und der für eine andere Welt zugänglich war, in die ihn der Vogel einführte. Die Erfahrung des Anderen durch das Tier in dessen Welt (Natur) und aus dessen Perspektive (Oben) entfremdet das Text-Ich sogar seiner eigenen Welt (Menschen, Unten, Stadt/Berlin):
wir kletterten auf bäume
wir hüpften durch das feld
er stellte mir die raben vor
ich mochte seine welt
ich stieg mit ihm auf dächer
wir schauten über berlin
unten da liefen menschen
ich wollte da nicht mehr hin
An die Stelle des refrainhaften „Nevermore“ tritt denn auch passend das onomatopoetische „krah krah“, das durchaus wie ein Klagelaut vorgebracht wird und mit dem das Ich die Rabenwelt affirmiert, indem es sich die Rabensprache anverwandelt. (Nur ganz unauffällig in der Zeile „und kommt nicht mehr zurück“ hallt das bei Poe so entsetzlich aufgeladene „Nevermore“ – „Nimmermehr“ vielleicht noch nach.)
Grebes Text-Ich verharrt nicht in bloßer Anschauung des Eindringlings in seine Welt. Der hier deutlich eloquentere Rabe macht es ihm freilich auch anfangs gleich leichter, wenn er zur Begrüßung sagt, „ich bin dein Rabe / ich bleibe jetzt bei dir“, anstatt nur ein antrainiertes negativ aufladbares „Nevermore“ zu krächzen. Er sitzt auch nicht nur distanziert auf Raumaccessoires, sondern am liebsten auf der Schulter seines menschlichen Partners, die er sogar ‚zerkratzen‘ und – prosaischer Kontrast zum dichterischen Pathos bei Poe: – ‚vollkacken‘ darf. Die Mensch-Tier-Beziehung hat hier also neben dem emotionalen auch einen sinnlichen Aspekt, der am Ende mit der schwarzen Feder aufgegriffen wird, die im Bett zurückgeblieben ist wie das Haar einer Geliebten (vgl. z. B. Element of Crime, Alles was blieb: „Nur ein ganz langes Haar und ein Abdruck im Kissen sind alles was blieb.“). Auch in diesem Punkt besteht ein gegensätzlicher Textbezug zu The Raven, wo der enervierte Melancholiker den Raben warnt, er solle nur ja nicht eine schwarze Feder als Zeichen seiner prophetischen Lüge zurücklassen: „Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken!“ Darauf reimt sich die Sehnsucht nach Rückkehr in die Einsamkeit – „Leave my loneliness unbroken!“ –, in der der Rabe nicht mehr als Gegenüber die unfassbare Verzweiflung verkörpert. In Grebes Bearbeitung hingegen ist die Einsamkeit der Zustand, in der sich das Text-Ich den Raben erinnernd ‚zurückholt‘: „ich muß viel an ihn denken / wenn ich einsam bin“. Die dichterisch-ästhetische Veredelung grausamer Trauer des Poe-Textes verwandelt sich hier in eine erzählerische Bewahrung der vergangenen Erfahrung von Liebe und Glück. Der Rabe verkörpert Liebe und Glück und verschwindet in dem Moment, in dem sein menschlicher Partner ihm dazu etwas sagen möchte. Liebe und Glück werden nicht definitorisch bestimmt und lassen sich nicht fixieren, sondern werden erzählerisch versprachlicht.
Passenderweise verweist die zurückgelassene Feder auch auf ein Schreibgerät und landete der Rabe nicht auf einer marmorweißen Büste, sondern – hier wird der Schwarz-Weiß-Kontrast aus The Raven aufgegriffen – „flog […] auf ein weißes blatt papier“. Damit bietet der Text einen Ansatz für eine poetologische Lesart dieser phantastischen Mensch-Tier-Beziehung an – in dem Sinne, dass entweder die Erlebnisse mit dem Raben zu einer Erzählung inspiriert haben oder dass der Rabe als literarische Idee den Anfang setzte für die Entfaltung einer Geschichte über Liebe und Glück.
Denise Dumschat-Rehfeldt, Bamberg