Notopfer Berlin: Bully Buhlans „Ich hab’noch einen Koffer in Berlin“
3. September 2012 1 Kommentar
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Bully Buhlan (Text: Aldo von Pinelli) Ich hab noch einen Koffer in Berlin Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin. Die Seligkeiten vergang’ner Zeiten sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin. Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin. Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn: Auf diese Weise lohnt sich die Reise, denn wenn ich Sehnsucht hab’, dann fahr ich wieder hin. Wunderschön ist’s in Paris auf der Rue Madelaine. Schön ist es im Mai in Rom durch die Stadt zu geh’n. Oder eine Sommernacht still beim Wein in Wien. Doch ich häng, wenn ihr auch lacht, heut’ noch an Berlin. Lunapark, Wellenbad, kleiner Bär im Zoo, Wannseebad mit Wasserrad, Tage, hell und froh, Werder, wenn die Bäume blüh’n, Park von Sanssouci, Kinder, schön war doch Berlin, ich vergeß’ es nie. Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin. Die Seligkeiten vergang’ner Zeiten sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin. Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin. Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn: Auf diese Weise lohnt sich die Reise, denn wenn ich Sehnsucht hab, dann fahr ich wieder hin. [Bully Buhlan: Lieber Leierkastenmann. Polydor 1951.]
Jüngere Menschen werden staunen: Es gab tatsächlich Zeiten, in denen Berlin deutsche Schlagzeilen nicht als chronische Pleiten- und Pannenstadt beherrschte, sondern sich als sog. Vorposten der freien Welt im Reich des Bösen als ,Hauptstadt der Herzen’ fühlen durfte. Damals (1948-56) mussten – zunächst in der Bizone, später auch in der Bundesrepublik – Briefe nach Berlin zusätzlich zum normalen Porto mit einer 2-Pfennig-Steuermarke, dem sog. ,Notopfer Berlin’, frankiert werden, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass dieses Gesetz auf größere Kritik stieß. Just in dieser Zeit reüssierte ein netter junger Mann namens Bully Buhlan, 1924 als Hans-Joachim B. in Berlin-Lichterfelde geboren, 1982 in Berlin-Zehlendorf gestorben, zum ersten Teenagerschwarm Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg. Von Michael Jary entdeckt und als Sänger für das Radio Berlin Tanzorchester engagiert, charmierte er mit seiner sanften Stimme zu dezenten Swing- und Boogie-Woogie-Melodien das westdeutsche Publikum der ersten Nachkriegsjahre. Seine damals weitgehend zerstörte, geteilte und im kalten Krieg gefährlich exponierte Heimatstadt besang er nicht selten, und immer mit authentischer Zuneigung. So war er beispielsweise für seine musikalische Reaktion auf die Berlin-Blockade 1948/49 („Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm“) schon respektvoll als „klingende Luftbrücke“ bezeichnet worden (vgl. Heiße Story: Nachkriegswurst und Kohlenmangel, gefunden bei Professor Schlager empfiehlt!). Bully Buhlan interpretierte mehr oder minder alle populären Berlintitel der Operetten-, Kabarett- und Schlager-Geschichte; dessen ungeachtet dürfte der bald zu einem sog. ,Evergreen’ avancierte halb sentimentale, halb zukunftsgewisse Song vom zurückgelassenen Koffer sein Spitzentitel geblieben sein. Inwieweit der von Ralph Maria Siegel komponierte, von Aldo von Pinelli getextet Schlager diesen Status allerdings noch bei Angehörigen jüngerer Generationen wahren kann, wäre erst noch empirisch nachzuweisen. Die häufigen, oft krasse Missverständnisse dokumentierenden Überlieferungsfehler des Textes im Internet stimmen mich da einigermaßen skeptisch …
Identifikationspotential für die deutsche Nachkriegsgesellschaft bietet Bully Buhlans Kofferlied zuhauf: Hier äußert sich ein Ich, das seine „Seligkeiten“ in vergangenen Zeiten erlebt hat und sich gegenwärtig nur noch wehmütig daran erinnern kann. Vertriebenenschicksale, Verlusterfahrungen, aber auch das Herauswachsen aus Kindheits- und Jugendidyllen bilden den emotionalen Resonanzboden dieses Schlagers. Die stichwortartigen Konkretisierungen der „Seligkeiten vergang’ner Zeiten“ im vierten Versblock – „Lunapark, Wellenbad, kleiner Bär im Zoo, / Wannseebad mit Wasserrad, Tage, hell und froh, / Werder, wenn die Bäume blüh’n, / Park von Sanssouci“ deuten eine ungefähre Lokalisierung des Gemeinten an. An dieser Aufzählung fällt neben ihrem offensichtlichen Berlin-Bezug auf, dass der Sänger keinen spektakulären Erinnerungen nachhängt, sondern den alltäglich-kleinen Freuden einer ,heilen Welt’. (Dass bei den blühenden Bäumen von Werder oder dem Stichwort „Sanssouci“ die Vorstellung einer ersten Liebe indirekt mitgedacht werden darf, sollte jetzt nicht als Gegenargument betrachtet werden.) Auch deshalb passen diese „Seligkeiten“ in einen „kleinen“ Koffer, nicht nur, weil sie ideelle Besitztümer darstellen.
Bleiben wir einen Augenblick beim Koffer: Der Koffer war in der Nachkriegszeit – real wie ikonographisch – quasi permanent präsent. Millionen Menschen transportierten damals in schäbigen Köfferchen ihre verbliebene Habe durch die Welt, um – vielleicht – irgendwo eine Bleibe, eine neue Heimat zu finden. Insofern symbolisiert der Koffer in dieser Zeit wie kein anderer Gegenstand die defiziente Existenz der durch Faschismus, Holocaust, Krieg und Vertreibung entwurzelten Menschen. Buhlans chansonartiger Schlager schreibt dem Koffer nun jedoch eine neue, positive Bedeutung zu, denn der von ihm besungene Koffer befindet sich nicht bei seinem Besitzer, der anscheinend – zeituntypisch privilegiert! – ,weltläufig’ (Paris, Rom, Wien) und selbstbestimmt unterwegs ist, sondern er liegt als eine Art ,Brückenkopf’ oder ,Rückversicherung’ an einem Ort, den das Ich (ohne das Wort zu verwenden) als ,Heimat’ betrachtet. Die fünfziger Jahre waren bekanntlich geradezu ,heimatsüchtig’. Angesichts zahlloser Heimatfilme und Heimatschlager, des Erfolgs von Trachtenmode und Regionalparteien spricht die Forschung zur Popularkultur jener Zeit von einer ,Heimatwelle’. In diesem Zusammenhang scheint mir bemerkenswert, dass Buhlans Schlager Heimat nicht in einer der klassischen ,heilen’ Naturlandschaften des zeitgenössischen Heimatdiskurses verortet (Heide, Schwarzwald, Alpen), sondern in der zutiefst kriegsbeschädigten Metropole. Allerdings ist auch wieder unverkennbar, dass deren naturnahe Elemente bei der Aufzählung erinnerter Seligkeits-Momente eine dominante Rolle spielen.
Wird beim Ich die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück übermächtig, kann dieses – gegenüber vielen Heimatlosen und Vertriebenen extrem begünstigte Ich – zu seinem kleinen Koffer voller ideeller Kleinode in Berlin zurückkehren. Schließlich sind da noch ,alle Seligkeiten der vergangenen Zeiten drin’. Dieser Koffer bildet offenbar eine Art ausgelagertes, räumlich verortetes (und damit der rhetorischen memoria-Theorie durchaus kompatibles!) privates Glücksgedächtnis, das eine halbwegs konkrete Rekonstruierbarkeit der bewahrten ,Seligkeiten’ zu verbürgen scheint. Nach Berlin zurückgekehrt wird unser Ich seinen Glücks-Koffer öffnen und die dort bewahrten Dinge wieder ,in Gebrauch nehmen’ können. Wie man sich das genau vorzustellen hat, lässt der Schlager offen. Wichtig ist ihm offensichtlich anderes: erstens eine Botschaft der Solidarität und Verbundenheit an die in der ,Frontstadt’ verbliebenen Berliner, zweitens eine Aufwertung immaterieller – und insofern auch in der Regel nicht verlierbarer – Besitztümer der Erinnerung gegenüber materiellen Werten.
Interessant sind einige Variationen kleiner Partikel im Text. In der ersten Zeile fällt das Wörtchen „noch“, das wahrscheinlich temporal im Sinne von „immer noch“ zu verstehen ist. Dass es nicht „noch, aber nicht mehr lange“ zu lesen ist, klärt die sechste Zeile: „Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn“. In der zweiten Zeile spricht das Ich davon, dass es „nächstens“ wieder nach Berlin „muss“ – das Heimweh scheint also (aktuell) einigermaßen groß zu sein. In der achten Zeile formuliert das Rückversicherungs-Prinzip dann viel allgemeiner: „wenn“ (wohl konditional zu lesen) das Ich Kummer hat, kann es sich durch eine Berlin-Fahrt Erleichterung verschaffen. Bemerkenswert ist schließlich noch der Tempus-Wechsel vom dritten zum vierten Versblock; den Metropolen Paris, Rom und Wien wird Lebensqualität im Präsens zugestanden, Berlin aber „war“ schön. Die Degradierung Berlins wird also wahrgenommen. Dennoch gesteht das Ich seine (irrationale – „wenn ihr auch lacht“) tiefe Verbundenheit gerade zu dieser zerstörten, aktuell nicht mehr schönen Stadt. Explizit angesprochen wird mit „Kinder“ (Vers 16) nicht unbedingt eine jüngere Generation, aber doch wohl ein Publikum, das als westdeutsches, nicht heimatvertriebenes oder wenigstens auf die Zukunft hin orientiertes die Sentimentalität der Ich-Instanz nicht unmittelbar teilt. In der Realität hat Bully Buhlan selbstverständlich den Nerv der deutschen Nachkriegsgesellschaft getroffen. Dass sein Bekenntnis zu Berlin faktisch auf Verständnislosigkeit stoßen könnte, war nicht zu befürchten.
Buhlans sentimentale Berlin-Huldigung wurde später von einigen Film- und Unterhaltungsstars gecovert, deren Leben und Schaffen ebenfalls intensiv mit der geteilten Metropole verbunden war. Von Marlene Dietrich, Hildegard Knef und Harald Juhnke stammen die erfolgreichsten Interpretationen. Mit den Ereignissen von 1989 scheint es mit diesem Lied ebenso bergab gegangen zu sein wie mit den Sympathiewerten für Berlin beim deutschen Steuerzahler.
PS. Der philatelistische Sammlerwert für die alten Steuermarken „Notopfer Berlin“ liegt je nach Druckvariante zwischen wenigen Cent und mehreren tausend Euro. Bully Buhlans Schallplatte kostet heute im Versandhandel so um die zehn Euro.
Hans-Peter Ecker, Bamberg