Hooliganhymnen. „Fußball und Gewalt“ von den Böhsen Onkelz (1984) und „Auswärts sind wir asozial“ von Killermichel (2016)

Böhse Onkelz

Fußball und Gewalt

Samstag Mittag, Stadionzeit,
Schnaps und Bier, wir machen uns bereit,
Linie 13 total überfüllt,
im Stadioneingang wird nach Waffen gefilzt.

Wir steh'n in uns'rem Block
und singen uns're Lieder.
Wir schwör'n auf uns're Farben
und machen alles nieder.

Fußball und Gewalt,
blutige Schlachten im Wald,
Fußball und Gewalt.

Das Spiel ist aus, wir steh'n am Bierstand.
Das Stadion ist in unserer Hand.
Wir warten auf unsere Gegner.
Siege feiern können wir später.

Wir steh'n in uns'rem Block [...]

Fußball und Gewalt, [...]

     [Böhse Onkelz: Der nette Mann. Rock-o-Rama 1984.]

Killermichel

Auswärts sind wir asozial

Auswärts
Auswärts
Auswärts asozial

Auswärts
Auswärts
Auswärts asozial

Mit dem Sonderzug nach Bayern
oder mit 'nem Bus nach Prag:
Auswärts wird gefeiert 
mit viel Alkohol am Start.
Also macht euch auf die Reise,
heute hol'n wir uns den Sieg.
Wir sind laut, ihr so leise,
und wir singen dieses Lied:

Denn auswärts sind wir asozial.
Auswärts sind wir hart.
Auswärts sind wir asozial,
denn wir saufen schon auf der Fahrt.
Auswärts sind wir asozial.
Auswärts sind wir hart.
Auswärts sind wir asozial,
denn wir saufen schon auf der Fahrt.

Auswärts
Auswärts
Auswärts asozial

Auswärts
Auswärts
Auswärts asozial

Und ihr denkt, wir sind die Schlimmsten,
ja ich glaub' da habt ihr Recht!
Niemals nüchtern, immer asozial
zieh'n wir auswärts ins Gefecht.
Steht eure Stadt in Flammen,
waren wir wahrscheinlich da.
Kehrt die Scherben schnell zusammen
und macht's gut bis nächstes Jahr!

Denn auswärts sind wir asozial. [...]

Alkohol und schöne Frauen, 
Currywurst und Dosenbier, 
Fiesta de la noche, 
im nächsten Jahr sind wir wieder hier.  

Denn auswärts sind wir asozial. [...]

     [Killermichel: Auswärts sind wir asozial. 2016.]

Wenn Hooligans wie nun wieder in Marseille, Nizza und Lille Massenschlägereien herbeiführen, wird von Sportjournalisten regelmäßig betont, bei den Randalierern handle es sich keinesfalls um Fußballfans. Diese Aussage ist aus Sicht einer Branche strategisch sinnvoll, die ihre Aufgabe zunehmend darin sieht, das von ihnen präsentierte Produkt Fußball in Kooperation mit dem Veranstalter (die UEFA hat mittels Bildregie bei der Übertragung des Spiels England–Russland konsequent vermieden, dass der Blocksturm russischer Hooligans nach Spielende überhaupt zu sehen war, wogegen ARD und ZDF immerhin protestiert haben) möglichst effektiv zu vermarkten, aber deshalb ist sie noch lange nicht zutreffend. Auch wenn Etymologie Argumentation nicht ersetzen kann, sollte es doch misstrauisch stimmen, dass Fans, obwohl das Wort von „fanatic“ abgeleitet ist, gerade dann keine solchen mehr sein sollen, wenn sie sich als besonders fanatisch erweisen.

Von Hooliganismus spricht man in der Regel nur, wenn die Merkmale Fußball und Gewalt beide gleichermaßen als notwendige Bedingungen vorliegen. Um der Verbindung dieser beiden Aspekte nachzugehen, sollen nun eines der älteren Kult-Lieder der Hooligan-Szene, Fußball und Gewalt von den Böhsen Onkelz, sowie mit Auswärts sind wir asozial von Killermichel ein thematisch verwandtes aktuelles Lied, das aus dem Ballermann-Umfeld stammt und also eher den ‚normalen‘ Fan ansprechen soll, analysiert werden. In beiden Liedern wird gleich in der ersten Strophe deutlich, dass ein zusätzliches Element, das für die Verbindung von Fußball und Gewalt relevant zu sein scheint, der Alkoholkonsum darstellt. Sowohl bei Heimspielen, wie sie in Fußball in Gewalt besungen werden, als auch bei Auswärtsspielen wie im Killermichel-Lied wird schon vor dem Spiel getrunken. Dies wird bei den Böhsen Onkelz ausdrücklich als Vorbereitung auf das Geplante aufgefasst („Schnaps und Bier, wir machen uns bereit“), bei Killermichel sogar als Grund für das spätere gewalttätige Verhalten angeführt („Auswärts sind wir asozial, / denn wir saufen schon auf der Fahrt.“ [Hervorh. durch d. Verf.]).

Bemerkenswert ist ferner, dass sich Auswärts sind wir asozial, obwohl weder von Protagonisten der Hooliganszene verfasst und vorgetragen noch auf diese als Hauptzielgruppe zugeschnitten, hinsichtlich der Kriegsrhetorik kaum von genuinen Hooliganlied der Böhsen Onkelz unterscheidet. Dort werden „blutige Schlachten“ geschlagen, hier zieht man „ins Gefecht“. Dort macht man „alles [bzw. „alle“ im zweiten Refrain] platt“, hier wird die gegnerische „Stadt in Flammen“ gesetzt. In einem anderen Fußballied der Böhsen Onkelz von derselben indizierten Platte (Der nette Mann), Frankreich ‘84, wird der Besuch der Europameisterschaft (auch politisch provozierend) als „Frankreichüberfall“ apostrophiert. Der Krieg als Metapher für das eigene Tun, bei dem realiter zwar nicht ganze Städte in Flammen gesetzt, aber durchaus Innenstädte verwüstet werden (das Zusammenkehren der Scherben geworfener Flaschen fiel auch am vergangenen Wochenende wieder an), steht in einer Reihe von Übertragungen, die jeweils mit Eskalation einhergehen: Da wäre zunächst die Identifikation mit der eigenen Mannschaft, die auch in der gängigen Rede von den Fans als ‚zwölfter Mann‘ zum Ausdruck kommt. Doch zeigt sich bei Hooligans diese Identifikation – dies bildet die zweite Übertragung – eben nicht nur durch den Support während des Spiels („Wir steh’n in uns’rem Block / und singen uns’re Lieder“, „wir sind laut, ihr so leise“), sondern wird der Wettkampf auch unmittelbar danach in der ‚dritten Halbzeit‘ (in einem anderen beliebten Hooliganlied, Paul der Hooligan von den Broilers, wird die Titelfigur als „Held der dritten Halbzeit“ besungen) fortgesetzt: „Wir warten auf unsere Gegner. / Siege feiern können wir später.“ Die Hooligans agieren also aus ihrer Sicht selbst als Sportler, die für ihren Verein antreten.

Sogenannte ‚Ackermatches‘, bei denen sich verfeindete Hooligangruppen an einem neutralen und abgeschiedenen Ort zum Kampf verabreden, um der polizeilichen Überwachung zu entgehen, die als „blutige Schlachten im Wald“ besungen werden, bilden aus Hooligansicht nur eine Notlösung, das in den Strophen von Fußball und Gewalt geschilderte Ideal bleibt die enge zeitliche und räumliche Verbindung von beobachtetem Fußball und selbst als ‚Sport‘ betriebener Gewalt.

Hooliganismus stellt ein Phänomen dar, das fast ausschließlich im Kontext von Fußball zu beobachten ist. Neben der mittlerweile globalen Beliebtheit dieses Sports dürfte eine weitere Ursache dafür darin liegen, dass das Moment des Kriegerischen auch auf dem Spielfeld eine große Rolle spielt: Zwei Mannschaften, bestehend aus Männern (Hooliganismus findet meines Wissens nach nicht im Umfeld von Frauenfußballspielen statt), treten gegeneinander an, wobei sie das gegnerische Tor angreifen und das eigene verteidigen. Neben dieser abstrakten Ähnlichkeit, die sich auch im Sprechen über Fußball niederschlägt, findet Gewalt – anders als bei körperfernen Sportarten wie z.B. Volleyball – auch durchaus innerhalb des Spiels statt – vom noch regelkonformen Körpereinsatz („internationale Härte“) über das Foul bis zur Tätlichkeit und den ihr oft vorausgehenden archaisch anmutenden Ritualen der gegenseitigen Provokation (Kopf an Kopf-Stehen). Neben filigranen Ballkünstlern wie Maradona und Messi sind auch immer wieder besonders körperlich agierende Verteidiger (als jüngstes Beispiel Robert Huth von Leicester City) zu Fan-Idolen geworden. Und einige der zentralen Bildikonen des Fußballs bilden Gewaltakte oder deren Folgen ab: Ewald Lienens von Norbert Siegmann aufgeschlitzter Oberschenkel, Vinnie Jones‘ Griff ins Gemächt von Paul Gascoigne und vor allem natürlich Zinedine Zidanes Kopfstoß gegen Marco Materazzi, der mittlerweile von Abdel Abdessemed als Bronzestatue nachempfunden wurde. Dass sich Fußball als Inszenierung kriegerischer Auseinandersetzungen auffassen lässt, hat nicht zuletzt die Eröffnung des Champions-League-Finales 2013 in Wembley gezeigt, bei der beide Mannschaften von kämpfenden Rittergruppen dargestellt wurden. Im Idealfall kann das Spielen oder Zuschauen dabei als Surrogat für ernste Gewalt dienen. Und auch die Geschichte des Fußballspiels selbst von seinen regelarmen und extrem brutalen Vorläufern bis zur Gegenwart lässt sich als Zivilisationsprozess beschreiben – Spieler wie Uli Borowka würden heute regelmäßig kaum mehr als zehn Minuten auf dem Platz verbringen.

Das Gegenstück zur Vorstellung, die Rezeption inszenierter Gewalt könne die Ausübung realer ersetzen, bildet die, dass die Rezeption von Gewalthandlungen zur Nachahmung führt. Nun sind in der Medienwirkungsforschung deterministische Rezeptionsmodelle, die danach fragen, was Medien mit Menschen machen, mittlerweile abgelöst worden von stärker handlungsorientierten, die stattdessen untersuchen, was Menschen mit Medien machen. Und in diesem Sinne finden sich unter Fußballfans zweifellos Beispiele für beide Theorien: Für viele bildet der Besuch eines Fußballspiels ein Ventil, um aufgestaute Aggressionen in einer nicht sozial schädlichen Weise abzureagieren. Doch manche, wie die in den beiden Liedern beschriebenen Protagonisten, nutzen Fußball eben auch als Mittel, um sich in Stimmung zu bringen für ausgeübte Gewalt. Die kognitive Dissonanz, die diese Tatsache bei Menschen, die selbst Fußball mögen, aber Gewalt ablehnen, auslöst, muss man aushalten bzw. durch Erklärungen abbauen. Aber wie mit der eingangs zitierten Jounralistenformel, dass Hooligans keine Fans seien, schlicht zu leugnen, dass ein Zusammenhang zwischen Fußball und Gewalt existiert, ist nicht nur sachlich falsch, sondern verhindert auch ein Verständnis des Phänomens Hooliganismus. Und ein solches geht jedem erfolgversprechenden Umgang damit voraus: Nach den Hochzeiten des Hooliganismus in den 1980er Jahren waren es u.a. Fanprojekte, die dazu geführt haben, dass der Hooliganismus ein derartiges Randphänomen geworden ist, dass uns heute Bilder wie die aus Nizza, Marseille und Lille überhaupt überraschen.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Was Xavier Naidoo und die Böhsen Onkelz gemeinsam haben. Ein Vergleich von „Dieser Weg“ und „Wir bleiben“

Xavier Naidoo

Dieser Weg

Also ging ich diese Straße lang,
und die Straße führte zu mir.
Das Lied, das du am letzten Abend sangst,
spielte nun in mir.
Noch ein paar Schritte und dann war ich da
mit dem Schlüssel zu dieser Tür.

Dieser Weg wird kein leichter sein.
Dieser Weg wird steinig und schwer.
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein.
Doch dieses Leben bietet so viel mehr.

Es war nur ein kleiner Augenblick.
Einen Moment war ich nicht da.
Danach ging ich einen kleinen Schritt.
Und dann wurde es mir klar.

Dieser Weg wird kein leichter sein [...]

Manche treten dich.
Manche lieben dich.
Manche geben sich für dich auf.
Manche segnen dich.
Setz' dein Segel nicht,
wenn der Wind das Meer aufbraust.

Manche treten dich [...]

Dieser Weg wird kein leichter sein [...]

     [Xavier Naidoo: Dieser Weg. Naidoo Records 2005.]

Böhse Onkelz

Wir bleiben

Wir waren unsterblich, 
bis wir gestorben sind.
Doch wir glauben, dass die Zeit
wirklich alle Wunden heilt,

sagt der Geist, der stets verneint,
zum Sterben ist noch immer Zeit.
Das Leben, eine Unbekannte.
Schicksal, du böse Schlampe.

Weckt die Kinder auf!

Wir bleiben.
Wir bleiben und feiern das Leben
Räumt uns ein Zimmer frei
Macht Platz für eine neue Zeit
Wir bleiben
Wir bleiben – Und feiern das Leben
Lasst uns zusammen
Die Fahne in den Gipfel rammen

Neue Frucht am alten Baum,
lang genug gegeißelt,
wir wollten uns zurück,
jetzt wird’s in Stein gemeißelt.

Das Beste kommt zum Schluss,
wir werden singen und nicht weinen.
Wer so zurück kommt,
darf gerne bleiben.

Weckt die Kinder auf!

Wir bleiben [...]

     [Böhse Onkelz: Wir bleiben. V.I.E.R. 2015.]

Während der langen Durststrecke der deutschen Titellosigkeit beim Grand Prix Eurovision de la Chanson nach Nicoles Gewinn im Jahr 1982 empfahl die Fun-Metal-Band J.B.O., die deutschen Exporterfolge Nicole und Rammstein zu kombinieren und coverte Ein bißchen Frieden im Industrial-Metal-Stil. Nachdem die Zuständigen beim NDR es nach Jahren der Erfolglosigkeit in der Post-Raab-Ära diesmal wissen wollten und beschlossen hatten, dass Xavier Naidoo Deutschland (auf die BRD sollte man den Sänger bekanntlich nicht ansprechen) beim Eurovision Song Contest 2016 vertreten solle, wollte ich eigentlich an diesen Vorschlag erinnern. Weil Naidoo allein ja musikalisch eher den Nicole-Part vertritt, hätte man ihm (wie schon mit Kool Savas bei Xavas) jemand zur Seite stellen müssen, der etwas Aggressivität in die Sache bringt, ein klassisches Beauty & The Beast-Duett also. Und da die Kriterien der Verantwortlichen kommerzieller Erfolg und politisch fragwürdige Äußerungen in der Vergangenheit zu sein scheinen – wer hätte sich da eher angeboten als Kevin Russel, Sänger der Böhsen Onkelz, die mit ihrer Comeback-Single Wir bleiben immerhin auf Platz 4 der Charts eingestiegen sind. Nun wird es also nicht dazu kommen. Und dass die Böhsen Onkelz nun Gelegenheit bekommen, in Stockholm die deutsche Fahne ‚in den Gipfel zu rammen‘, ist wohl eher unwahrscheinlich.

Doch auch wenn dieser Auftritt nun nicht stattfinden wird, lohnt ein Vergleich zwischen zwei der seit Langem erfolgreichsten Vertreter des Genres der Lebenshilfemusik. Denn auch wenn die Fans beider sich musikalisch und im Outfit fern stehen mögen, so dürften nicht nur Naidoos Texte von seinen Fans zum ermutigenden Mood Management eingesetzt werden. Unter Onkelz-Liedern auf Youtube findet man fast immer schon in den ersten Kommentaren Bekenntnisse von Fans, die angeben, dass ihnen der jeweilige Song in einer bestimmten Krise geholfen habe, und die ausführen, die Band habe für jede Lebensituation das richtige Lied geschrieben.

Eine weitere Gemeinsamkeit neben diesem Rezeptionsmuster stellt das Konzept dar, mit dem sich beide als überaus erfolgreiche Mainstream-Musiker etabliert haben: Sie haben eine schon sehr erfolgreiche Musikrichtung mit breiter Käuferschaft (Soul bzw. Heavy Metal), innerhalb derer aber bis dahin fast ausschließlich englisch gesungen wurde, mit deutschen Texten kombiniert. Erfolgreiche Geschäftsmodelle zu identifizieren und so zu modifizieren, dass sie eine Marklücke füllen, stellt eine bekannte betriebswirtschaftliche Strategie dar.

Nun ist noch eine Gemeinsamkeit hinzugekommen: Das vermeintliche Außenseitertum, der Status als Opfer der ‚Lügenpresse‘, zu dem seine Fans nun umso fester stehen und dies durch den Besuch von Konzerten und den Kauf von Fan-Editionen der Alben und Merchandise unter Beweis stellen müssen.  Was für die Böhsen Onkelz die aus Sicht der Band irreführende MTVMasters-Sendung (die Reaktion darauf, Keine Amnestie für MTV, erreichte immerhin Platz 2 der Singlecharts) und für Frei.Wild die ECHO-Ausladung, das wird gerade für Xavier Naidoo dessen ESC-Denominierung. Ist ein Außenseiter-Image einmal erfolgreich etabliert worden, können ihm erfahrungsgemäß Fakten nichts mehr anhaben: Auch vier Nummer 1-Alben in Folge und hunderttausende Konzertbesucher hindern die „Nichten und Neffen“ der Böhsen Onkelz nicht daran, voller Inbrunst „Mit dieser Band hast du nicht viele Freunde / doch die, die du hast, teilen deine Träume“ (Danket dem Herrn) mitzusingen.

Wenn das anfängliche Alleinstellungsmerkmal beider die deutschsprachigen Texte waren, so kann angenommen werden, dass diese auch eine wichtige Rolle für ihren Erfolg gespielt haben und eventuell, ebenso wie beim betriebswirtschaftlichen Erfolgsmodell der Musiker, auch hier Ähnlichkeiten bestehen. Deshalb soll nun exemplarisch an der neuen Single der Böhsen Onkelz und an Xavier Naidoos Hit Dieser Weg analysiert werden, wie solche Texte rhetorisch funktionieren. Auf Formulierungsebene zeichnen sich beide Texte durch einen archaisierenden Grundton aus: Bei den Böhsen Onkelz tragen neben dem Mephisto-Zitat aus Goethes Faust I („der Geist, der stets verneint“) „Neue Frucht am alten Baum“, „gegeißelt“ und „in Stein gemeißelt“ dazu bei, bei Naidoo der manieristische Refrainanfang „Dieser Weg wird kein leichter sein“ (statt „Dieser Weg wird nicht leicht werden“), das Bild des ’steinigen‘ Weges und schließlich die aus der christlichen Tradition bekannte (vgl. u.a. Es kommt ein Schiff geladen) Segelschiffmetapher mit der sprachlich falschen Verwendung von „aufbrausen“ (statt „aufwühlen“ oder, dann ohne das Meer als Objekt, „brausen“).  Desweiteren werden in beiden Texten heroische Bilder evoziert: Bei den Böhsen Onkelz vor allem das zwischen Luis Trenker und Raising the Flag on Iwo Jima changierende der in den Gipfel gerammten Fahne, bei Xavier Naidoo das des Schiffs in Seenot. Insgesamt wird so eine pathetische Stimmung erzeugt, die die Texte durchzieht.

Doch was wird eigentlich so feierlich besungen? Diese Frage lässt sich rein textimmanent nur schwer beantworten, weil in beiden Texten in großem Umfang mit Leerstellen bzw. Aktualisierungsmöglichkeiten und Metaphern gearbeitet wird. Bei Dieser Weg bleibt nicht nur offen, um welchen Weg es sich handelt, sondern auch, wer das angesprochene Du sein soll und ob das Du, das in der ersten Strophe gesungen hat, auch das Du der Bridge („Manche treten dich […]“) ist. Bei Wir bleiben verhält es sich ähnlich. Wer ist dieses Wir? Wie wird die neue Zeit? Auf welchem Gipfel soll welche Fahne gehisst werden? An welchem alten Baum hängt welche neue Frucht? Und was wird in Stein gemeißelt?

Max Fellmann hat sich in seiner Charts-Kolumne im SZ-Magazin über die Inkohärenz der Metaphorik in Wir bleiben lustig gemacht und darauf hingewiesen, dass der Text so vage gehalten sei, „dass sich zwischen Früher-war-alles-besser und Es-muss-sich-endlich-was-ändern ziemlich alles hineininterpretieren lässt“ – auch, so Fellmanns Vorwurf, der Aufruf zu Aktionen gegen Flüchtlinge. Das entspricht zwar der Wahrheit, ist aber nur die halbe. Denn der Text lässt sich für die Fans sehr wohl eindeutig referenzialisieren. „Wir“ sind natürlich die Böhsen Onkelz selbst, erkennbar nicht nur am Selbstzitat „Wir waren unsterblich“, das sich auf den Heckscheibenklassiker „Helden leben lange, Legenden sterben nie“ bezieht, sondern auch daran, dass in ihren Texten mit „wir“ fast immer die Band selbst gemeint ist. Anschließend werden Auflösung und Reunion angesprochen, was in der Aufforderung an die Fans mündet, die neu erschienene Single („Neue Frucht am alten Baum“) zu kaufen, damit die Böhsen Onkelz endlich auch in den Single-Charts einen Nummer 1-Hit („Gipfel“) haben (genau in diesem Sinne hat offenbar auch der Autor der ‚Offiziellen Support Seite‘ www.weidnerwatchblog.de diesen Text verstanden).

Für die Eingeweihten bietet sich so einerseits die Möglichkeit, sich einmal mehr über die Unterstellungen der Journalisten zu empören; andererseits lässt sich das Lied durch seine offenen, interpretationsfähigen und -bedürftigen Formulierungen auch auf viele eigene Lebenssituationen beziehen und vermittelt so das Gefühl, von der Band und den übrigen Familienmitgliedern (den anderen ‚Nichten und Neffen‘) verstanden zu werden, nicht allein zu sein. Diese Wechselwirkung aus durch die textliche Offenheit provozierter ‚Fehllektüre‘ von Außenstehenden, die ein Zusammenstehen der Fangemeinschaft zur Verteidigung der Band (etwa mittels Kommentaren im Internet) nach sich zieht, einerseits und aus der ebenfalls durch eben jene Offenheit eröffneten Möglichkeit zur identifikatorischen Aneignung andererseits dürfte einen erheblichen Teil zum Erfolg der Band beitragen.

Auch Xavier Naidoos Dieser Weg lässt sich durch Kontextualisierung mit dem übrigen Werk Naidoos und seinen öffentlichen Äußerungen monosemieren: Der Text handelt von einem christlichen Erweckungserlebnis, der Weg ist der des aufrechten Christen in einer aus Sicht des Sprechers unchristlichen (d.h. bei Xavier Naidoo wohl: zu liberalen) Gesellschaft, der zwar nur von wenigen Rechtgläubigen mitbeschritten wird und schwer ist, aber zur Erlösung führt. Mit dem Du in der Bridge hingegen wird wohl Jesus angesprochen. Es handelt sich um ein Missionslied, das typische Elemente einer Missionspredigt beinhaltet: Bericht vom Erweckungserlebnis, der Selbstfindung des Predigers selbst, Ansprache des Zuhörers, Verdammung des sündigen Diesseits, Heroisierung des Festhaltens am Glauben, Versprechen von Belohnung. Doch auch Xavier Naidoos Text ermöglicht, kontextualisiert man ihn nicht mit dem übrigen Werk und seinen Äußerungen, andere Lesarten, indem eben weder Jesus genannt noch ausdrücklich eine Jenseitsvorstellung beschrieben wird. So lässt das Lied sich, ebenso wie das bei der Fußball-WM 2006 eingesetzte Was wir alleine nicht schaffen, als Motivationslied für beinahe jede Situation nutzen.

Martin Rehfeldt, Bamberg