Der Proletarier fliehe das Strumpfband! Bertolt Brechts „Ballade vom Förster und der Gräfin“ (1949)

Bertolt Brecht

Ballade vom Förster und der Gräfin 

Es lebt eine Gräfin in schwedischem Land
Die war ja so schön und so bleich.
„Herr Förster, Herr Förster, mein Strumpfband ist los
Es ist los, es ist los.
Förster, knie nieder und bind es mir gleich!“
 
„Frau Gräfin, Frau Gräfin, seht so mich nicht an
Ich diene Euch ja für mein Brot.
Eure Brüste sind weiß, doch das Handbeil ist kalt
Es ist kalt, es ist kalt.
Süß ist die Liebe, doch bitter der Tod.“
 
Der Förster, er floh in der selbigen Nacht.
Er ritt bis hinab zu der See.
Herr Schiffer, Herr Schiffer, nimm mich auf in dein Boot
In dein Boot, in dein Boot
Schiffer, ich muß bis ans Ende der See.
 
Es war eine Lieb zwischen Füchsin und Hahn
„Oh, Goldener, liebst du mich auch?“
Und fein war der Abend, doch dann kam die Früh
Kam die Früh, kam die Früh:
All seine Federn, sie hängen im Strauch.

     [Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte 5: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 209.]

Brechts Ballade vom Förster und der Gräfin hatte ihren ursprünglichen Platz in einem Theaterstück, nämlich in dem oft aufgeführten und beim Publikum wegen seiner deftigen Hauptfigur ausgesprochen beliebten Exildrama  Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940, UA am Schauspielhaus Zürich 1948). Dieses Schauspiel, das auf humoristischen finnischen Vorlagen von Hella Wuolijoki fußt, hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte, über die Jan Knopfs Brecht Handbuch (Band 1, Stücke, 2001, S. 440 ff.) detailliert Auskunft gibt. So erarbeitete Brecht im Laufe eines Jahrzehnts von 1940 bis 1950 für diverse Anlässe vier mehr oder weniger unterschiedliche Theater- bzw. Druckfassungen. Unser Lied entstand im Zuge dieser Entwicklung 1949 für die Ostberliner Premiere des Stücks am Berliner Ensemble und ersetzte von da an die Vorgängervariante, das Lied vom Wolf und vom Huhn.

Die Försterballade artikuliert am Schluss der opulenten 9. Szene des Stücks (scheiternde Verlobungsfeier mit sog. ,Ehe-Examen‘) ein kapitalismuskritisches Fazit, das Brecht dem Kommunisten Surkkala in den Mund legt: Arm und Reich, Herr und Knecht passen nicht zusammen. Selbst wenn es zwischen einzelnen Angehörigen der antagonistischen Sozialschichten im Ausnahmefall ein wenig ,menscheln‘ sollte, z.B. unter erhöhtem Alkohol- oder Hormoneinfluss, sei keine dauerhafte Versöhnung der Klassen denkbar.

Das Lied ist in der großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Brechtschen Werke zweimal abgedruckt – einmal im Rahmen des Puntila-Dramas, dann aber auch als Einzeltext im Bande der Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956, der hier zitiert wird. Paul Dessau hatte die Melodie des Lieds ursprünglich in enger Anlehnung an eine schottische Seeräuberballade (Henry Martin) für eine männliche Stimme komponiert. Inzwischen hat es sich freilich auch längst als Chanson verselbständigt und gehört zum Repertoire berühmter Brecht-Interpretinnen wie Meret Becker und Nina Hagen, deren großartige Performance in dem hier ausgewählten Video zu bewundern ist.

Die Försterballade besteht  aus vier weitgehend gleichgebauten Strophen zu je fünf Versen. Formal fallen dabei besonders die Endreime der Verse 2 und 5 auf sowie die dreifach wiederholten Phrasen in den jeweils dritten und vierten Versen der einzelnen Strophen. Auf kleinere Parallelen bzw. Unterschiede im Satzbau gehe ich jetzt nicht ein. Inhaltlich bilden die ersten drei Strophen eine Einheit, indem sie ein dramatisches Geschehen – teils erzählend, teils in wörtlicher Rede – wiedergeben, bei dem es offensichtlich um eine Liebe auf Leben und Tod geht. Literaturtheoretisch-generisch präsentiert uns Brecht hier eine ,Kunstballade‘ im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne, d.h. ein singbares Erzählgedicht, das eine Handlung zu Schlüsselszenen verdichtet präsentiert, auf eine Pointe zuläuft und eine implizierte Botschaft bzw. ,Lehre‘ transportiert, die vom verständigen Leser selbständig zu erschließen ist.1 Der Erzähler siedelt die Geschichte in „schwedischem Land“ an; ob in Schweden selbst oder einem von schwedischen Truppen in Besitz genommenen Landstrich entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin verleiht die geographische Lokalisierung der Begebenheit eine gewisse Glaubwürdigkeit.

In der ersten Strophe macht eine schöne und vornehme2 Gräfin einem Förster, der, wie sich bald herausstellen wird, für sie arbeitet, erotische Avancen. Mit der Aufforderung, ihr Strumpfband zu binden, lädt sie ihn zum Eintritt in ihre Intimdistanz ein, zu der im nord- bzw. mitteleuropäischen Kulturkreis aber nur engste Bezugspersonen zugelassen sind. Besonders kritisch stellt sich eine solche ,Verletzung‘ der körperlichen Schutzzone dar, wenn die Beteiligten unterschiedlichen sozialen Ständen und Geschlechtern angehören. Würde sich in unserem Fall der Förster auf das Angebot seiner Arbeitgeberin einlassen und fände die Szene einen Beobachter, könnte das Abenteuer leicht tödlich für ihn ausgehen, zumal es für sie relativ leicht wäre, den Skandal von sich abzuwenden, indem sie ihn der Übergriffigkeit beschuldigte.   

Strophe zwei macht klar, dass dem Förster die Risiken eines ständeübergreifenden Techtelmechtels nur allzu klar sind. Der Hinweis auf das „Handbeil“ ist eindeutig: Vielleicht nimmt er damit Bezug auf das bekannte tragische Schicksal des Aufklärers Johann Friedrich Struensee, dem sein Verhältnis zur dänischen Königin 1772 den Richtblock eingetragen hat.3 Umgehend ergreift der Förster die Flucht, wovon die nächste, die dritte Strophe berichtet. Vorsichtig, wie er ist, verdrückt er sich – offenbar den Zorn der verschmähten Gräfin fürchtend – nicht bloß in ein Nachbardorf, sondern legt so viel Wasser zwischen sich und das vermaledeite Strumpfband, wie es nur eben geht.  Diese Vorsicht scheint durchaus gerechtfertigt, sintemal der Trojanische Krieg – so berichtet es wenigstens Victor Hugo – wegen nichts anderem als Helenas Strumpfband, einer modischen Weiterentwicklung des Gürtels der Aphrodite (στρόφιον), entbrannt ist …

Damit wäre die Balladen-Erzählung komplett, die Flucht des Försters könnte als Pointe durchgewinkt werden und eine Lehre, wenn auch keine besonders überraschende, wäre aus ihr auch abzuleiten: dass es nämlich eher nicht ratsam ist, bei der Partnerwahl die Grenzen des eigenen Standes zu überschreiten. Im feudalistischen Kontext konnte eine Verletzung dieser Regel mitunter lebensgefährlich sein, aber der dramatische Kontext des Puntila suggeriert die Gültigkeit besagter Weisheit auch noch für den Kapitalismus. Bevor wir hierüber ins Grübeln kommen, uns womöglich an das große Versprechen des American Dream und Filme wie Pretty Woman oder Forrest Gump erinnern, schieben Brecht bzw. Surkkala noch schnell eine Liedstrophe nach, die nun keine Ballade mehr ist, sondern eine Fabel und ihre Moral demzufolge auch nicht verrätselt, sondern ziemlich platt expliziert: Die Füchsin umschmeichelt den arglosen Gockel, um ihn aufzufressen. Damit sind innerfiktional alle Unklarheiten beseitigt;  die ,Sägemehlprinzessin‘4 hat die von ihrem Vater gewünschte Verlobung mit Matti schon vorher abgesagt. Nach dem Lied verabschiedet sich auch Urviech Puntila von seiner fixen Idee einer klassenübergreifenden Verbindung und sein Chauffeur tanzt mit dem Stubenmädchen Fina aus dem Bild.

Unzufrieden bleiben allenfalls Zuschauer wie ich, denen es mit der kapitalismuskritischen Indoktrination einfach ein bisschen zu wild wird: Man hat ja kapiert und akzeptiert, dass das Stück eine kapitalismuskritische Aussage unters Volk bringen will. Es ist einfach genug gebaut und hinreichend klar strukturiert, damit ein Publikum bei leidlichem Verstand dieses Anliegen nachvollziehen kann. Mit dem guten Willen, den man als Theaterbesucher ja immer mitbringen muss, sieht man auch noch ein, dass Brecht für spezielle Teile des Publikums, die gerade ein Nickerchen gemacht haben, oder aber – ganz im Gegenteil – hellwach und argwöhnisch als Spitzel der Kulturbürokratie auf ideologische Missgriffe lauern, noch schnell eine Ballade einschiebt, um auf Nummer Sicher zu gehen. Aber – um Himmels willen! – warum lässt er’s damit nicht genug sein, sondern setzt noch mal eine Fabel mit derselben Botschaft obendrauf? Will er so demonstrieren, für wie begriffsstutzig oder literaturfremd er sein Publikum hält, speziell jenes, das sich 1949 zur Premierenfeier des Berliner Ensembles zusammenfinden würde?

Ich weiß es nicht. Und je länger ich über den Fall nachsinne, umso mehr Details stoßen mir auf, die unlogisch scheinen und sich mit der Ideologie des Stückes nicht so recht vertragen wollen: Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, wird im sog. Eheexamen die Tochter des Gutsbesitzers daraufhin geprüft, ob sie eine ordentliche Proletariersgattin abgeben könnte, und nicht Matti, ob er sich gegebenenfalls in die Rolle eines reichen Mannes schicken könnte? Denn genau letzteres steht doch zur Debatte: Als Evas Mann würde er zum Großgrundbesitzer aufsteigen und seine Gattin bräuchte weder Socken zu stopfen noch sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oft der Mensch hintereinander Hering verträgt. Beim umgekehrten und d.h. in diesem Fall angemessenen Eheexamen würde sich vermutlich schnell zeigen, dass Matti keine großen Schwierigkeiten damit hätte, den reichen Herrn zu geben, und auch seine vorgeblich ach so strenge Mutter würde, so jedenfalls meine Prognose, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fix ans Wohlleben gewöhnen, den einen oder anderen Gänsebraten nicht verschmähen und die Wäsche vom Personal besorgen lassen. Andererseits hätte der gelernte Chauffeur erst noch zu beweisen, ob er einen größeren Betrieb organisieren und beim Holzhandel ordentliche Preise herausschlagen könnte …

Verlassen wir aber diesen Gedankengang, der zum Verständnis unserer Försterballade nichts beiträgt, die im Kontext des Puntila vielleicht die eine oder andere Irritation auslöst, als Chanson aber unsere Bewunderung verdient!

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Fußnoten:

1) Vgl. Hartmut Laufhütte, 1979.

2) Vgl. ihr ,adelige Blässe‘.

3) Brecht war Struensees Biographie höchstwahrscheinlich aus Theaterstücken und Filmen vertraut.

4) Titel eines Lustspiels von Hella Wuolijoki, das Brecht als Vorlage diente.

Literatur:

Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hrsg. von Jan Knopf. Band 1, Stücke. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001.

Hans-Peter Ecker: Dreifaches Bekenntnis […]. In: „… vollens ganz zum Bolschewisten geworden …“? Die Räterepublik 1919 in der Wahrnehmung Bertolt Brechts. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Jürgen Hillesheim und Karl-Georg Pfändtner. Augsburg: Wißner, 2019, S. 142 f.

Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York: Garden City, 1966.

Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter, 1979.

Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull: Musik bei Brecht: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

Hart an der Grenze: Esther Ofarim singt „Ich schau ins Licht“ von Eberhard Schoener (1981)

Eberhard Schoener

Ich schau ins Licht

Ich schau ins Licht
Ich spür die Sonne
Ich fühl Deinen Schatten
Und empfinde Trauer
Ohne ein Wort
An einem Tag
Wie heute
Es ist die Zeit,
Die mich verwirrt,
Die mir kein‘ Atem lässt

Ich schau ins Licht
Ich fühle Dich
Ich spür deinen Atem
Und empfinde Sehnsucht
Ohne ein Wort
An einem Tag
Wie heute
Es ist die Zeit,
Die mich verwirrt,
Die mir kein' Atem lässt

Ich schau Dich an
Berühre Dich
Spür deine Nähe
Und fühl mich frei
Ohne ein Wort
Denn Du bist da
Es war die Zeit,
Die mich verwirrt,
Die mir kein‘ Atem ließ

     [Eberhard Schöner: Time Square. Harvest 1981; Text nach www.esther-ofarim.de; 
     zwei Eingriffe von mir: ich habe das Wort „kein“ in den letzten Verszeilen 
     jeweils mit einem Apostroph versehen und im allerletzten Vers „liess“ durch 
     „ließ“ ersetzt.]

Der 1938 in Stuttgart geborene Dirigent und Komponist Eberhard Schoener nahm 1981 die LP Time Square auf, worauf einige Lieder von Esther Ofarim gesungen werden. Schöner kommt von der klassischen Musik, arbeitete dann aber seit den 1970er Jahren daran, diese mit Rock, Pop und sog. ,Weltmusik‘ zu verbinden. Das oben abgedruckte Lied war mir bis heute unbekannt; ich stieß darauf, als ich versuchte, etwas von Esther und Abi Ofarim für dieses Blog zu finden.

Das Lied besteht aus drei Versblöcken zu zehn bzw. neun Versen; die letzten drei Verse jeder Gruppe bilden eine Art Refrain, wobei dieser Begriff nur eingeschränkt gilt, weil sich die Schlusszeilen zwar in den beiden ersten Versgruppen gleichen, in der dritten aber einen Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum aufweisen: Statt „ist“ heißt es da „war“ und statt „lässt“ lautet das letzte Wort des Songs „ließ“. Die einzelnen Verse sind kurz, der Dichter (ebenfalls Eberhard Schoener) benutzt einfache Worte und Satzstrukturen. Man merkt schnell, dass es bei diesem Text darauf ankommt, genau darauf zu achten, wie sich bestimmte Details von Strophe zu Strophe verändern  – oder auch nicht.

Nun gibt es in diesem Lied auch einen ,echten‘ Refrain-Vers, nämlich den fünften: „Ohne ein Wort“. Diese Wortfolge ist nicht nur durch ihre durchgängige Präsenz hervorgehoben, sondern auch durch ihre Mittelstellung in jedem Versblock. Im Gedicht geht es – meiner Meinung nach – um eine ganz besondere Form von Kommunikation zwischen der Sprecherinstanz und ihrem Adressaten: Die Mittelzeile expliziert, dass diese Form von Kommunikation nonverbal erfolgt bzw. erfolgen muss. Nach dem Lesen bzw. Hören des dritten und vierten Verses der ersten Strophe können wir aufgrund der Stichworte „Schatten“ und „Trauer“ den Grund dafür schon ahnen; das Ich steht allein in der Sonne des Tages und ist mit seinen Gedanken beim verstorbenen Partner, dessen „Schatten“ es zu fühlen glaubt. Man kann den gefühlten „Schatten“ hier auch metaphorisch nehmen, und zwar in dem Sinne, dass der Verlust dem Ich den objektiv sonnigen Tag ,verschattet‘. Die Begriffe ,Schatten‘ und ‚Trauer‘ sind in unserer kulturellen Tradition so eng mit dem Tod verknüpft, dass ich die Interpretationsmöglichkeit, unser Ich sei von einem untreuen Partner verlassen worden, faktisch ausschließen möchte.

Nach der Refrainzeile folgen zwei Verse, die zusammen gehören, aber keinen vollständigen Satz ergeben: „An einem Tag / Wie heute“. Ich betrachte diese Verse als Anfang eines Satzes, der nicht zu Ende geführt wird; die in der Alltagssprache an dieser Stelle üblichen drei Auslassungs-Pünktchen hat der Dichter weggelassen. Dieser Ansatz einer Aussage lässt erkennen, wie die Gedanken der Sprecherinstanz in die Vergangenheit wandern, zu dem geliebten Partner, in jene Zeit, als der noch selbst unter der Sonne leben durfte. Mit den drei Schlussversen der ersten Versgruppe findet das Ich zögernd in die Gegenwart zurück. Es bemerkt seine Verwirrung und sucht dafür den Grund:

Es ist die Zeit,
Die mich verwirrt,
Die mir kein‘ Atem lässt

Was ungefähr gemeint ist, scheint mir klar: Das Ich hat sich irgendwo zwischen glücklicher Vergangenheit und trauriger Gegenwart verloren und keinen Ort im Leben, keinen Ort zur Besinnung, zum Durchatmen gefunden. (Für diese Deutung musste ich in meinem Quellentext einen kleinen Eingriff vornehmen, nämlich hinter „kein“ ein Apostroph einfügen, um es als „keinen“ lesen zu können; ohne die Möglichkeit, „Atem“ als Akkusativ aufzufassen, wäre mir der Sinn dieser Verse kaum verstehbar erschienen.)

Auch die zweite Strophe beginnt mit jenem Vers, der auch im Titel des Songs steht: „Ich schau ins Licht“. Wie im ersten Versblock verwendet der Dichter nicht das im Deutschen üblichere Wort „sehen“, sondern das Verb „schauen“, das in Süddeutschland zwar als Synonym für „sehen“ gebraucht wird, in der religiösen und dichterischen Hochsprache aber eine intensivere, tendenziell visionäre Form visueller Wahrnehmung bezeichnet. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in unserem Text um eine solche Art von Sehen geht, zumal „ins Licht“ geschaut wird. Wenn Menschen direkt in grelles Licht schauen, werden sie üblicherweise zuerst einmal blind oder sehen irgendwelche Farbreflexe, weshalb Augenärzte auch davon abraten, in helle Lampen oder sogar die Sonne selbst zu blicken. Im poetischen Kontext ist es aber durchaus denkbar, dass gerade blinde Menschen (Seher, die z. B. das Göttliche erblickt haben und dabei erblindet sind) Dinge sehen, die Normalsterbliche nicht wahrnehmen können. Ein bisschen von solchen Erfahrungen und Kompetenzen schwingt womöglich in unserem Lied mit.

Ich habe mir eingangs vorgenommen, bei diesem Text ganz genau zu vergleichen, was sich von Versblock zu Versblock verändert. Nachdem der erste Vers unverändert übernommen wird, vertauschen die Folgezeilen die sensorischen Verben des Fühlens und Spürens; wichtiger aber ist gewiss, dass nun das Du anstelle der Sonne und einer vagen Schattenempfindung (= ,Nicht-Sonne‘, vager Hinweis auf das Du) zum Objekt der Wahrnehmung wird. Dass die Sprecherinstanz, jeweils Ausgangspunkt der drei ersten Verse („Ich“ – „Ich“ – „Ich“), bereits den Atem ihres Partners zu spüren glaubt, heißt, dass sie in ihrer Imagination den Geliebten (den ich mir jetzt als Mann denke, weil ich Esther Ofarims Stimme im Ohr habe) schon mit einer zentralen Lebensregung ausgestattet hat. Statt „Trauer“ (Str. 1, V. 4) empfindet sie nun (2,4) „Sehnsucht“. Das ,Du‘ ist in diesen Versen der zweiten Strophe wesentlich präsenter als in der kaum merklichen Sensation der Abschattung der Sonne in der ersten. Alle folgenden Verse dieses zweiten Versblocks sind uns schon bekannt, ihr Sinn hat sich nicht verändert.

Mit dem dritten Versblock erreicht der Prozess der Vergegenwärtigung des verstorbenen Partners seinen Abschluss und seine Vollendung. Das Sprecher-Ich kann nun ihn selbst, der ja offenbar das ,Licht‘ ihres Lebens gewesen ist, schauen, ja sogar ,berühren‘. Nun fühlt sie sich „frei“, wozu es (immer noch) kein Wort braucht. Welcher Art diese ,Freiheit‘ sein könnte, deutet das Ende des Lieds an. Da die Bezugsperson wieder da ist, endet auch die Verwirrung des Sprecher-Ich: Die Desorientierung kann einer bösen, glücklicherweise vergangenen „Zeit“ zugewiesen werden. Aus der subjektiven Perspektive des Sprecher-Ichs liegt ein Happy End vor. Als Außenstehender darf man die Freude teilen, muss sich aber auch fragen, wie jenes Glücksgefühl des Sprecher-Ichs zustande gekommen ist: Hat es  jeglichen Realitätsbezug verloren und ist über den erlittenen Verlust wahnsinnig geworden? Steht es unter Drogen? Oder stirbt es gerade, so dass das intensiv geschaute „Licht“ nichts anderes als jener leuchtende Tunnel ist, von dem in so vielen Todeserfahrungen (vgl. Wikipedia) immer wieder die Rede ist?

Hans-Peter Ecker, Bamberg