Vom Kriegs- zum Wanderlied. Zur Entstehung und Rezeption von Albert Methfessels „Hinaus in die Ferne“
6. Januar 2014 2 Kommentare
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Albert Methfessel Hinaus in die Ferne Hinaus in die Ferne mit lautem Hörnerklang, die Stimmen erhebet zum männlichen [mächtigen] Gesang. Der Freiheit Hauch weht kräftig durch die Welt, ein freies, frohes Leben uns wohl gefällt. Wir halten zusammen, wie treue Brüder tun, wenn Tod uns umtobet und wenn die Waffen ruh'n. Uns alle treibt ein reiner, freier Sinn, nach einem Ziele streben wir alle hin! Der Hauptmann, er lebe! Er geht uns kühn voran. Wir folgen ihm mutig auf blut’ger Siegesbahn. Er führt uns jetzt zu Kampf und Sieg hinaus. Er führt uns einst, ihr Brüder, ins Vaterhaus. Wer wollte wohl zittern vor Tod und Gefahr? Vor Feigheit und Schande erbleichet unsere Schar. Und wer den Tod im heil'gen Kampfe fand ruht auch in fremder Erde im Vaterland.
Denkt man zunächst an ein Wanderlied, so wird einem spätestens in der dritten Strophe klar: Es geht in den Krieg. Der Komponist und Dirigent Albert Methfessel (1785-1869) verfasste dieses Marschlied 1813 in Rudolstadt (Thüringen). In diesem Jahr hatten in Deutschland die Befreiungskriege gegen die Herrschaft Napoleons begonnen. Zusätzlich zu den bestehenden Heeren wurden Freiwillige aufgerufen, sich zum „Freiheitskampf“ zu melden. Methfessel, der zu jener Zeit Hof- und Kammersänger war, leistete mit dem Lied einen musikalischen Beitrag für das Freicorps, das im damaligen Fürstentum Schwarzberg-Rudolstadt aufgestellt wurde.
Es ist die Zeit der Erhebung gegen Napoleon und zugleich die der Kriegsgedichte und -lieder. Theodor Körner, der spätere Adjutant Lützows (Kommandant des Freicorps „Schwarze Jäger“), schrieb mit 22 Jahren 1813 sein Gebet vor der Schlacht und das bekannt gewordene Lied Lützows wilde, verwegene Jagd (Text hier); beide Gedichte wurden von Karl Maria von Weber vertont. Bereits 1812 hatte Ernst Moritz Arndt‚ „der bedeutendste Lyriker der Epoche der Freiheitskriege“, sein Vaterlandslied („Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte…“) geschrieben (Text hier), das von Methfessel vertont wurde. Es ist anzunehmen, dass das Vaterlandslied ihn zum Text von Hinaus in die Ferne inspirierte.
Passend zur beabsichtigten Wirkung des Methfessel’schen Liedes klingt die erste Zeile wie ein Trompetensignal. Zuhörer und Sänger werden aufgefordert, dem Signal zu folgen und – euphemistisch ausgedrückt – „in die Ferne“, tatsächlich in den Krieg zu ziehen. Beschwingt geht die Melodie weiter; im 4/4-Takt ließ sich gut danach marschieren, und außerdem ist „der Freiheit Hauch“ zu spüren. Beschworen wird der Zusammenhalt, vor allem „wenn der Tod uns umtobet“ [Hervorh. durch d. Verf.]. Hier ist noch keine Rede davon, dass es auch die Sänger selbst treffen kann. Es kommt darauf an, dem kühnen Hauptmann, der die Soldaten zum Sieg führt, in den Kampf zu folgen (hier wird das nazistische „Führer befiehl! Wir folgen dir“! [Von Finnland bis zum Schwarzen Meer] vorweg genommen). So stimmungsvoll und aufrüttelnd die ersten drei Strophen daherkommen, in der 4. und letzten wird es ernst. „Tod und Gefahr“ sind allgegenwärtig, und wer den Tod findet „im heil’gen Kampf“, dem wird – und Methfessel meint es ernst – Trost gespendet: „Auch in fremder Erde [ruht er] im Vaterland“. Eine Trostvariante, die an Ernst Moritz Arndts Gedicht Vaterlandslied erinnert, in dem es in der letzten Strophe heißt: „Wir siegen oder sterben hier / den süßen Tod der Freien“. Und im NS-Lied Ob’s stürmt oder schneit (sog. Panzerlied) heißt es in der dritten Strophe: „Was gilt denn unser Leben / für unsres Reiches Wehr? / Für Deutschland zu sterben, / ist unsre höchste Ehr’.“ Kriegspropaganda 1813 und 1935.
Beliebte Lieder, vor allem die mit eingängigen Melodien, werden häufig umgedichtet, geändert oder parodiert. Auch der Melodie von Hinaus in die Ferne wurde ein anderer Text unterlegt. Von den vielen zum großen Teil heute nicht mehr bekannten Umdichtungen werden hier nur einige erwähnt.
Von Chr. Blickhart stammt der Text des Turnerlieds Hinaus in weite Ferne, an Wald und Flur entlang (1860). Und mit dem Erfolg der Turnerbewegung entstehen weitere Turnerlieder. So dichtet 1865 ein unbekannter Verfasser Turners Wanderlust, endend mit den Zeilen „Die Freiheit sei stets unser Feldgeschrei / und unser Wahlspruch bleibe: frisch, fromm und frei.“ Ein weiteres Turnerlied, das zum Wandern auffordert, stammt aus der Feder von Ernst Klaar Hinaus, freie Turner, hinaus ins grüne Feld (1908). Die parodistische Strophe „Hinaus in die Ferne mit Butterbrot und Speck“, die vermutlich aus Kreisen der Burschenschafter stammt, wurde in den 1950er und 60er Jahren auf Klassenausflügen gern gesungen:
Hinaus in die Ferne
Mit Butterbrot und Speck.
Das mag ich ja so gerne,
Das nimmt mir keiner weg.
Und wer das tut,
Dem hau‘ ich auf die Schnut’,
Dem hau‘ ich auf die Nase,
Dass sie blut‘.
Der Originaltext von Methfessel wurde nach seiner Veröffentlichung als Beilage der Zeitung für die elegante Welt (Leipzig, 31. März 1814) im 19. Jahrhundert in zahlreiche Gebrauchsliederbücher aufgenommen. Seine Popularität setzte sich im 20. Jahrhundert fort, nachdem es von der Jugendbewegung als Wanderlied rezipiert wurde.
Nach Beendigung des Ersten Weltkriegs erlebt das Lied einen weiteren Rezeptionshöhepunkt. Erstaunlicherweise findet es sich mit allen vier Strophen auch in Liederbüchern der Arbeiterturnjugend, der Pfadfinder, der „Christlichen Männerjugend“ und der Gewerkschaftsjugend. Hier, wie in der Rezeption durch die Jugendbewegung, scheint sich die Auffassung des Musikwissenschaftlers Heinrich Lindlar zu bewahrheiten, nach der die Melodie oft wichtiger als der Text ist (vgl. Heinrich Lindlar in: Meyers Handbuch über die Musik. Mannheim: Verlag Bibliographisches Institut 1972, S. 222).
Dagegen verwundert es nicht, dass die vier Strophen in deutschnationalen, deutsch-völkischen, in SA- und in soldatischen Liederbüchern weite Verbreitung fanden. Auch Schulbücher und studentische Liederbücher haben das Lied aufgenommen. Wie populär es war, zeigt sich auch darin, dass allein bis 1933 sieben Bücher mit dem Lied im Titel erschienen (sogenannte Verselbständigung des Incipits), darunter vier für Wanderer und das 1943 in der 1. und 1962 in der 4. Auflage erschienene Hinaus in die Ferne mit Butterbrot und Speck. Die schönsten Parodien von Goethe bis George von Ernst Heimeran.
Nach 1945 erscheinen nur wenige Liederbücher mit dem Lied, darunter einige für Wanderer, andere mit dem Begriff Heimat im Titel. Im Liederbuch mit der stärksten Auflage in Deutschland, in der Mundorgel, (11 Millionen Textauflage) ist Hinaus in die Ferne nicht vertreten. Vereinzelt wurde und wird es nach wie vor von Männer- und Kinderchören gesungen, überwiegend ohne die beiden letzten Strophen. Betrachtet man jedoch die beachtliche Zahl von Tonträgern mit dem Lied (vgl. Deutsches Musikarchiv, Hinaus in die Ferne, Nr. 1 bis 126), so wurde und wird es weiterhin gern gehört. Zumindest von denen, die früher Tony Marshall oder die Melodie mit dem Sound von James Last, Max Greger und anderen mochten und heute Ernst Mosch und seine Egerländer Musikanten mögen.
Georg Nagel, Hamburg