Höhenflüge im Irrealis. Gedanken zum Volkslied „Wär ich ein wilder Falke“
26. Oktober 2021 Hinterlasse einen Kommentar
Anonym Wär ich ein wilder Falke Wär ich ein wilder Falke, ich wollt mich schwingen auf, und wollt mich niederlassen vor eines Grafen Haus. Und wollt mit starkem Flügel da schlagen an Liebchens Tür, dass springen sollt der Riegel, mein Liebchen trät herfür. „Hörst du die Schlüssel klingen? Dein Mutter ist nicht weit, so zieh mit mir von hinnen wohl über die Heide breit!" Und wollt in ihrem Nacken die goldnen Flechten schön mit wildem Schnabel packen, sie tragen zu dieser Höhn. Jawohl, zu dieser Höhen, hier wär ein schönes Nest, wie ist mir doch geschehen, dass ich gesetzet fest! Ja, trüg ich sie im Fluge, mich schöss der Graf nicht tot, sein Töchterlein, zum Fluche, das fiele sich ja tot. So aber sind die Schwingen mir allesamt gelähmt, wie hell ich ihr auch singe, mein Lieb sich meiner schämt.
„Wenn ich ein Vöglein wär / […] / flög ich zu dir“ heißt es in einem bekannten Volkslied. Noch weiter ausgeführt wird dieses Gedankenspiel in einem anderen Text, in dessen Mittelpunkt ein größerer und kräftigerer Vogel steht – ein Falke.
Das Lied ist in zwei Versionen überliefert. Wenn wir diejenige beiseitelassen, in der konkrete Personen- und Ortsnamen genannt werden, und uns auf den obigen Text konzentrieren (eine weitere, in einigen Details abweichende Version findet sich unter dem Titel Der Falke in Des Knaben Wunderhorn), sind verschiedene Ansätze der Betrachtung möglich.
Auf der sprachlichen Ebene fällt zunächst einmal der fast durchgängige Gebrauch des Konjunktiv II in der Funktion des Irrealis auf; wir haben es hier größtenteils mit kontrafaktischen Sätzen zu tun, deren Nachsatz wahr wäre, wenn der Vorsatz wahr wäre. Das bereits erwähnte Lied Wenn ich ein Vöglein wär beginnt mit der gleichen Konstruktion und wechselt dann schnell in den Indikativ. In Wär ich ein wilder Falke handelt es sich bei den Ausnahmen vom Konjunktiv um wörtliche Rede (dritte Strophe), um eine Reflexion des Sprechers über das Sesshaftwerden als Abschied von der Freiheit (fünfte Strophe, zweiter Vers) und um das ernüchterte Erwachen aus der Träumerei (letzte Strophe).
Wer sind die handelnden Personen? Das Sprecher-Ich müssen wir uns wohl männlich denken und es schreitet ohne Zögern zur Tat, sein Flügel in Vogelgestalt ist „stark“, sein Schnabel „wild“. Sein „Liebchen“ ist weiblich, die Tochter eines Grafen. Die Frau verhält sich in dieser erträumten Geschichte eher passiv, sie lässt sich hinwegtragen, wird ihrem Vater geraubt wie ein kostbares Gut. Jedoch scheint sie einverstanden mit der Entführung, da sie ihrem Verehrer auf sein Klopfen hin die Tür öffnet. Außerdem wird als weitere weibliche Figur die Mutter genannt, die die hörbar „klingenden“ Schlüssel als Hausherrin und somit als Respektsperson ausweisen. Sie könnte das Entweichen des Liebespaars verhindern, wenn die beiden nicht schnell das Weite suchen.
Über den sozialen Stand des Sprechers erfahren wir nichts. Wahrscheinlich ist aber, dass er unter der von ihm angebeteten Grafentochter steht, da dies den Traditionen der höfischen Liebe entspricht (das am Schluss erwähnte Singen für die Geliebte lässt an die provenzalischen Trobadors bzw. an den Minnesang denken).
Der Falke, in dessen Gefieder der schwärmende Sänger versuchsweise schlüpft, wirkt in anatomischer Hinsicht recht merkwürdig. Mit dem Flügel anzuklopfen wäre für einen Vogel vermutlich eher unpraktisch, hierfür besser geeignet ist der Schnabel. Mit diesem trägt der Falke in unserem Text seine Geliebte fort, indem er ihre Haare packt – echte Falken halten ihre Beute jedoch mit den Krallen fest und nutzen den Schnabel nur kurz, um das jeweilige Tier zu töten („Bisstöter“). Davon einmal abgesehen wird ein männlicher Falke mit einem Eigengewicht von 550 bis 700 Gramm (Weibchen werden deutlich schwerer!) wohl kaum in der Lage sein, einen Menschen davonzutragen.
Als Wirt für einen imaginierten Körperwechsel bietet sich der Falke aufgrund seiner symbolischen Bedeutung dennoch an. Er steht allgemein für das Sonnenhafte, Majestätische und Himmlische, für Königswürde, Jagd, Sieg, reine und lustbetonte Minne, Überlegenheit und Freiheit. Zu den ihm zugeschriebenen Charaktereigenschaften gehören Draufgängertum, Gewandheit, Freiheitsdrang, Tapferkeit und edle Gesinnung. Eine zentrale Rolle spielt der beim Adel beliebte Jagdvogel im Falkenlied des Kürenbergers, entstanden um 1155. Hierbei handelt es sich um einen Text aus der Anfangszeit des deutschen Minnesangs, also der literarischen Tradition, in der auch unser Text steht.
Um 1160 sind die mit Einschränkung als höfisch einzuordnenden Lais von Marie de France entstanden, verfasst im anglonormannischen Dialekt, sehr wahrscheinlich im damals unter französischer Vorherrschaft stehenden England. In einer der zwölf Geschichten wird ebenfalls die Metamorphose eines Menschen in einen Raubvogel geschildert, nämlich im 558 Verse langen Yonec. Die weibliche Hauptperson ist hier eine unglücklich verheiratete junge Frau, die von ihrem wesentlich älteren Ehemann in einem Turm gesperrt wurde und von dessen Schwester bewacht wird. Als sie eines Tages laut den Wunsch nach Gesellschaft äußert, kommt durch das Fenster ein Habicht geflogen, der sich nach seiner Landung auf dem Boden sogleich in einen Ritter verwandelt. Dieser gesteht, dass er sie schon seit langer Zeit liebe und nur darauf gewartet habe, dass sie nach ihm rufen würde, um zu ihr kommen zu können. Später stellt sich heraus, dass er seine Gestalt nach Belieben ändern und sogar die seiner Geliebten annehmen kann. Die Beziehung soll geheim bleiben, kommt jedoch ans Licht, der Habicht wird durch spitze Stäbe vor dem Fenster, die der eifersüchtige Ehemann dort angebracht hat, tödlich verletzt. Vor seinem Tod sagt er jedoch voraus, dass sein noch ungeborener Sohn ihn einst rächen werde, was am Schluss der Geschichte auch geschieht. Seine Geliebte mit sich nehmen kann er nicht – er kommt und geht in Vogelgestalt stets allein, so auch das letzte Mal, als er bereits dem Tod geweiht ist. In dieser extremen Situation stürzt sich die Dame allerdings aus dem Fenster, um ihm zu folgen. Sie findet ihn anhand der von ihm hinterlassenen Blutspuren, wird von ihm jedoch fortgeschickt, da sein Volk nicht erfahren soll, dass die Liebe zu ihr zu seinem Tod geführt hat. Zwei Gaben bekommt sie zum Abschied von ihm: einen Ring, durch den ihr Ehemann alles vergessen soll, und ein Schwert, mit dem der gemeinsame Sohn seinen Stiefvater einst töten soll.
Der Habicht trägt bei seinem ersten Auftreten Riemen am Fuß und ist fünf bis sechs Jahre alt: „Gez ot as piez […] / De cinc mues fu u de sis.“ Diese Merkmale zeichnen ihn als für die Jagd geeignetes Tier im besten Alter aus. Sobald der Ritter Menschengestalt angenommen hat und sprechen kann, bezeichnet er den Habicht als edlen Vogel, vor dem die Dame sich nicht fürchten muss: „[…] n’eiez poür / Gentil oisel ad en ostur.“ Generell steht diese Vogelart für Sonne, Donner und Blitz, Wind und Regen, Tod und neues Leben, Seelenaufschwung. Zu den mit ihm verbundenen Charaktereigenschaften zählen Schnelligkeit, Scharf- und Voraussicht, Raubgier, Draufgängertum, Tollkühnheit und Besonnenheit, Gefühlszerrissenheit. Gewisse Überschneidungen mit dem Falken sind vorhanden.
Ebenso wie in Wenn ich ein Vöglein wär macht sich auch in dem Lied Es flog ein kleins Waldvögelein das Sprecher-Ich in Gestalt eines kleinen Vogels auf den Weg zu seiner Liebsten. Es kann nicht lange bei ihr bleiben, da es bei ihr nicht in Sicherheit wäre. Daneben existieren Lieder, in denen Vögel die Rolle eines Boten übernehmen – von Kommt ein Vogel geflogen sind z. B. zwei Versionen überliefert, einmal stammt die überbrachte Nachricht von der Geliebten, einmal von der Mutter. Im altfranzösischen Yonec nimmt der Liebende die Gestalt eines Raubvogels an, um zu seiner Partnerin zu gelangen, kann sie jedoch nicht mitnehmen. Wär ich ein wilder Falke geht hier weiter, die Liebenden fliegen gemeinsam davon, um ihr Leben miteinander zu teilen.
Doch dieses Szenario wäre eben nur dann möglich, wenn der Sprecher ein Falke wäre, seine Angebetete mit seiner Tollkühnheit beeindrucken und den Widerstand ihrer Eltern durch seine Kraft und Flugfähigkeit überwinden könnte. Im Konjunktiv ist alles möglich, doch die letzte Strophe beschreibt im Indikativ die tatsächliche Lage des Liebenden: Die Tochter des Grafen bewundert ihn nicht, sondern schämt sich für ihn, vielleicht wegen früherer hochfliegender Pläne, die sich als nicht durchführbar herausgestellt haben. Wer sich im ersten Vers aufschwingen wollte, muss am Schluss feststellen, dass die eigenen Schwingen gelähmt sind. Das Lied vermittelt auf anschauliche Weise ein Gefühl von Machtlosigkeit, von Verdammtsein zur Untätigkeit.
Irina Brüning, Hamburg
Literatur:
Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 32002.
Lais de Marie de France. Présentés, traduits et annotés par Alexandre Micha, Paris 1994.
Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 51991.
Zerling, Clemens: Lexikon der Tiersymbolik, Klein Jasedow 2012.