Selbstüberschätzung und Selbstironie. „Laufen“ von Ina Müller
1. Juni 2021 Hinterlasse einen Kommentar
Ina Müller Laufen Jeden Nachmittag um vier senken sich meine Rollos Meine Nachbarn spekulier'n, was ist bei der Müller los? Die Scheiben sind beschlagen, meine Kleidung ist durchnässt Während ein durchtrainierter Mann mein'n Hauseingang verlässt Es ist nicht, wonach es aussieht, leider nicht das, was ihr denkt Es wurd zwar viel gestöhnt und sich ausgiebig verrenkt Es ist auch nicht erotisch, aber trotzdem was Privates Früher ham wa durchgemacht, heut machen wir Pilates Früher wollt ich schneller sein, höher, weiter, besser Heute ist mein Ziel nur noch fast so hoch wie gestern Man sagt, du kannst das schaffen, aber ohne Fleiß kein Preis Ich bin nicht mehr hier für Preise, ich kämpf nur noch gegen den Verschleiß Ich hab irgendwann geplant, mal 'n Marathon zu laufen Heut bin ich kurz davor, mir 'n Treppenlift zu kaufen Ich war vier mal Nordic-Walken, aber dabei fiel mir ein Ich bin zwar alt, doch so alt auch nicht, also ließ ich's wieder sein Bin zum Yoga-Kurs gegang'n, wenn auch nicht aus freien Stücken Meine Lieblingsposition: "Alte Frau auf Rücken" Ich wollt jeden Morgen schwimm'n, jeden Morgen, merkste selber Fühle mich wie neugebor'n, nur gut 50 Jahre älter Früher wollt ich schneller sein, höher, weiter, besser Heute ist mein Ziel nur noch fast so hoch wie gestern Man sagt, du kannst das schaffen, aber ohne Fleiß kein Preis Ich bin nicht mehr hier für Preise, ich kämpf nur noch gegen den Verschleiß Und du läufst, und du läufst, und du läufst Durch den Park deine tägliche Strecke Und ich lauf, und ich lauf, und ich lauf Zum Kiosk bei mir an der Ecke Und wenn wir uns treffen, werd ich dir sagen "Es läuft und jeder hat sein'n Sixpack zu tragen" Oh, ich kann nicht mehr [Ina Müller: 55. Columbia 2020.]
Im November 2020 veröffentlichte das norddeutsche Multitalent Ina Müller ihr Album 55, benannt nach der Anzahl ihrer Lebensjahre bei Erscheinen. Zu den dominierenden Themen der Sammlung zählen Schwächen und Laster – dem Rauchen ist ein Lied gewidmet, ebenso dem Zucker, der Wie Heroin wirkt. Wer gern einmal zu viele Kalorien zu sich nimmt, kann diese theoretisch durch Sport abbauen, doch praktisch ist das gar nicht so einfach. Dies erklärt uns die Sängerin in einem Stück mit dem Titel Laufen.
„Was ist bei der Müller los?“, heißt es im zweiten Vers. Wir können daher davon ausgehen, dass das Geschilderte zumindest teilweise autobiographisch ist. Und, was ist nun los? Die beiden ersten Strophen führen die Zuhörerschaft (ebenso wie die Nachbarn) zunächst auf eine falsche Fährte. Hinter geschlossenen Rollos praktiziert das lyrische Ich mit einem durchtrainierten Mann unter Gestöhne etwas Schweißtreibendes, das lässt natürlich sexuelle Assoziationen aufkommen. Dass diese Vermutung nicht stimmt, wird in der zweiten Strophe durch dreimalige Wiederholung der Negationspartikel „nicht“ klargemacht: Die Lösung des Rätsels heißt Pilates. Der reiche Reim mit Alliteration „Privates / Pilates“ ist besonders raffiniert.
Gleichzeitig wird im letzten Vers der zweiten Strophe die Gegenüberstellung „früher / heute“ eingeführt, die der Refrain wörtlich wieder aufnimmt und die dritte Strophe leicht abwandelt („irgendwann / heute“). Das lyrische Ich ist nicht mehr jung, beim Yoga fühlt es sich als „Alte Frau“ und generell „wie neugebor’n, nur gut 50 Jahre älter“. Andererseits heißt es: „Ich bin zwar alt, doch so alt auch nicht“, daher ist Nordic Walking nicht das Richtige.
Widersprüche und Extreme sind ständige Begleiter „der Müller“, die verschiedene Sportarten ausprobiert. Nachdem sie ihren Plan aufgegeben hat, einen Marathon zu laufen, denkt sie gleich an einen Treppenlift (als würden ihre Beine den Dienst ganz und gar versagen), und das Projekt „Schwimmen“ betrachtet sie als gescheitert, da sie es nicht schafft, dies jeden Morgen zu tun. Hier wird ein Problem angesprochen, das häufig auftritt: Menschen möchten ihr Leben ändern, gesünder leben, und nehmen sich zu viel auf einmal vor. Da sie ihre hochgesteckten Ziele nicht erreichen, resignieren sie und leben vielleicht noch ungesünder als vorher.
Zu Beginn des Liedes präsentiert sich das lyrische Ich hochmotiviert. Offenbar klappt es momentan mit dem täglichen Sportprogramm, jeden Nachmittag zur gleichen Zeit kommt der fesche Personal Trainer vorbei. Diese Phase scheint jedoch nicht lange anzuhalten. Im Refrain werden sowohl das olympische Motto „citius, altius, fortius“ (wörtlich „schneller, höher, stärker“) in seiner deutschen Abwandlung „schneller, höher, weiter“ als auch das bekannte Sprichwort „ohne Fleiß kein Preis“ zitiert und zwar als Maximen, an die sich die Sprecherin inzwischen nicht mehr hält. „Schneller, höher, weiter, besser“ galt früher, heute wird das Ziel immer niedriger angesetzt. An Preise ist auch nicht mehr zu denken, Sport wird nur noch getrieben, um den körperlichen Verfall oder „Verschleiß“ aufzuhalten. Auf der sprachlichen Ebene fallen im Refrain die Einschränkungen „nur noch“ (wird zweimal gebraucht) und „nicht mehr“ auf. Die Formulierung „gegen den Verschleiß kämpfen“ klingt sehr pessimistisch und gar nicht nach einer Person, die in der Lage ist, sich täglich „ausgiebig zu verrenken“ (zweite Strophe).
Die fünfte und letzte Strophe nach dem zweiten Refrain ist anders aufgebaut als die vorherigen. Statt mit vier haben wir es hier mit sechs Versen zu tun, diese sind kürzer als in den ersten vier Strophen und weisen außerdem ein anderes Reimschema auf. An die Stelle von aabb tritt xaxabb – das x steht für Verse, die sich zwar nicht reimen, aber durch eine Form des gleichen Verbs am Ende verbunden sind, nämlich „läufst/lauf“. Es findet erneut eine Gegenüberstellung statt, jetzt nicht mehr zwischen früher und heute, sondern zwischen ich und du.
Das lyrische Ich spricht plötzlich jemanden an und zwar eine Person, die eisern jeden Tag ihre Laufstrecke durch den Park absolviert. Auch die Sprecherin selbst läuft, doch bei ihr sieht es trotz parallelem Aufbau der Verse mit dreimaliger Wiederholung des Verbs anders aus, sie schafft es gerade einmal zum Kiosk an der nächsten Ecke. Das Wort „Laufen“, das dem Lied seinen Titel gibt, hat im Deutschen sowohl die Bedeutung „gehen“ als auch „rennen, joggen“ – die angesprochene Person ist schnell unterwegs, das lyrische Ich gemächlich. Im letzten Vers wird die Konjugation im Präsens fortgesetzt und eine dritte Bedeutung des gleichen Verbs kommt hinzu. Das nullwertige „(es) läuft“ bedeutet so viel wie „es ist alles in Ordnung, es geht voran“ und wurde durch die Serie Stromberg zum geflügelten Wort. Die Aussage „jeder hat sein Sixpack zu tragen“ wandelt die Redewendung ab, nach der jeder sein Päckchen zu tragen, also seine eigenen Sorgen hat, und spielt außerdem wieder mit zwei Bedeutungen des gleichen Worts: Ein Sixpack kann eine Sechserpackung von Getränkedosen oder Flaschen oder aber einen durchtrainierten Bauch bezeichnen, bei dem sich die Muskeln abzeichnen.
Es klingt, als habe die Sprecherin völlig resigniert – sportliche Leistungen sollen andere vollbringen, sie selbst bewegt sich praktisch gar nicht mehr und leert stattdessen ihre Sixpacks. Was mag in den Flaschen oder Dosen enthalten sein? Cola? Bier? Etwas der Gesundheit Förderliches ist es sicherlich nicht. Der aus dem Anfang des Liedes sprechende Ehrgeiz, er ist dahin. Es reicht nur noch für den gequälten Nachsatz: „Oh, ich kann nicht mehr“.
Wäre das lyrische Ich eine gute Freundin, könnte man ihr raten, sich eine Sportart zu suchen, die sie wirklich anspricht („nicht aus freien Stücken“), bei der sie sich nicht lächerlich fühlt („Ich bin zwar alt, doch so alt auch nicht“), und sich nicht zu viel vorzunehmen („Ich wollt jeden Morgen schwimm’n“), um ihre Pläne auch wirklich umsetzen zu können. Einer mehr oder weniger fiktiven Person in einem Liedtext können wir nichts raten, doch wir können uns über ihre Zweideutigkeiten und Wortspiele amüsieren. Neben Eichhörnchentag, das Vergesslichkeit thematisiert, ist Laufen das lustigste Lied auf Ina Müllers aktuellem Album.
Irina Brüning, Hamburg