Kommentar zur Flüchtlingskrise: Zu Kettcars „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ (2017)
3. Dezember 2018 Hinterlasse einen Kommentar
Kettcar Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun) Es war im Sommer '89. Der 12. August. In Hamburg ging es los. In seinem alten, himmelblauen Ford Granada. Kasseler Berge, Würzburg, Nürnberg, Linz, Wien ließ er alles links liegen. Das Ziel war das Burgenland, die österreichisch-ungarische Grenze. In Mattersburg besorgte er sich „den besten Bolzenschneider, den man für Geld kaufen konnte“. Fast 400 Schilling. In Mörbisch am See checkte er in die Pension Peterhof ein, kaufte sich einen Döner und wartete auf die Nacht. Um kurz nach eins klopfte es an seiner Tür. Der Verbindungsmann gab ihm einen Brief und verschwand wieder ohne ein Wort zu sagen. Er lernte den Brief auswendig und machte sich zu Fuß auf den Weg. Runter die Ödenburger Straße, vorbei an den letzten Laternen und kurz vor der Kehre in den Feldweg rechts rein bis ganz zum Ende. Die letzten hundert Meter weiter durch das hohe Gras, hinein in das kleine Wäldchen. Die Grenzpatrouille um 3:30 abgewartet. Taschenlampe raus: drei mal kurz, zwei mal lang. Und dann auf der Lichtung sah er sie. Sie kamen. Gerannt. Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen. Er war der Typ, der durch die Nacht schlich und schnitt Löcher in den Zaun. An einer ungarischen Grenze, im ersten Morgengrauen. Nur ein Bolzenschneider nötig für Löcher im Zaun. Im Sommer '89 Als sie durch den Zaun durch waren, liefen sie so schnell es die Kinder zuließen bis zu den ersten Laternen. 14 Menschen, drei Familien. Keine Champagnerkorken, kein Konfettijubel, nur große Erleichterung und noch größere Erschöpfung. Sie gingen gemeinsam zum Busbahnhof, setzten sich auf die Bänke, und warteten auf den 6:22er Bus nach Wien. Vor lauter Müdigkeit wurde kaum gesprochen. Nur einmal fragte ihn eins der Kinder, was denn der Spruch auf seinem Dead Kennedys T-Shirt zu bedeuten hätte. Als der Bus dann pünktlich vorfuhr, gab er einem Vater seinen Wien-Stadtplan mit der eingekreisten Adresse der deutschen Botschaft. Er verteilte seinen letzten Schillinge noch auf die drei Familien und wünschte ihnen allen ein gutes Leben. Sie bedankten sich tränenreich und vielmals für alles, in einer Sprache und einem Dialekt, den er kaum verstand. Er vermutete damals, dass das Sächsisch war. Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen. Er war der Typ, der durch die Nacht schlich und schnitt Löcher in den Zaun. An einer ungarischen Grenze, im ersten Morgengrauen. Nur ein Bolzenschneider nötig für Löcher im Zaun. Zurück in Hamburg dann die große Einerseits-Andererseits-Diskussion am WG-Küchentisch mit seinen Freunden. Einerseits wäre die Aktion natürlich gut gemeint gewesen. Wegen den Familien und so. Aber andererseits wäre eine deutsche Einheit, und darauf laufe die Entwicklung der letzten Wochen nun mal hinaus, ein großer Fehler. Deutschland dürfe nie wieder ein Machtblock mitten in Europa werden. Und eine solche Hilfe zur Flucht der DDR-Bürger würde nur zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse beitragen. Also wie gesagt: „Die Aktion war menschlich verständlich, aber trotzdem falsch.“ Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und sagte so leise, wie es ihm grad noch möglich war: „Ihr wisst, dass das Schwachsinn ist. Sie lassen alles zurück und sie fliehen und vielleicht...“ Er machte eine kurze Pause und überlegte, ob er den nächsten Satz wirklich sagen sollte. Aber kein Wort mehr. Eine komplette Stille trat ein. Die anderen tauschten nur Blicke aus, einige lächelten milde. Jemand legte sogar sacht eine Hand auf seine Schulter. Die Sekunden vergingen. Er stand auf, verließ das Zimmer, Jacke, Tür, Treppenhaus, Luft, er nahm seinen alten Ford Granada und ward nie mehr gesehen. Der Rest ist Geschichte. Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen. Es war im Sommer '89, und er schnitt Löcher in den Zaun. Sie kamen für Kiwis und Bananen. Für Grundgesetz und freie Wahlen. Für Immobilien ohne Wert. Sie kamen für Udo Lindenberg. Für den VW mit sieben Sitzen. Für die schlechten Ossi-Witze. Sie kamen für Reisen um die Welt. Für Hartz IV und Begrüßungsgeld. Sie kamen für Besser-Wessi-Sprüche. Für die neue Einbauküche. Und genau für diesen Traum schnitt er Löcher in den Zaun. [Kettcar: Ich vs. wir. Grand Hotel Van Cleef 2017.]
Unter der Überschrift „Die Linksliberalen schotten sich ab“ schreibt Philipp Krohn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie der Linksliberalismus zur „Attitüde“ verkommen sei, da seine Verfechter lieber unter sich blieben. Zwar äßen die solchermaßen Geschmähten gerne äthiopisches und indisches Essen, blieben dafür aber gemeinsam mit ihren Nachbarn und Freunden, bei denen es sich um andere gut verdienende Akademiker handele, auf den Straßenfesten ihrer sanierten Altbauviertel, fernab der Flüchtlingsunterkünfte. Diese Erkenntnis, so der Autor, sei ihm nach dem Besuch zweier Konzerte von Kettcar im Sommer dieses Jahres gekommen. Dort habe die Hamburger Band auch ihr neues Lied Sommer ’89 gespielt. Nachdem der letzte Akkord und der Jubel der Fans verklungen gewesen seien, hätte Sänger Marcus Wiebusch gesagt: „Humanismus ist nicht verhandelbar“. Dieser Satz, ist sich der Autor sicher, habe bei dem anwesenden überwiegend linksliberalen Publikum nicht zum Nachdenken, sondern eher zu einer Stärkung der eigenen Sichtweise beigetragen, die jede ernsthafte Auseinandersetzung über die Folgen der Migration im Keim ersticke.
Vom Sommer 2018 in den Sommer 1989: Diskussionen im linken Milieu finden am WG-Küchentisch statt. Auslöser ist die Rückkehr des Protagonisten zu seinen Freunden in Hamburg. Von dort war er zuvor aufgebrochen, um an der ungarisch-österreichischen Grenze drei Familien aus Sachsen bei der Flucht in den Westen zu helfen. Doch sein mutiger Einsatz wird von seinen Freunden nicht honoriert, der erfolgreiche Ausgang nicht als solcher anerkannt. Stattdessen entspinnt sich eine „Einerseits-Andererseits-Diskussion“ über die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen.
Einerseits wäre die Aktion natürlich gut gemeint gewesen.
Wegen den Familien und so.
Aber andererseits wäre eine deutsche Einheit
und darauf laufe die Entwicklung der letzten Wochen nun mal hinaus
ein großer Fehler.
Deutschland dürfe nie wieder ein Machtblock mitten in Europa werden.
Und eine solche Hilfe zur Flucht der DDR-Bürger
würde nur zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse beitragen.
Also wie gesagt: „Die Aktion war menschlich verständlich, aber trotzdem falsch.“
Der derart gescholtene Protagonist kann die Argumentation seiner Freunde nicht nachvollziehen, bezeichnet sie als „Schwachsinn“, muss sich beherrschen, leise zu bleiben und traut sich nicht, auszusprechen, was die Konsequenzen einer gescheiterten Flucht oder eines Verbleibens in der DDR wären. Schließlich verlässt er ohne ein weiteres Wort die Wohnung „und ward nie mehr gesehen“.
Geschichtsstunde und Parabel zugleich
So pathetisch das Ende, so nüchtern realistisch der übrige Liedtext, bei dem es sich um eine ganze Erzählung handelt. Diese besticht durch ihre Ausführlichkeit und dadurch, überwiegend sprechend vorgetragen zu werden (live hört man Sänger Marcus Wiebusch die Anstrengung an). Gesungen wird nur der Refrain und das Outro. Dabei könnte man denken, es handle sich um eine Geschichte, die sich in dieser Weise tatsächlich ereignet hat. Die Lyrics lesen sich in ihrer Detailliertheit wie eine Erinnerung (die Fahrt in „seinem alten, himmelblauen Ford Granada“ führt den Protagonisten entlang der „Kasseler Berge, Würzburg, Nürnberg, Linz, Wien“, bis er am Ziel angekommen in die „Pension Peterhof“ eincheckt, sich einen „Döner“ kaufte und „auf die Nacht“ wartet). Nicht nur flohen im Sommer 1989 zahlreiche DDR-Bürger über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland, auch existiert das im Lied genannte Mörbisch am See tatsächlich. Durch die kleine Gemeinde am Neusiedler See im nördlichen Burgenland führt die ebenfalls genannte Ödenburger Straße; sie mündet in ein kleines Waldstück, in dem die Grenze zwischen Österreich und Ungarn verläuft. Und auch einen Busbahnhof gibt es hier, von dem aus ein Postbus nach Wien fährt; die Fahrt dauert knapp über zwei Stunden.
Nur eine historische Ungenauigkeit findet sich in den Lyrics: Zwar gab es in Wien den ersten Döner Kebab im Jahr 1983 zu kaufen (vgl. Die Presse). Bis der Schnellimbiss auch im ländlichen Österreich zu haben war, sollte es aber noch einige Jahre dauern. 1989 habe es in Mörbisch „weit und breit keinen Döner“ gegeben, versicherte der Betreiber der Pension Peterhof der Burgenländischen Volkszeitung. Dennoch könne den Text nur jemand geschrieben haben, der sich vor Ort ein Bild gemacht habe, denn die beschriebene Route sei „genau der Weg, den viele Fluchthelfer damals benutzten“. Online jedenfalls wird über den Dönerkauf gerätselt, jemand schreibt: „Vermutlich hat er sich ein Langos oder so ähnlich gekauft und erinnert sich falsch bzw. er hat es absichtlich falsch gesungen, da es sich im Liedtext besser anhört“. (Durch die in diesem Kommentar erfolgte Gleichsetzung des Protagonisten mit dem Sänger wird zudem deutlich, dass die Lyrics von manchen Hörern als tatsächliche Begebenheit verstanden werden.)
Im Interview erzählt Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch, er habe durch einen Zeitungsartikel über ein österreichisches Ehepaar, das im Sommer des Jahres 1989 zahlreichen DDR-Bürgern über die Grenze geholfen habe, die Idee zu dem Lied entwickelt; das Verhalten des Paares habe er „irgendwie heldenhaft“ gefunden. Er selbst habe sich zur damaligen Zeit im Zivildienst befunden; als er von der Flucht der Menschen über Ungarn erfahren habe, seien ihm die Tränen gekommen. Da er aus „sehr sehr linken Zusammenhängen“ käme, habe er ideologische Diskussionen, wie sie auch im Lied thematisiert werden, „hautnah mitgekriegt“. Unter dem Slogan „Nie wieder Deutschland!“ bezogen Linke im Jahr 1990 gegen die Deutsche Wiedervereinigung Stellung. Sie befürchteten in Folge ein Wiedererstarken des deutschen Nationalismus und Neonazismus sowie ein erneutes deutsches Weltmacht-Streben.
In den frühen Neunzigerjahren tourte Wiebusch im Gefolge der Punkband Slime – von der die Liedzeile „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ stammt – durch ein wiedervereinigtes Deutschland, in dem es zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen kam und Asylbewerberheime angezündet wurden. Mit seiner Band …But Alive war er beim linken Publikum erfolgreich, doch die linke politische Szene habe ihn abgestoßen, da sie sich durch „Herzenskälte und übertriebene moralische Ansprüche“ auszeichnete, so Wiebusch im Gespräch mit Spiegel Online (vgl. auch die Besprechung von …But Alives Sie war, sie ist, sie bleibt auf diesem Blog). Die Gesellschaftsverhältnisse fünfzehn Jahre nach der Wende griff Wiebusch denn auch musikalisch mit Kettcar (gegründet 2001) auf und verarbeitete sie in dem Lied Deiche, in dem Helmut Kohl zitiert wird, der gesagt hatte, dass es niemandem schlechter gehen werde und es weiter heißt: „Du weißt, der Kuchen ist verteilt, du spürst, die Krümel werden knapp“.
Noch plakativer sind die Lyrics von Sommer ’89, die wenig der Phantasie überlassen. Dies gilt auch für den Videoclip, der in Kooperation mit dem Fachbereich Medienproduktion der Hochschule Ostwestfalen-Lippe entstanden ist. Die einzelnen Szenen werden von dem Liedtext unterbrochen, der in weißer Schreibmaschinenschrift auf schwarzem Hintergrund erscheint. Zwar erweckt dies den Eindruck, als solle der Text gleichsam wie ein Appell hervorgehoben werden, doch kommt die Erzählung ohne einen erhobenen Zeigefinger aus.
In Sommer ’89 wird eine längst vergangene Geschichte erzählt, doch geht es um das Deutschland der Gegenwart, wie Marcus Wiebusch im Gespräch mit dem mdr bestätigt: Der Song nehme „Bezug auf das Jahr 2017, in dem das Flüchtlingsthema eine große Rolle spielte. Natürlich sagen manche: Man kann damals nicht mit heute vergleichen. Und wenn schon. Der Song wurde aus nur einem einzigen Grund geschrieben: Um alle daran zu erinnern, dass das Helfen über Zäune hinweg ein zutiefst menschlicher Akt ist“. Tatsächlich ist es fraglich, ob sich die Flucht aus der sozialistischen Diktatur mit der heutigen Situation von Migranten vergleichen lässt, die mit hochseeuntauglichen Schiffen versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, um Krieg und Hunger zu entkommen, doch vielleicht ist diese Frage auch schlicht nicht zielführend.
Ein Appell für Menschlichkeit
Den Vorwurf, in einer „linken Filterblase“ zu leben und nur das eigene Klientel zu bedienen, weist Wiebusch im Interview von sich. Nicht zuletzt um dieser Anschuldigung entgegen zu wirken, habe die Band die dritte Strophe des Liedes geschrieben, in der sie sich „sehr kritisch mit linkem Dogmatismus auseinandersetzen“. Sommer ’89 ist somit ein Appell für Menschlichkeit – sowohl an diejenigen, die offen propagieren, Mauern und Zäune zu errichten, als auch an jene, die ihre Augen vor Flüchtlingselend verschließen und sich in ihre persönliche Komfortzone zurückziehen. Ein Aufruf, tätig zu werden, schließlich sei häufig „nur ein Bolzenschneider nötig“, um Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Für Sommer ’89 erhalten Kettcar viel Zustimmung: Es handle sich um „einen der wichtigsten Songs des Jahres“, so der Musikexpress. „Wohltuend, wichtig und überfällig“, ein „Storytelling-Kommentar zur Flüchtlingskrise“. Das Lied sei „eine Liebeserklärung an alle, die nicht nur zusehen, sondern helfen“, heißt es auf ze.tt.
Aktualität und Brisanz des besungenen Themas spiegeln auch die Kommentare, die sich unter dem Video finden. Neben zustimmenden Äußerungen und mancher Erinnerung an eigene Fluchterfahrungen liest man dort Bemerkungen wie die folgenden: „Und heute jammern die Flüchtlinge von damals über die heutigen Wirtschaftsflüchtlinge…“ oder „Aktueller denn je! Ein bisschen Selbstrefektion [sic] und Menschlichkeit würde uns allen besser stehen! So viele die damals nach Freiheit riefen, wollen sie heute anderen verwehren!“.
Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas kommt die Ironie in Sommer ’89 nicht zu kurz: Der Fluchthelfer versteht den an ihn gerichteten Dank nicht, denn er erfolgt auf Sächsisch. Auch der nach der Wende weit verbreitete Witz, die DDR-Bürger hätten es auf „Kiwis und Bananen“ abgesehen, wird aufgegriffen. Schwerer wiegen die „Immobilien ohne Wert“ und „Hartz IV“, Symbole enttäuschter Hoffnungen, geplatzter Träume und falscher Versprechen. Und auch „Ossi-Witze“ und „Besser-Wessi-Sprüche“ belegen, dass eine Annäherung von Ost und West nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten ging. Ob es sich um eine Ironie oder um eine Konsequenz aus der Geschichte handelt, dass viele Menschen in Ostdeutschland heute Flüchtlingen kritischer bis ablehnender gegenüberstehen als dies im Westen der Fall ist, darüber lässt sich diskutieren.
Isabel Stanoschek, Bamberg