Der beste Sommer von allen: Zu „French Disko“ von den Beatsteaks und Dirk von Lowtzow (2016)

Beatsteaks und Dirk von Lowtzow 
 
French Disko
 
Es ist sicherlich absurd, in dieser Welt zu leben
Sie erscheint dir sinnentleert
doch zieh dich nicht zurück

Spontane Rebellion und Solidarität
sind Akte, die jetzt wertvoll sind
Es ist nie zu spät

La Résistance
Das Leben ist hart
La Résistance
Der Widerstand

     [V.A.: Tschick. Original Motion Picture Soundtrack. Warner 2016.]

Erst sind nur die Schnallenturnschuhe zu sehen. Dann wandert die Kamera an der Jogginghose hoch, zeigt die Plastiktüte eines Discounters, die der Junge in der Hand hält. Unter dem bunt gemusterten Hemd trägt er eine lange Silberkette, die Basecap verkehrt herum auf dem Kopf. Er tippt auf seinem Handy, setzt sich die Kopfhörer auf, die Musik startet. Lächelnd und mit halb geschlossenen Augen tanzt er den Gehsteig entlang, die Tüte wippt, er stolpert und taumelt gegen einen Zaun. Unbeirrt setzt er seinen Weg fort, bis sein Blick an einem himmelblauen Lada hängenbleibt.

Der Name des Jungen ist Andrej Tschichatschow, genannt Tschick. Der Lada wird ihm in den kommenden Tagen ein treuer Begleiter sein, ihn quer durch das sommerliche Ostdeutschland bringen. Nachzulesen ist das in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick aus dem Jahr 2010. Anzusehen in Fatih Akins gleichnamigem Film aus dem Jahr 2016. Und anzuhören – oder vielmehr klanglich nachzuvollziehen – im dazugehörigen Soundtrack French Disko von den Beatsteaks und Dirk von Lowtzow, deren Musikvideo die eingangs geschilderte Szene entstammt.

Pop und Philosophie

Wem Titel und Melodie merkwürdig bekannt vorkommen, der irrt nicht. Dirk von Lowtzow hat die Lyrics von French Disko der britischen Band Sterolab aus dem Jahr 1993 ins Deutsche übersetzt. Deren Lieder erfreuten sich insbesondere Mitte der Neunzigerjahre großer Beliebtheit und „durften auf keiner geisteswissenschaftlichen Institutsparty fehlen“. Schließlich war die Beschäftigung mit französischer Philosophie – gesellschafts- und kapitalismuskritischen Situationisten und Poststrukturalisten – gerade in Mode. Und so kam es zum Zusammentreffen von Pop und Philosophie, „um in der French Disko gemeinsam zu tanzen“. Den Liedtext jedoch habe „damals wahrscheinlich niemand so recht verstanden. Man war nicht mal sicher, ob Frontfrau Laetitia Sadier hier englisch oder französisch sang“. Verständlich sei nur der Aufruf zum Widerstand, „La Résistance“, gewesen, der Assoziationen zur französischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus weckt (Deutschlandfunk Kultur).

Auch Tocotronic werden gerne dem Genre des akademisch-intellektuellen Diskurspops zugeordnet (eine leichte Kursänderung stellt das derzeit jüngste Album Die Unendlichkeit dar), Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten und die Frage des Umgangs damit sind immer wiederkehrende Themen in ihren Liedern (vgl. die Interpretationen auf diesem Blog) und bilden sich auch im politischen Engagement der Bandmitglieder ab. Und so erstaunt es nicht, wenn Dirk von Lowtzow erzählt, dass er zustimmte, als Arnim Teutoburg-Weiß, der Sänger der Beatsteaks, ihn fragte, ob er den Liedtext von French Disko übersetzen wolle.

Aufruf zum Widerstand

Das Ergebnis fällt ebenso knapp – der Liedtext umfasst nur zwei Strophen und den Refrain – wie prägnant aus und besticht durch seine Unmittelbarkeit. Das lyrische Ich bedient sich einer direktiven Ansprache und hält sich nicht mit Umwichtigem auf: Einem Zugeständnis – „Es ist sicherlich absurd, in dieser Welt zu leben / Sie erscheint dir sinnentleert“ – schließt sich ein Appell – „doch zieh dich nicht zurück“ – an. Dem folgt eine Art Handlungsempfehlung zu „spontane[r] Rebellion und Solidarität“. Schließlich bestehe Hoffnung – „es ist nie zu spät“ – auch wenn das Leben „hart“ sei.

Tocotronic-Sänger und -Texter Dirk von Lowtzow spricht dem Text „einen imperativen Charakter“ zu. Damit stehe dieser in einem gewissen Gegensatz zu den sonst von ihm verfassten Liedtexten, seien diese doch „verschrobener, nicht so autoritär. Meine Manifeste haben dann Titel wie Kapitulation oder Sag alles ab, sie rufen dazu auf, Dinge nicht zu tun“ (Interview im Südkurier). Die Original-Lyrics von Stereolab hingegen würden sich „fast wie eine marxistische Theorie“ lesen (Interview in der Intro):

Though this world’s essentially an absurd place to be living in
It doesn’t call for total withdrawal
I’ve been told it’s a fact of life, men have to kill one another
Well I say there are still things worth fighting for

La Résistance!

Though this world’s essentially an absurd place to be living in
It doesn’t call for total withdrawal
It’s said human existence is pointless
As acts of rebellious solidarity can bring sense in this world

La Résistance!

Tatsächlich erscheint der Liedtext des Covers im Vergleich mit dem Original milder, beinahe geglättet: So fehlt bspw. die Passage „I’ve been told it’s a fact of life, men have to kill one another“ und aus „As acts of rebellious solidarity can bring sense in this world“ sind „Akte, die jetzt wertvoll sind“, geworden.

Die Unbeschwertheit des Sommers…

In Tschick geht es um jugendliches Aufbegehren: Der vierzehnjährige Maik wird zu Beginn der Sommerferien alleine im seelenlosen Neubau der Familie zurückgelassen – seine alkoholabhängige Mutter fährt in eine Entzugsklinik, sein Vater verbringt den Sommer lieber mit seiner jungen Assistentin. Maik scheinen einsame Wochen voller Liebeskummer – er ist unglücklich in eine Mitschülerin verliebt – bevorzustehen. Dann taucht sein Klassenkamerad Andrej, genannt Tschick, mit besagtem Lada auf. Er will in die Walachei, seinen Opa besuchen – Maik steigt ein und es beginnt eine wilde Fahrt kreuz und quer durch das sommerliche Ostdeutschland. Die beiden übernachten unter den riesigen Rotorblättern eines Windrads, spielen Fußball mit Tiefkühlpizzen, gabeln auf einer Müllkippe ein junges Mädchen auf und lassen sich weder von Maiskolben vor der Windschutzscheibe, Konserven ohne Dosenöffner, noch vom Spritmangel oder der Polizei aufhalten. Erst als sie mit einem Viehtransporter zusammenstoßen, endet ihre Reise. Zurück in der Schule ist Maik die Aufmerksamkeit seiner Mitschülerin gewiss, doch es interessiert ihn nicht mehr. Die durchstandenen Abenteuer haben ihn selbstbewusster gemacht und er resümiert: Es war „der beste Sommer von allen“.

Das Musikvideo erzählt eine eigene kleine Geschichte und ergänzt somit den Film: Zu sehen ist, wie Tschick an den Lada gelangt. Bei seinem Versuch, sich des Autos zu bemächtigen, wird er von einem herbeieilenden Mann – Beatsteaks-Sänger Arnim Teutoburg-Weiß – ertappt. Tschick gelingt es jedoch schnell, ihn zu besänftigen – mit Hilfe einer Flasche Schnaps, die er aus seiner Plastiktüte zieht. Gemeinsam schlendern sie in die angrenzende Autowerkstatt, wo sie auf einen weiteren Mann – Dirk von Lowtzow – treffen. Tschick schenkt ein, sie stoßen an. Während die Erwachsenen zunehmend betrunkener werden und dabei „La Résistance“ grölen, kippt Tschick sein Glas ungesehen aus und besorgt sich einen Schraubendreher. Mit ihm startet er schließlich den Lada und fährt zu Maik – die Reise kann beginnen.

Geeint wird das jugendliche Duo von seinem Dasein als Außenseiter: „Psycho“ wird Maik von seinen Mitschülern genannt, während der Russlanddeutsche Tschick sich auch schon mal im Klassenzimmer übergibt. Anderssein und deshalb gehänselt werden – eine Erfahrung, die auch Fatih Akin und Dirk von Lowtzow gemacht haben und die sie dazu bewogen haben mag, sich der Romanvorlage anzunehmen. „Ich war Außenseiter, weil ich auch so ein bisschen Psycho war“, erzählt der Regisseur (Deutschlandfunk). Und der Tocotronic-Sänger bekennt im Interview: „Ich habe versucht zu provozieren, vor allem durch Kleidung“. Außerdem sei Rockmusik „wie eine Endlospubertät, also kann man sich mit Teenagern immer gut identifizieren“ (Intro). Das sorgt bei manchem Hörer für Erheiterung: „Ich möchte Teil einer Altherrenbewegung sein“, hat jemand in Anspielung auf Dirk von Lowtzows Alter und einen seiner bekanntesten Hits unter das Video zu French Disko geschrieben.

….gegen die Enge im Elternhaus

Dass sich Tocotronic immer noch mit Jugendlichen identifizieren können bzw. wollen, beweisen sie auch in ihrem Song Electric Guitar (Januar 2018), der auf biographischen Notizen beruht und einen „Teenage Riot“ schildert. Jedoch ist dieser räumlich auf das „Reihenhaus“ begrenzt, die „Manic Depression im Elternhaus“ erscheint unausweichlich (vgl. die Besprechung auf diesem Blog). In Tschick dagegen gelingt, was dem lyrischen Ich in Electric Guitar verwehrt bleibt: der Ausbruch aus dem elterlichen Haus. Statt im „Zimmer unter dem Garten“ Zuflucht zu suchen, verspricht die Fahrt in die Weite des Sommers Erlösung. Der Aufruf zur Rebellion in French Disko bietet den dazu passenden musikalischen Rahmen, den es für ein erfolgreiches Aufbegehren in Electric Guitar vielleicht auch gebraucht hätte. Und so erscheinen „spontane Rebellion und Solidarität“ als zeitlos wertvolle „Akte“, die jede Generation für sich neu entdecken und keinesfalls mit dem Älterwerden aufgeben muss.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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