Aktueller Kommentar von 1980: Fehlfarben: „Gott sei Dank nicht in England“
28. Juni 2016 Hinterlasse einen Kommentar
Fehlfarben Gott sei Dank nicht in England Wo ist die Grenze, wie weit wirst du gehn Verschweige die Wahrheit, du willst sie nicht sehen Richtig ist nur, was du erzählst Benutze einzig, was dir gefällt Schneid dir die Haare, bevor du verpennst Wechsle die Freunde wie andere das Hemd Bau dir ein Bild, so wie es dir passt Sonst ist an der Spitze für dich kein Platz Und wenn die Wirklichkeit dich überholt Hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol Du stehst in der Fremde, deine Welt stürzt ein Das ist das Ende, du bleibst allein Bild dir ein, du bist Lotse und hältst das Steuer Mitten im Ozean spielst du mit dem Feuer Sprichst andere Sprachen im eigenen Land Zerstreu alle Zweifel an deinem Verstand Und wenn die Wirklichkeit dich überholt [...] [Fehlfarben: Monarchie und Alltag. Electrola 1980.]
Dieses Lied wurde nicht in den vergangenen Tagen gegen Boris Johnson geschrieben, sondern entstand 1980. Nichtsdestotrotz passt Gott sei Dank nicht in England Vers für Vers zur aktuellen Debatte: Vom instrumentellen und sehr flexiblen Umgang der Brexit-Befürworter mit der Wahrheit und Boris Johnsons scheinbar unfrisierten Haaren sowie seiner ehemaligen Mitgliedschaft in einem elitären, für Saufgelage berüchtigten Studentenclub, über sein ehemals zumindest vermeintlich freundschaftlichiches Verhältnis zu David Cameron und die ihm nachgesagte Ambition, dessen Nachfolger zu werden, bis zu den Themen Grenzen und Isolation.
„Und was sagt uns das? Weiß ich nicht.“ Das sang eine andere große deutschsprachige Band (mit englischsprachigen Anfängen), Element of Crime. Ihr Lied geht übrigens weiter mit „Alles ist besser ohne dich.“ Aber das klingt dort aus dem Mund des Sprecher-Ichs, der seine Ex-Freundin ansingt, wenig überzeugend. Als Beleg für prophetische Qualitäten von Popsongs taugt Gott sei Dank nicht in England jedenfalls nichts, denn der Text ließ sich im damaligen Kontext relativ eindeutig als szeneinternes Statement gegen diejenigen (Post-)Punks verstehen, die lediglich musikalische und modische Trends aus Großbritannien übernahmen. Die Fehlfarben um Sänger und Texter Peter Hein versuchten sich demgegenüber an einer deutschen Umsetzung der Punkidee und veröffentlichten 1980 mit Monarchie und Alltag eines der für die Entwicklung deutschsprachiger Popmusik wohl einflussreichsten Alben.
Daran anzuknüpfen erscheint jetzt, da sich die führende europäische Pop-Nation vom Festland abwendet und vielleicht schon bald komplizierte Einreiseformalitäten Tourneen britischer Bands erschweren und Zölle den Import britischer Tonträger verteuern werden, besonders sinnvoll. Ein Ansatz dafür könnte ja die Verwendung mehrdeutiger Metaphern sein, die die Relektüre des hier vorgestellten Liedes erst ermöglicht hat. Als Inspiration kann man ja neben der frühen Neuen deutschen Welle auch englischen Pop dieser Zeit hören. Oder Björk natürlich.
Martin Rehfeldt, Bamberg