You can take a man out of the middle class, but you can’t take the middle class out of a man. Strukturelle Persistenz von Bürgerlichkeit in Knasterbarts „Gossenabitur“
9. Mai 2016 Hinterlasse einen Kommentar
Knasterbart Gossenabitur Mutter hat mir mal gesagt, ich soll was Bess’res werden, nicht so’n Gossenlümmel ohne Geld, würde ich nichts lernen, würde ich mich nur gefährden und hätte meine Armut vorbestellt. Ich soll fleißig beten, zum Schulmeister geh‘n und ein braver Bänkeldrücker sein, ich soll in Ärsche kriechen und um Vergebung fleh’n, [sonst] fäng’ ich mir vom Leben eine ein. Da schraub ich mir doch lieber den Schnaps in die Figur und lerne für mein Gossenabitur. Vater hat mich stets ermahnt, ne Arbeit zu ergreifen, als emsig-fleiß’ger Medizinstudent, dazu würd‘ ich mich eignen, selbst mir Pillen zu verschreiben, ich wär‘ zu allen Zeiten sehr solvent. Kein Weib täte sich zieren beim Massagen rezeptieren, sie würden gern zum Onkel Doktor gehen. Doch will ich mich nicht länger in Phantasien verlieren, hier in der Gosse ist es auch ganz schön. Da schraub ich mir doch lieber den Schnaps in die Figur [...] Und damit keiner sagen kann, wir ham den Dreh nicht raus, stellen wir uns ein Armutszeugnis aus: Im Schnorren bin ich ausreichend, im Läuse Knacken schlecht, begabt bin ich in Straßenhehlerei, ungenügend hab ich nur im Straf- und Steuerrecht, dafür in Kneipenschlägerei ‘ne Zwei. In Stammtischpolitik bin ich der Jahrgangsbeste wohl, hab eine Drei in die Polente schmieren, außerdem besitze ich das Einsermonopol in heimlich an den Tresen urinieren. Kneipenkunde kann ich gut, ich kann mich nicht beschweren den Leistungskurs im Saufen hab ich gern: Da habe ich ‘ne glatte Zwei im Bierkrug Ausleeren, im Branntwein Schlucken eine Eins mit Stern. Mein Lieblingsfach ist pöbeln und Zecheprellerei und Gossenpoesie am Pintentresen, und in Liebeskunde, ich sag das mal so frei, da wär ich gern befriedigend gewesen. Arbeits- und Sozialverhalten – ja was soll ich sagen? Ja braucht man das denn wirklich für im Leben? In unserm Armutszeugnis steht, sollt‘ jemand danach fragen: Sie haben sich stets Mühe gegeben. Da schraub ich mir doch lieber den Schnaps in die Figur [...] Da schraubt er sich doch lieber den Schnaps in die Figur und lernt für sein Gossenabitur. Da schraub ich mir doch lieber den Schnaps in die Figur [...] [Knasterbart: Branntwein für alle! Fuego 2014.]
An US-amerikanischen Universitäten wird in letzter Zeit u.a. über die Problematik „kulturell aneignender“ Halloween-Kostüme diskutiert (vgl. zeit.de, taz.de). Gemeint ist, dass Angehörige der privilegierten (weißen, christlichen) Mehrheit Kleidung oder Insignien unterprivilegierter Minderheiten (z.B. Indianerschmuck oder Sombreros) aus rein dekorativen Gründen oder zur Belustigung tragen. Überträgt man diese Denkfigur auf die Inszenierung der Band Knasterbart, so könnte man die teilweise an Zombie-Make-up heranreichende Ausstellung von Armutsfolgen zur Unterhaltung durchaus kritisch sehen. Dagegen spräche grundsätzlich auch nicht der Unernst der Angelegenheit, der bei Halloween-Kostümen ja durchaus auch gegeben ist – die Bandmitglieder, u.a. Musiker von Versengold und Mr. Hurley & Die Pulveraffen, die vornehmlich im Rahmen des Mittelalterlich Phantasie Spectaculum auftreten, eines Festivals, das schon ausweislich seines Titels jeden Authentizitätsanspruch zurückweist, verkörpern offensichtlich überzeichnete Gestalten aus einer vergangenen Epoche: Ihre Künstlernamen lauten (teilweis an ihre Instrumente angelehnt und jeweils mit dem ‚Familiennamen‘ Knasterbart) Hotze, Fummelfips, Fidolin, Hackepeter, Klappstuhl, Knüppelkalle und Schramme (vgl. Homepage der Band). Jedoch geht es bei den erwähnten Debatten immer auch darum, dass sich Angehörige der dargestellten Gruppe angegriffen fühlen – und wer sollte sich als Nachfahre der im Video u.a. durch die Bandmitglieder, deren Kostüme irgendwo zwischen Mittelaltermarkt und Les Miserables-Musical angesiedelt sind, Dargestellten begreifen?
Die kontroverse Denkfigur der illegitimen kulturellen Aneignung ist für die Interpretation des hier vorgestellten „Gossenhauers“ (Kalauer der Band selbst) aber auf anderer Ebene heuristisch nützlich. Denn sie lenkt den Blick auf die Frage, wie wer hier wen sieht. Die beiden Sprecher kommen anscheinend aus bescheidenen – offenbar hat einer Umgang mit „Gossenlümmel[n] ohne Geld“, deren schlechten Einfluss die Mutter fürchtet -, aber (klein-)bürgerlichen Verhältnissen: Beide auftretenden Elternteile raten zum Aufstieg durch Bildung, andernfalls, so die Mutter, drohe der soziale Abstieg. Diesem Schreckensszenario gegenüber steht die Aufstiegsphantasie des Vaters, ganz klassisch in Form der Qualifikation für den Arztberuf, dessen Ergreifen den Eintritt in eine höhere soziale Schicht darstellt. Die Sprecher haben sich jedoch gegen diesen Weg und die damit verbundenen Entsagungen („ein braver Bänkeldrücker sein“) und Erniedrigungen („in Ärsche kriechen und um Vergebung flehn“) entschieden und ganz bewusst die ihnen als Folge mangelnden Fleißes angekündigten Gosse als neues Umfeld gewählt.
So weit, so gängig als Rebellion gegen die Werte der Eltern. Interessant wird aber die Sicht der Sprecher auf ihre neue Umgebung. Sie erscheint ihnen als Umkehrung des bürgerlichen Wertekanons: Verhaltensweisen, die in der bürgerlichen Gesellschaft entweder strafrechtlich verfolgt (Hehlerei, Körperverletzung, Bestechung, Betrug) oder zumindest sozial geächtet (exzessives Trinken, Urinieren in dafür nicht vorgesehenen Räumen) werden, werden hier goutiert, bürgerliche Kerntugenden hingegen für irrelevant erachtet: Unter „Arbeitsverhalten“ fallen Kompetenzen wie „Lern- und Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Sorgfalt, Ausdauer und Belastbarkeit, Selbstständigkeit“, zum „Sozialverhalten“ gezählt werden „Verantwortungsbereitschaft, Kooperations- und Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Toleranz“ (Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg). Und all das soll man nun – neben korrekter Grammatik – nicht „wirklich für im Leben“ benötigen? Eine konsequentere Abkehr vom bürgerlichen Milieu, dem die Sprecher enstammen, scheint auf den ersten Blick kaum möglich.
Betrachtet man aber nicht nur den Inhalt, sondern auch dessen sprachliche Präsentation, wird schnell deutlich, wie sehr die beiden noch in den im Laufe ihrer Erziehung erlernten Mustern denken. Denn wie heteronormative Menschen, denen es ein Bedürfnis ist, andere zu der von ihnen selbst präferierten Form der zwischengeschlechtlichen Sexualität zu zwingen, oft von der Vorstellung besessen sind, Homosexuelle müssten strukturell wie sie selbst denken und folglich eine ‚Verschwulung‘ der Welt herbeiführen wollen, so können sich die Sprecher, die eine leistungsfixierte Erziehung durchlaufen haben, den Gegenentwurf dazu auch nur wiederum als eine Art Schule vorstellen, in der Leistungen abgefordert werden – nur eben auf anderen Feldern. Das wird bereits in den beiden Neologismen des Refrains deutlich: Mit dem ‚Gossenabitur‘ wird ein Pendant zur allgemeinen Hochschulreife etabliert, die für bürgerliche Eltern nach dem Übertritt ins Gymnasium das zweite große Etappenziel im Bildungsplan für ihre Kinder darstellt – bis heute, wie etwa die erbitterten und letzlich erfolgreichen Proteste gegen die Hamburger Schulreform gezeigt haben. Und in der neu erfundenen idiomatischen Wendung ’sich Schnaps in die Figur schrauben‘ klingt mit ’schrauben‘ das Moment der Anstrengung an und wird mit ‚Figur‘ jenes Wort für den eigenen Körper gewählt, das dessen äußere Wirkung auf Andere betont – diese Wortwahl ist umso erstaunlicher, als es ja beim Schnaps Trinken vermeintlich um die im Körperinneren stattfindenden Prozese geht.
Dort, wo die Sprecher ihre Absage an die bürgerlichen leistungsorientierten Werte ihrer Eltern formulieren möchten, greifen sie also auf Vokabular aus den Wortfeldern eben dieser Werte zurück. Auch die Ausstellung des eigenen Armutszeugnisses, bei der eine abwertende idiomatische Metapher wörtlich genonnem und ins (vermeintlich) Positive gewendet wird, erfolgt aus einem sehr bürgerlichen Grund: „damit keiner sagen kann, wir ham den Dreh nicht raus“ – es geht den Sprechern um Anerkennung der eigenen Fähigkeiten. Eine solche Reproduktion der Strukturen einer Gesellschaft, zu der man sich in Opposition sieht, lässt sich etwa auch im Gangsta-Rap finden, z.B. wenn 50 Cent ein Album Get Rich or Die Tryin‘ betitelt und damit die Ideologie des American dream auf den Punkt bringt.
Nun könnte man das alles auch noch als bewusste Pervertierung des Vokabulars bürgerlicher Ideologie und damit als Akt sprachlicher Subversion deuten. Jedoch sprechen für die hier favourisierte Lesart, dass den Sprechern die geistige Emanzipation aus ihren Elternhäusern doch nicht gelungen ist, noch andere Textdetails: Zum einen wäre das Bedauern des Sprechers der zweiten Strophe, nicht über die finanziellen, pharmazeutischen und erotischen Resourcen eines Arztes zu verfügen, zu nennen. Das Ziel väterlichen Plans wird hier also gar nicht verworfen, lediglich der aufwendige Weg dorthin gescheut. Schließlich muss der Sprecher sich selbst zur Ordnung rufen und zur beschwichtigenden Autosuggestion greifen: „Doch will ich mich nicht länger in Phantasien verlieren, / hier in der Gosse ist es auch ganz schön.“ Ein weiterer Aspekt, der nicht recht in die vermeintliche Idealisierung des Gossenlebens passen will, ist das – speziell in der gesanglichen und mimischen Darbietung deutliche – Eingeständnis überschaubarer sexueller Fähigkeiten, womit die verbreitete Vorstellung, dass in leistungsfernen Milieus Sexualität freier und befriedigender ausgelebt würde (ein Umkehrschluss aus der Freudschen Sublimierungsvorstellung, derzufolge Triebverzicht überhaupt erst besondere Leistungen ermöglicht), zumindest relativiert wird.
Die beiden Bildungsabsteiger scheinen also, so klingt zwischen den Zeilen dieser fröhlichen Unterschichtenhymne an, ihr Glück doch nicht im Rinnstein gefunden zu haben. Und so kann man aus dem Lied auch die Empfelhlung an die aktuell ihre Abiturprüfungen Ablegenden herauslesen, einen Mittelweg zu wählen: Erst das Abitur machen – und danach den Schnaps in die Figur schrauben.
Martin Rehfeldt, Bamberg