Das fragmentierte Selbst: Sidos „Bilder im Kopf“
14. März 2016 1 Kommentar
Der Science Academy Baden-Württemberg/ Junior Akademie Adelsheim, besonders den geisteswissenschaftlichen Kursen, gewidmet
Sido Bilder im Kopf In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf Bewahr' ich alle diese Bilder im Kopf Ich weiß noch damals, als ich jung und wild war im Block Ich bewahr' mir diese Bilder im Kopf In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf Bewahr' ich alle diese Bilder im Kopf Ich weiß noch, als wir das erste Mal gechillt haben im Loft Ich bewahr' mir diese Bilder im Kopf Es war einmal vor langer langer Zeit Vor 32 Jahren, als Mama schwanger war, sie schreit Denn ich komme! Ich war so süß ohne die Haare am Sack Aber die wachsen schon noch, warte mal ab Ich bin im Osten aufgewachsen, bis ich neun war Orangenes Licht und graue Häuser, dann der Aufbruch ins Neuland An der Entscheidung kann ich nicht nur Gutes lassen Denn es war nicht immer einfach für uns drei, hier Fuß zu fassen Aber alles hat sich eben so ergeben und mein Vater Über den will ich nicht reden, ich erwarte nichts mehr Ich wollte keinem glauben, traute nur ein paar Gesichtern Nachts draußen, die Augen kannten nur Straßenlichter Konserviert und archiviert, ich hab's gespeichert Paraphiert und nummeriert, damit ich's leicht hab' Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet Weiß ich immerhin genau, wo man sie findet In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf [...] Damals auf'm Hof mit Bobby und so Dieses Rap-Ding unser neues Hobby und so Und dieses Gras-Ding zwei Gramm auf Kommi und so Wir haben geträumt, wir wären ein Promi und so Ich zog' die Jordans mit den Löchern an und dann 'ne Runde Basketball In der Raucherecke stand Jamal am Marterpfahl Ob wir Spaß hatten damals, rate mal Aber die Schulwand haben wir nicht nur zum Spaß bemalt Uni passte nicht in meine Welt, nicht mal ein halbes Semester Wir brauchten Geld, wir waren Rebellen, wir wussten alles besser Wir haben rumgehangen und Mucke gemacht Das Mikrofon im Kleiderschrank, wir haben gewusst, dass es klappt Und jetzt ist es konserviert und archiviert, ich hab's gespeichert Paraphiert und nummeriert, damit ich's leicht hab' Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet Weiß ich immerhin genau, wo man sie findet In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf [...] In meinem schwarzen Fotoalbum mit dem silbernen Knopf Sind viele Bilder von 'nem Typ mit 'nem silbernen Kopf Und viele Bilder von guten Freunden und Freunden die Feinde wurden Von Autos mit 1000 PS und Bräuten mit geilen Kurven Von Partys, von Konzerten, von den Brüchen, von den Ärzten Von den Zeugnissen, dem letzten bis zum ersten Ich hab Bilder von den Feiertagen, Bilder von mei'm Opa Ich war so verdammt traurig, als er tot war Doch ich hab es konserviert und archiviert, ich hab's gespeichert Paraphiert und nummeriert, damit ich's leicht hab' Denn ich weiß genau, bei mir läuft's nicht für immer rund Doch was mir bleibt, ist die Erinnerung In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf [...] Ich weiß noch (Ich weiß noch, ich weiß noch, ich weiß noch) Ich weiß noch (Ich weiß noch, ich weiß noch, ich weiß noch) [Sido: Bilder im Kopf. Universal 2013.]
Im Jahr 2004 veröffentlichte der Berliner Rapper Sido seinen Arschficksong. Der vulgäre Titel wird konsequent im Text fortgeführt. Die Zeilen „[wir] reden ständig über Scheiße / Egal ob flüssig, fest, braune oder weiße / Sie fragen, ob ich nur über Analsex reden kann / Doch es geht nicht anders, ich bin der Arschfickmann“ sollen als Illustration genügen. Auf dem jüngsten Album des Rappers, VI, hingegen finden sich Zeilen wie „Änder dich / Wenn du eine gelbe Blume siehst, die den Zement durchbricht / Dann denk an mich“ (Löwenzahn). Von fäkal-humoristischen Sprachspielen hat sich der Rapper nun zu einem Texter entwickelt, der lebensbejahende Unterstützung an seine Zuhörer vermittelt. In vielerlei Hinsicht gibt das Lied Bilder im Kopf, das zeitlich und inhaltlich zwischen den zwei Phasen steht, Aufschluss über diese mindestens zwei Abschnitte, in die sich das Werk des Künstlers Sido unterteilen lässt.
Am Anfang der Karriere des Rappers stehen bewusst provokante Songs. Dass dabei die Provokation Teil einer inzwischen schon recht viel praktizierten Marketingstrategie ist, ist durchaus möglich. Der mit einer Indizierung einhergehende Presserummel kann Künstlern natürlich durchaus helfen. So gilt das Plattenlabel Aggro Berlin, bei dem auch Sido unter Vertrag stand, als Wegbereiter des deutssprachigen Gangsta-Raps, der sich bewusst von deutsch-sprachigem HipHop à la Fettes Brot oder Die Fantastischen Vier absetzt (vergleiche dazu Spiegel online). Sido ist sich, wie er im Lied Verrückt wie krass beweist, dieser Marketingstrategie durchaus bewusst: „Hier und da mal ‚ficken‘ sagen, manchmal übertreiben / Du musst Grenzen überschreiten, mach, dass sie drüber schreiben.“ In dem Spiel mit dem Image des Bad Boys und dem damit bewusst provozierten Aufschrei allerdings den einzigen Grund für vulgäre Sprache zu sehen, wäre zu eindimensional. Die expliziten Zeilen können beispielsweise auch Ausdruck einer jugendlichen Grenzüberschreitung sein. Immerhin war Sido zu diesem Zeitpunkt ein junger Künstler der möglicherweise auch seine Grenzen und die des Genres austesten wollte.
In einer zweiten Phase als Künstlers wendete sich Sido von seinen Jugendsünden ab und rappte stattdessen Lieder, welche weniger kontrovers waren. Diese Einteilung in zwei klar zu trennende Phasen vereinfacht natürlich das Gesamtwerk Sidos. In der Frühphase gab es auch nicht-vulgäre Texte und umgekehrt. Dennoch hat sich Sido bereits 2005 etwas von seinem „Arschficksong“ distanziert (vgl. stern.de). Den vorläufigen Gipfel findet diese Wandlung in Kollaborationen mit massenverträglichen Pop-Sängern wie Adel Tawil (vgl. die Interpretation zu dessen Hit Lieder) oder Andreas Bourani. Diese zwei Schaffensphasen visualisierte Sido auch durch das Ablegen seiner silbernen Maske, welche er in seinen frühen Jahren bei Veranstaltungen und in Videos stets trug.
Das schwarze Fotoalbum mit dem silbernen Knopf, um das es in Bilder im Kopf geht, kann verschieden interpretiert werden. In dem Lied geht es um ein Fotoalbum, das der Rapper anschaut und dabei über seine Verganeheit nachdenkt. Das Fotoalbum, so wird suggeriert, enthält alle wichtigen Ereignisse aus seinem Leben, beginnend mit seiner Geburt. Im Fotoalbum findet der Künstler Erinnerungen an sein Leben, inklusive aller Höhen und Tiefen. Das Fotoalbum kann auch für Sido selber stehen. Dies wird deutlich, wenn man sich Sidos silberne Maske und seine oft dunkle Kleidung als Parallelen zum silbernen Knopf und dem schwarzen Einband des Buches vorstellt. Durch das Reimpaar „In meinem schwarzen Fotoalbum mit dem silbernen Knopf / Sind viele Bilder von ’nem Typ mit ’nem silbernen Kopf“ wird die Parallele eigens hervorgehoben. Folgt man dieser Interpretation, handelt es sich bei den Bildern in dem Fotoalbum um eine Visualisierung der Erinnerungen Sidos. Zweitens kann das Fotoalbum, auch auf Grund des im Musikvideo abgebildeten Formats, als eine Anspielung auf eine CD- oder Schallplattenhülle verstanden werden. Dass der zweite Bestandteil des Kompositumms ‚Fotoalbum‚ auch eine Langspielplatte bzw. eine entsprechende CD bezeichnet, ist in diesem Kontext stimmig. Wie eine CD-Hülle kann Sido das Fotoalbum öffnen und Erinnerungen mit den Inhalten asoziieren. Das Fotoalbum steht bei dieser Lesart für Sidos eigene Platten, möglicherweise auch die anderer Künstler, die ihn an seine Vergangenheit erinnern.
Auf einer dritten Ebene kann das Fotoalbum auch wörtlicher als ein memento vitae verstanden werden, in dem Sido seine Vergangenheit dokumentiert und aufarbeitet. In diesem Sinne ist es auch verständlich, dass in diesem Fotoalbum alles zu finden ist und auch weiterhin zu finden sein wird: „Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet / Weiß ich immerhin genau, wo man sie findet“. Fest steht, und hier schließt sich der Kreis zu den beiden Schaffensphasen Sidos, dass Sido mit diesem Lied klar stellt, dass er sich durchaus an seine Vergangenheit als „echter Rapper“ erinnert. So rappt der Berliner in Bilder im Kopf von „Autos mit 1000 PS und Bräuten mit geilen Kurven“, die sinnbildlich für seine frühere Schaffensphase stehen. In der gleichen Strophe aber illustriert Sido auch seine spätere, emotional-verletzlichere Schaffensphase, indem er über den Tod seines Großvaters rappt. Am Ende des Liedes betont er dann auch immer wieder, vielleicht auch an seine Kritiker gerichtet: „Ich weiß noch“.
Mit dem Stilwechsel von kontroversem Aggro-Rap zu radiotauglicher Musik stieß Sido auf ein Problem, welches genreübergreifend zu beobachten ist: Ändert ein Künstler seinen Stil zu drastisch, wird ihm vorgeworfen, er sei ein „Verräter“ seines Genres (vgl. meinrap.de). Das inwzischen wohl bekannteste Beispiel für solch einen Imagewechsel – hier in umgekehrter Richtung – ist Miley Cyrus, der vorgeworfen wurde, sie provoziere bewusst um mehr Geld zu verdienen und ihr Image als Disney-Star zu revidieren. Auch in anderen Sub-Genres ist dieses Phänomen zu beobachten: Bereits in den 1980er Jahren wurde Metallica nach vier bahnbrechenden, aber komerziell nur bedingt erfolgreichen Alben, attestiert, sie würden versuchen ihren Sound auf den Mainstream trimmen, um so mehr Geld zu verdienen.
Obwohl in den bildenden Künsten ganz selbstverständlich von verschiedenen Phasen eines Künstlers gesprochen wird, beispielsweise einem frühen oder späten Picasso, wird komerziell erfolgreichen Musikern dieses Recht nicht immer eingeräumt. Die Eindimensionalität, mit der Medien und Rezipienten somit operieren, stellt die Musiker durchaus vor große Probleme. Will sich ein Künstler neu erfinden, und sei es um kommerziell erfolgreicher zu sein, stößt dies oft auf erheblichen Widerstand von jenen Stamm-Fans, die den Künstler schon kannten, „bevor er berühmt war“. Die Rezipienten stellen sich somit eine bessere, goldene Vergangenheit vor – bei Sido eben jene Zeit, in der er noch ein „echter Rapper“ war. Vielleicht ist auch so das Schlussbild des Musikvideos zu Bilder im Kopf zu verstehen, in dem Sido von einer Trophäe erschlagen wird, die aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart katapultiert wird. Der Künstler wird von seiner eigenen Vergangenheit erschlagen.
Die Möglichkeit, dass Sido sich tatsächlich geändert hat, manche Dinge nun anders sieht und nun eben andere Musik machen will, wird dabei selten in Erwägung gezogen. Zunächst wurde Sido attestiert, er sei brav (sprich: langweilig) geworden (vgl. morgenpost.de). Nun gehen Journalisten noch weiter und beschreiben seine Musik abschätzig als „Christenpop“ (welt.de). Dabei sind das Hinterfragen der eigenen Person und des eigenen Charakters im Zentrum für jedes Individuums von zentraler Bedeutung, zumindest für jedes reflektierte. Sogar wenn eine solche Selbstreflexion ergibt, dass ein Künstler versuchen will, mainstream-taugliche Musik zu machen, sollten Fans dafür Verständnis haben. Anders verhält es sich natürlich, wenn beispielsweise eine Plattenfirma einen anderen Sound fordert, der dem Künstler selber widerstrebt. Ansonsten aber gilt: Man sollte allen Menschen die Möglichkeit lassen, sich selber zu finden, auch sich neu zu erfinden, umzuinterpretieren oder 180°-Wendungen zu vollziehen. Insbesondere Künstlern muss es der Spielraum gegeben werden, Aspekte des eigenen Images wie Mosaiksteine zu handhaben und neu und ungewohnt zu kombinieren. Und wem der neue Sound Sidos nicht gefällt, der hört eben weiterhin den Arschficksong.
Martin Christ, Oxford
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