Flüsterwitz in Liedform: „Zehn kleine Meckerlein“
29. Februar 2016 3 Kommentare
Faksimile aus 10 kleine Meckerlein, 1943 im besetzten Amsterdam herausgegeben in zunächst 40 Exemplaren von A.A. Belkama Amsterdam (Ziffern als Kartoffeldruck)
(Quelle: Deutsches Historisches Museum, Objektdatenbank)
So oder so ähnlich könnte das Flugblatt ausgesehen haben, das die Geheime Staatspolizei in Berlin bei einem Kommunisten anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung gefunden hat. „Der Kommunist W.S. beschuldigt die 22jährige Stenotypistin B. aus Essen ihm die bei ihm gefundene Hetzschrift ’10 kleine Meckerer‘ übersandt zu haben“ so zitiert der Volksliedforscher Ernst Klusen aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, AZ 52660, 1943 (Klusen, Deutsche Lieder, Bd. II S. 844).
Die Verhandlung vor einem Sondergericht (bereits im März 1933 wurden besondere Strafgerichte bei den Oberlandesgerichten eingerichtet, um Regimekritiker, Oppositionelle, Widerständler oder auch nur Erzähler von sogenannten Flüsterwitzen einzuschüchtern und zu verurteilen. Eine Revision war bei dieser Art von Gerichten nicht zulässig) könnte so vonstattengegangen sein:
Wie die Ermittlungen der Gestapo ergaben, wurde das Gedicht, das – wie aus anderen Verfahren bekannt – auf die Melodie des Kinderliedes Zehn kleine Negerlein von volksfeindlichen Elementen gesungen wurde, von dem Juden Otto Oppenheimer (geb. 1875 in Bruchsal, ehemals dortselbst Tuchgroßhändler und selbst ernannter Heimatdichter mit dem „Werk“ „De Brusler Dorscht“, Der Bruchsaler Durst) etwa Ende 1939 in der Schweiz verfasst. Da dieser Jude mitsamt seiner „Mischpoke“* inzwischen in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewandert ist, konnte er (bisher) nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Nicht bekannt ist, wer bzw. welche Gruppe in welcher Auflage den Text in das Deutsche Reich verbracht hat. Tatsache ist, dass das unflätig Gereimte als Inhalt von Flugblättern in Deutschland und in Form eines Heftes mit weiteren Verleumdungen in holländischer Sprache vom Centralen Inlichtingendienst** (CID) auch in Amsterdam beschlagnahmt werden konnte (Deckblatt in Deutsch, s. Anlage oben).
Der Text erfüllt in höchsten Maße die Straftatbestände des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934. Die Einlassung des Angeklagten W. S., Frau B. habe ihm das Flugblatt ohne sein Wollen zugeschickt, kann nicht zur Entlastung oder zur Strafmilderung dienen, da allein der Besitz eines solchen Pamphlets strafbar ist. Die Tatsache, dass der Angeklagte das Flugblatt nicht unmittelbar bei der Polizei abgeliefert und Frau B. angezeigt hat, wurde strafverschärfend berücksichtigt. Die Anklage gegen Frau B. ist in Vorbereitung.
Es ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird gemäß der §§ 1 und 2 des Heimtückegesetzes zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Sollten die weiterhin laufenden Ermittlungen der Geheimen Staatspolizei ergeben, dass der Kommunist an Planung oder Vorbereitung von sich gegen den Staat, die NSDAP oder ihre Gliederungen, Betriebe o.ä. richtende Tätigkeiten beteiligt ist, ist eine Überweisung in ein Zuchthaus oder in ein Konzentrationslager in Angriff zu nehmen.
* Jiddisch mischpocho = Familie; hier im abfälligen Sinn für üble Gesellschaft
** Bis 1942 niederländischer Nachrichtendienst.
Im Einzelnen
Im Folgenden werde ich die im Lied genannten Vorfälle in Form von fiktiven Urteilssprüchen darstellen.
Hier vorweg zum besseren Verständnis des Folgenden die einschlägigen Paragraphen des „Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934“.
§ 1
(1) Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwerere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.
§ 2
(1) Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft.
(2) Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muss, dass die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde.
Zu Strophe 1: Gemäß Protokoll der Geheimen Staatspolizei ist im Weinlokal W. eine Gruppe Männer aufgrund ihres reichlichen Weingenusses recht laut geworden. Plötzlich ist ein junger Mann aufgestanden und hat angefangen, zu humpeln und dem Reichspropagandaminister Dr. Josef Goebbels zugeschriebene Grimassen und seine vermeintliche Sprechweise nachzumachen. Ein Gast hat dieses Verhalten der Gestapo gemeldet, die den Täter noch vor Ort festnehmen und in Schutzhaft nehmen konnte. Es handelt sich hier um einen klaren Fall des Tatbestandes § 2, Abs. 1 Heimtückegesetz: „gehässige von niedriger Gesinnung zeugende Äußerung über eine leitende Persönlichkeit des Staates“. Ein etwaiges Trunkensein des Hetzers spielt für die Erfüllung des TB keine Rolle, ist auch nicht strafmildernd zu berücksichtigen. Der Angeklagte wird gemäß § 1 Abs. 1 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Zu Strophe 2: Angesichts einer Rede des Reichspropagandaministers auf dem Alexanderplatz ist den hier anwesenden Zeugen, allesamt Parteigenossen, aufgefallen, dass der Angeklagte bei einigen Aussagen das Gesichts verzogen, die Augen gerollt oder gar abfällig gegrinst hat. Die unmittelbar benachrichtigte Polizei hat den Angeklagten noch vor Ort und Stelle in Gewahrsam genommen und ihn bis zur Eröffnung des Gerichtsverfahrens in Schutzhaft gehalten. Der während der Haft hinzugezogene Amtsarzt konnte feststellen, dass der Angeklagte nicht unter einem sog. Tic leidet. Daher ist er für sein Verhalten, das in nicht verbalen, jedoch eindeutigen Äußerungen besteht, voll verantwortlich. Nach eingehender Beratung spricht das Gericht gemäß § 2, Abs. 1 Heimtückegesetz eine Strafe von 20 Monaten Gefängnis aus.
Zu Strophe 3: Wie der hier anwesende Streifenpolizist P. in der frühen Morgenstunde feststellen konnte, war eine Hausmauer am Lambertiplatz mit folgender Kreideinschrift versehen worden: „Kinder müssen kommen in den Krieg / Räder müssen rollen für den Sieg / Köpfe müssen rollen nach dem Krieg“ *. P. sah die vermutlichen Täter wegrennen und benachrichtigte sofort die Gestapo, die gemeinsam mit der Polizei eine Ringfahndung durchführte. Aufgrund der lobenswert genauen Beschreibung konnten drei jugendliche Delinquenten festgesetzt werden, die vergeblich versuchten, sich der offensichtlich benutzten Kreide zu entledigen. Die Täter, Mitglieder der Edelweißpiraten, kamen in Schutzhaft im EL-DE-Haus**. Wie der Gefängniswärter W. überzeugend darlegen konnte, stammen die Verletzungen der Angeklagten entgegen den unziemlichen Andeutungen des Vaters eines von ihnen, der sich zurzeit auf Heimaturlaub befindet, von Versuchen der Selbstverstümmelung in der irrigen Annahme, dadurch eine Strafmilderung zu erreichen.
Die Täter haben es willentlich unternommen, öffentlich den „Willen des deutschen Volkes… zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen“. Nach § 5, Abs. 1 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 26. August 1939 ist der Tatbestand der Wehrkraftzersetzung erfüllt, der mit der Todesstrafe bestraft wird. Der jüngste Straftäter wird gemäß § 5, Abs. 2 KSSVO in das Zuchthaus eingewiesen; die beiden anderen Täter werden gemäß Abs. 1 zum Tode durch Erhängen verurteilt**.
* Das EL-DE-Haus war in Köln ein Gefängnis, in dem die Gestapo Mitglieder von Edelweiß-Gruppen inhaftiert, verhört und gefoltert hat. In einer Gefängniszelle ist noch heute, eingeritzt in eine Wand, der o.a. Spruch zu lesen. (vgl. Wikipedia) – Abschnitt Aktionen des Widerstandes
** s. auch Spiegel Online.
Zu Strophe 4: Die drastische Bezeichnung „Schweinefraß“ ist beim Mittagessen in der Kantine der Munitionsfabrik M. durch die Angeklagte A. gefallen, wie die Vorarbeiterin, die Parteigenossin V., lobenswerterweise gleich der Werksleitung gemeldet hat, die diese Information an die Gestapo weitergegeben hat. Die Ausführungen des Herrn Verteidigers, dass auf die Bemerkung allgemein zustimmendes Gemurmel zu vernehmen war bzw. gewesen sein soll, ist hier nicht von Belang, ebenfalls nicht der völlig überflüssige Hinweis auf die angeblich allgemein angespannte Versorgungslage im Reich. Die Einlassung der A., sie sei seit Tagen nicht satt geworden und so sei ihr „der Seufzer entwischt“, trägt nach Auffassung des Gerichts nicht zu einer Entlastung bei. Bestenfalls könnte die schriftliche und hier mündlich wiederholte Entschuldigung zu einer Strafmilderung beitragen. Unter Berücksichtigung der kriegswichtigen Arbeit, die die Angeklagte nach mehreren glaubwürdigen Zeugenaussagen seit ihrem Arbeitsantritt „zur vollkommenen Zufriedenheit“ (s. Protokoll über die Einvernahme) geleistet hat und der Tatsache, dass die Angeklagte bisher noch nie straffällig oder in sonstiger Weise auffällig geworden ist, kommt das Gericht nach eingehender Beratung zu folgendem Urteil: Nach § 2, Abs. 1 Heimtückegesetz wird die Angeklagte zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
Zu Strophe 5: Wie die Beweisaufnahme ergab, hat der Angeklagte S. das hier nicht anwesende 12-jährige Mitglied des Jungvolks* mit „Lausebalg“ beschimpft. Während „Lausbub“ oder „Lausejunge“ im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus scherzhaft für einen ungezogenen Jungen stehen könnte, ist jedoch ein „Balg“, ursprünglich eine Tierhaut, ein pejorativer Ausdruck, der hier in einem beschimpfenden Sinne benutzt wurde, vergleiche „Wechselbalg“. Demnach ist „Lausebalg“ eine Beleidigung schlimmerer Art. Mit Hilfe der Zeugen, Nachbarn des Angeklagten, davon zwei Parteigenossen, konnte überzeugend dargelegt werden, dass der Pimpf* sich in nicht in dem NS-Ideal angemessener Form benommen hat. Angesichts dieses Verhaltens ist die Äußerung des S. gegen ein Mitglied einer Untergliederung der NSDAP zwar nicht zu entschuldigen, jedoch in gewisser Weise verständlich. Der Angeklagte ist kein Parteigenosse, hat sich jedoch nachweislich bei Sammelaktionen für das Winterhilfswerk** hervorgetan. Unter Würdigung dieser Umstände wird der Angeklagte zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten verurteilt. An den hiesigen Jungvolkführer ergeht die Aufforderung, seine ihm anvertrauten Pimpfe im Sinne nationalsozialistischer Zucht und Ordnung zu erziehen.
*Bezeichnung für 10-14jährige Mitglieder des Jungvolks, der Unterorganisation der Hitlerjugend
** Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes war eine Stiftung öffentlichen Rechts, die Sach- und Geldspenden sammelte (häufig Straßensammlungen) und bedürftige „Volksgenossen“ unterstützte.
Zu Strophe 6: Aus dem Protokoll der Gestapo gemäß Anzeige des Dr. K. gegen die Pianistin P.:
Die Pianistin P. hat auf einer Hochzeitsfeier u.a. Musik des Juden Mendelssohn* gespielt. Während die Mehrheit der Hochzeitsgesellschaft entweder das nicht erkannte oder geflissentlich ignorierte, hat Dr. K. sofort P. darauf aufmerksam gemacht, dass sie jüdische Musik spiele und abbrechen müsse. Die Pianistin habe darauf geantwortet, da müsse er sich irren, das sei deutsche Musik aus der Romantik und das Stück zu Ende gespielt. Darauf habe P. die Hochzeitsgesellschaft sofort verlassen und die Anzeige erstattet“.
Spätestens seit dem Ausschluss jüdischer Elemente aus der Reichskulturkammer dürfte bekannt sein, dass das Spielen jüdischer Musik von zeitgenössischen sowie von Komponisten früherer Musikepochen verpönt ist. Die Angeklagte muss als ausgebildete Pianistin gewusst haben, was sie da spielt. Ihr Hinweis auf „deutsche Musik aus der Romantik“ ist nachweislich falsch, zumal Dr. K, als ausgewiesener Musikkenner ihr sogar das Stück nennen konnte, das sie gespielt hat. Das Minnelied im Mai – Holder klingt der Vogelsang ist eindeutig von dem Juden Mendelssohn, also undeutsche Musik, dem schon 1850 Richard Wagner in „Das Judenthum in der Musik“ – wie anderen Künstlern jüdischer Herkunft – nachgewiesen hat, nur „das Gleichgültige und Triviale“ hervorzubringen. Da die Angeklagte spätestens, als Dr. K. sie darauf aufmerksam machte, dass sie Musik eines Juden spielten würde, das Lied nicht sofort abgebrochen und sich nicht entschuldigt hat, ist es ihr untersagt, in den nächsten sechs Monaten öffentlich aufzutreten.
* Auch Büsten und Gedenktafeln von Felix Mendelssohn Bartholdy wurden entfernt. Nach der Entfernung des Mendelssohn-Denkmals im November 1936, das vor dem Leipziger Gewandhaus stand, protestierte dagegen Furtwängler, allerdings vergeblich. Der Oberbürgermeister Carl Goerdeler trat aus Protest von seinem Amt zurück. Goerdeler gehörte später zum zivilem Widerstand gegen das NS-Regime; er wurde nach einer Denunziation wurde im Februar 1945 in Berlin Plötzensee hingerichtet.
Zu Strophe 7: Allein nach Herrn Ley zu fragen, ist nicht strafbar. Hingegen unterstellt die Frage des Angeklagten, dass der verdienstvolle Leiter der Deutschen Arbeitsfront,* Herr Robert Ley, dem Alkohol über den Durst zusprechen würde. Es handelt sich hier um eine unwahre Behauptung über „eine leitende Persönlichkeit des Staates“, durch die „das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung“ untergraben wird. Die böswillige Äußerung ist zwar im privaten Rahmen gemacht worden, jedoch dank eines anwesenden Parteigenossen der Geheimen Staatspolizei bekannt geworden. Das Urteil lautet 18 Monate Gefängnis gemäß § 1, Abs. 1 in Tateinheit mit § 2, Abs. 1 und Abs. 2 Heimtückegesetz.
* NS-Nachfolgeorganisation, in die 1933 alle Mitglieder der bisherigen Gewerkschaften und der bisherigen Arbeitgeberverbände und alle bis dahin unorganisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer zwangsweise überführt wurden.
Zu Strophe 8: Wie der Blockwart* B. der Geheimen Staatspolizei meldete, hat er am 8. Oktober d. J. aus der Nachbarwohnung einen Feindsender gehört. Die unmitttelbar einschreitende Gestapo-Einheit konnte feststellen, dass die alleinwohnende Angeklagte im Rundfunk den Hetzsender BBC noch eingestellt hatte. Die Angeklagte ist geständig, sie gibt zu, dass sie ab und zu BBC gehört hätte, da sie doch die Stimme von Thomas Mann so gern hören mag. Auf Befragen führte Frau A. aus, dass sie niemals daran gedacht hätte, Gehörtes weiterzuerzählen. Sie würde mehr dem Klang lauschen als den Worten. Die befragten Nachbarn, darunter vier Parteigenossen, sagten aus, dass Frau A. eine stille, freundliche Nachbarin sei, die täglich ihrer Arbeit nachgehe und noch nie über Politik gesprochen habe. Frau A. wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das absichtliche Abhören ausländischer Sender seit dem 1. September dieses Jahres verboten sei und dass ihr das aus der Zeitung und den Ankündigungen in Filmlichtspielen bekannt sein müsse. Gemäß § 1 der Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1.10. 1939** können Zuwiderhandlungen mit Zuchthausstrafe geahndet werden. Frau A. versprach unter Tränen, nie wieder ausländische Sender zu hören. Aufgrund der positiven Aussagen der Nachbarn und des einwandfreien Führungszeugnisses werden Frau A. mildernde Umstände zugebilligt. Das Urteil lautet: drei Monate Gefängnis. Es wird zur Bewährung auf drei Jahre ausgesetzt. Der Volksempfänger ist einzuziehen.
* Ein Blockwart, offiziell „Blockleiter der NSDAP“, war für 40 bis 60 Haushalte mit durchschnittlich rund 170 Personen zuständig. Zur politischen Überwachung führte er eine normierte Haushaltskartei, notierte Unmutsäußerungen und das Verhalten bei Beflaggung, gab Leumundszeugnisse ab und war allgegenwärtiger Ansprechpartner für Denunziationen.
** Die Reichskriminalitäts-Statistik nennt für die Jahre 1939 bis 1942 für das Deutsche Reich (ohne Österreich) 2.704 Verurteilungen nach der Rundfunkverordnung. (vgl. Wikipedia).
Zu Strophe 9: Der Angeklagte hat in einer privaten Literaturrunde das nationalsozialistische Standardwerk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ des derzeitigen Leiters des Reichsministeriums der besetzten deutschen Ostgebiete, Herrn Alfred von Rosenberg*, in unflätiger Weise herabgesetzt. Dank eines Anhängers der Thesen von Rosenberg kam es unmittelbar zu einer Anzeige bei der Geheimen Staatspolizei (Protokoll liegt vor). Die Ausführungen des Angeklagten, nach der er nur gesagt haben will: „Einige Gedanken im Mythos seien nicht ganz durchdacht“ ist nicht glaubwürdig, zumal der Angeklagte sich dem Vernehmen nach bereits früher einige Male kritisch zur Politik geäußert hat. Aufgrund der Erfüllung des Tatbestandes des § 2, Abs. 1 Heimtückegesetz wird der Angeklagte zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafe ist sofort anzutreten.
* Alfred von Rosenberg trug mit seinen zahlreichen rassenideologischen Schriften, besonders mit „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (erschienen 1930) zur Verschärfung des Antisemitismus in Deutschland bei. Im Übrigen war es riskant, an den zweiten Vornamen des in Reval geborenen Rosenberg, Woldemarowitsch, zu erinnern.
Fazit
Zwar sind längst nicht alle „Meckerlein“ in Konzentrationslagern gelandet, wie man aufgrund der 10. Strophe meinen könnte; als satirische Übertreibung, zur Anprangerung der Nazi-Repression, die sich – trotz Gesetzen und Verordnungen (erlassen jeweils im NS-ideologischen Sinn) – in willkürlicher Strafjustiz, vor allem durch den „Volksgerichtshof“ und die Sondergerichte zeigte, ist m.E. ein derartige Darstellung aber gerechtfertigt. Allein durch die Sondergerichte wurden insgesamt 11.000 Todesurteile ausgesprochen (vgl. Werner Benz); andere Angeklagte wurden zu harten Strafen verurteilt wie Einweisung ins Zuchthaus oder in ein KZ, häufig verbunden mit Folter und Todesfolge.
Viele Verhaftungen sind nur aufgrund von Denunziationen zustande gekommen. Eine latente Denunziationsbereitschaft war wohl in allen Bevölkerungsschichten vorhanden. Selbst Kinder und Jugendliche wurden aufgefordert, ihre Eltern zu denunzieren, falls diese z. B. ausländische Sender hörten. Auch die den Verfolgungsbehörden Gestapo und Sicherheitsdienst profitierten von den Zuträgern aus der Bevölkerung. Mit Hilfe der Denunziation schuf das NS-Regime eine Stimmung der Angst und Unsicherheit. Bei jeder kritischen Aussage musste eine Meldung befürchtet werden. Gleichzeitig konnte durch eine aktive Denunziation die Loyalität zum Nationalsozialismus bekundet werden. (vgl. Stichwort Denunziation: www.museenkoeln.de)
Seit 1939, mit Beginn des Krieges, wurden Verbote erlassen, die neue Straftatbestände schufen und damit Zehntausende von Deutschen zu „Straftätern“ machten, z. B. durch die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ (s. zu Strophe 8), die „Verordnung gegen Volksschädlinge“, gemeinhin Volksschädlingsverordnung (VVO) genannt, oder durch den Tatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ (s. zu Strophe 3). „Dennoch regte sich sowohl ziviler als auch militärischer Widerstand, wovon alleine 35.000 Verurteilungen wegen Fahnenflucht während des Krieges zeugen“ (Werner Benz), die von der Versetzung in ein Strafbataillon über Zuchthausstrafen bis zum Tod durch Erschießen oder Erhängen reichten. Ich kann mich noch erinnern, dass im Februar 1945 in Danzig an den Bäumen der Langfuhrer Allee tote Soldaten hingen mit Schildern „Ich war feige vor dem Feind“ oder „Ich habe mein Volk verraten“.
Georg Nagel, Hamburg
P.S.
Auch in der DDR gab es als Kritik am Regime eine Umdichtung der Zehn kleinen Meckerlein mit folgenden Abweichungen in den Strophen 1 und 5- bis 10:
1. Zehn kleine Negerlein, die saßen einst beim Wein;
das eine ahmte Ulbricht nach, da war’n es nur noch neun.[…]
5. Sechs kleine Negerlein, die haben laut geschimpft;
das eine hat man abgeholt, da war’n es nur noch fünf.6. Fünf kleine Negerlein, die saßen am Klavier;
das eine spielte Musicals, da war’n es nur noch vier.7. Vier kleine Negerlein verhöhnten die Partei;
das eine griff der SSD, da war’n es nur noch drei.8. Drei kleine Negerlein, die hörten Radio;
das eine stellte RIAS ein, da war’n es nur noch zwo.9. Zwei kleine Negerlein, die glaubten, es hört sie keiner;
das eine hat ’nen Witz erzählt; da war es nur noch einer.10. Ein kleines Negerlein ließ diese Verse sehn;
da sperrt man es in Bautzen* ein, und nun – sind’s wieder zehn!* In Bautzen befand sich ein berüchtigtes Stasi-Zuchthaus.
Mir ist nicht bekannt, ob das Gedicht auf Flugblättern verbreitet wurde und etwaige Flugblattverteiler festgenommen und verurteilt wurden.
Literatur (Auswahl)
Wolfgang Benz: Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg.
www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik.html
www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/db_index.html
Wieder ein sehr gelungene Überschrift!
Danke.
Georg
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Angesichts der Aufforderung der AFD an Schüler, ihre Lehrer zu denuzieren, ist mir fast schlecht geworden, als mir die Parallelen zu den Geschichten hinter den Strophen auffielen. Ich könnte schreien!!!