Liebeswerben mit Winterdepression. Element of Crime: „Der weiße Hai“
4. Januar 2016 2 Kommentare
Element of Crime Der weiße Hai Die Leute, die du liebst, sind alle auf Mallorca und singen dort das Lied vom Schädelweh. Tritt nicht auf das Laub, darunter wohnt das Grauen, und das Gelbe daneben ist der Schnee. Freu dich nicht zu früh auf den Sommer, Weihnachten ist grade erst vorbei. Im Treppenhaus riecht es noch nach Glühwein, und im Fernsehen läuft der weiße Hai. Der See, an dem du stehst, kann sich nicht entscheiden, ob er umkippen oder einfrieren soll. Der Hund, mit dem du lebst, kann dich nicht mehr leiden, und der Glascontainer ist schon wieder voll. Freu dich nicht zu früh auf den Sommer, Weihnachten ist grade erst vorbei. In den Wäldern weinen noch die Bäume und im Fernsehen läuft der weiße Hai Hart verdientes Brot, härter die Erkenntnis und am härtesten ein ganzer Tag mit dir. Ruf mich einfach an, wenn du Inventur machst und Hilfe brauchst von einem wie mir. Freu dich nicht zu früh auf den Sommer, Weihnachten ist grade erst vorbei Im Einkaufszentrum gibt es heiße Ohren, und im Fernsehen läuft der weiße Hai. Das da kommt da hin, und das da kommt dahin, und das da ist irgendwie dabei. Und das da kommt dahin, und das da kommt dahin, und am Ende zählen nur wir zwei. Freu dich nicht zu früh auf den Sommer, Weihnachten ist grade erst vorbei. Im Treppenhaus riecht es noch nach Glühwein, und im Fernsehen läuft der weiße Hai. [Element of Crime: Immer da wo du bist, bin ich nie. Vertigo 2009.]
Das Sprecher-Ich in Living Next Door to Alice von New World (bekannter in der Version von Smokie) wartet bekanntlich 24 Jahre auf eine Gelegenheit, seiner Nachbarin, in die es verliebt ist, seine Gefühle zu offenbaren, bis diese eines Tages fortzieht, ohne dass es je zu einer Annäherung gekommen ist. Dieses Schicksal will das Sprecher-Ich in Der weiße Hai offenbar nicht teilen. Also wählt es einen günstigen Moment, um das Du, dem es näherkommen möchte, (im Folgenden wird, auch wenn der Liedtext keine Hinweise auf die Geschlechterverteilung gibt, davon ausgegangen, dass ein Mann hier eine Frau umwirbt) anzusprechen: Sie hat Bedarf an Gesellschaft bzw., den Absichten des Werbenden gegenüber weniger freundlich formuliert, ist ihm schutzlos ausgeliefert, denn ihre Lieben feiern sämtlich auf Mallorca, genauer: leiden dort unter den Folgen einer vorangegangenen (angesichts der Zeitangabe „Weihnachten ist gerade erst vorbei“ mutmaßlich Silvester-) Feier. Dieser Umstand deutet noch auf einen weiteren Aspekt hin, der die Situation für den Werbenden besonders günstig erscheinen lässt: Um die emotionale Verfassung der Umworbenen dürfte es nach einem allein verbrachten Jahreswechsel – selbst wenn es dazu nicht durch Verstimmungen mit den Lieben, sondern durch äußere Umstände wie Schichtpläne gekommen sein sollte, – nicht zum Besten stehen.
Dafür, dass sich an ihrer schlechten Stimmung nichts ändert, sorgt der Sprecher: Nachdem er ihr ihre temporäre Einsamkeit vor Augen geführt hat, arbeitet er systematisch mögliche Trostquellen ab, um sie auszuschließen: Die Natur zeigt sich nicht romantisch verschneit bzw. vereist, sondern aufgrund menschlicher Eingriffe abstoßend – der Schnee ist (urin-)gelb und der See durch Abwässer verseucht. Die Bäume, auf denen der Schnee schmilzt, „weinen“ und spiegeln damit die Stimmung der Betrachterin. Und die domestizierte Natur in Gestalt ihres Hundes – dessen Erwähnung als Lebensgefährte auf den Single-Status seiner Besitzerin schließen lässt – bietet, anders als in der Vergangenheit, ebenfalls keine emotionale Zuflucht.
Kulturelle Aktivitäten versprechen ebensowenig Aufheiterungserfolg: Die Feste (Weihnachten mit vorangehender Adventszeit und Silvester), die traditionell eine aufmunternde Funktion innerhalb der depressionsfördernden, von Kälte und langen Nächten geprägten Winterzeit erfüllen, sind vorbei inkl. der Möglichkeit, sozial akzeptiert öffentlich alkoholische Stimmungsaufheller zu sich zu nehmen – nur noch der Glühweingeruch hängt im Treppenhaus. An mediale Ablenkung ist auch nicht zu denken, wie der titelgebende Hinweis auf Der weiße Hai als Beispiel für das von Spielfilmwiederholungen geprägte Fernsehprogramm zu Jahresbeginn deutlich macht – hier droht buchstäblich das Grauen. Der Konsum scheidet, wenn auch aus ungewöhnlichen Gründen („Im Einkaufszentrum gibt es heiße Ohren“) ebenfalls aus. Selbst die Erledigung lange aufgeschobener Alltagsaufgaben, die ein vermeintlich einfach zu erzielendes Erfolgserlebnis verschaffen könnte, erweist sich als schwierig – der volle Glascontainer verweist dabei noch einmal auf die geselligen Silvesterfeiern der Anderen, deren Freunde und Familienmitglieder mit ihnen zusammen vor Ort, statt weit entfernt ohne sie gefeiert haben, und damit auf die Einsamkeit zum Jahreswechsel, die Ablenkung überhaupt erst so nötig gemacht hat.
Der Angesprochenen bleibt somit kein Ausweg aus der aufziehenden Winterdepression – außer, den Sprecher anzurufen. Seine Nummer hat sie offenbar, was auf eine gute, aber eben nicht allzu innige – schließlich gehört er nicht zu den offenbar zahlreichen Menschen, die sie liebt – Bekanntschaft schließen lässt. Dass er von sich als „einem wie mir“ spricht, könnte man dahingehend interpretieren, dass die Angesprochene sich normalerweise nicht mit jemandem mit seinem sozialen Status treffen, dass eine Verabredung mit ihm aus ihrer Sicht also ein ‚Downdating‘ darstellen würde. Vor diesem Hintergrund werden auch die beiden ersten Verse dieser Strophe („Hart verdientes Brot, härter die Erkenntnis / und am härtesten ein ganzer Tag mit dir.“) verständlich: Es war für den nicht gut verdienenden Sprecher nicht einfach zu akzeptieren, dass er kaum Chancen darauf hat, einen ganzen Tag (geschweige denn eine Nacht) mit seiner Bekannten zu verbringen.
Nun bietet er ihr, nachdem er ihr rhetorisch perfide ihre momentane Einsamkeit vergegenwärtigt hat, also an, ihr bei der „Inventur“ zu helfen. Natürlich kann man das wörtlich nehmen und sich die Angesprochene etwa als Ladeninhaberin vorstellen und sich anschließend ausmalen, wie beim Sortieren von Waren eine Hand wie zufällig die andere findet. Stimmiger – gerade aufgrund des offenbar hohen Status der Angesprochenen, der sich nicht recht mit einer eigenhändig durchgeführten Inventur verträgt – erscheint es aber, hier von einer metaphorischen Verwendung des Wortes auszugehen. ‚Inventur machen‘ hieße dann, den materiellen oder ideellen Status quo festzustellen – konkret also aufzuräumen oder über seine aktuelle Lebenssituation nachzudenken, vielleicht auch letzteres anlässlich von ersterem, z.B. beim Sortieren und Betrachten alter Fotos und Erinnerungsgegenstände (durchgespielt wird ein solches Szenario in Bring den Vorschlaghammer mit). In jedem Fall wäre dies eine intime Situation, in der sich die Angesprochene dem Sprecher öffnen würde. In der letzten Strophe wird dann der Verlauf der gemeinsamen Inventur beschrieben, wobei offen bleibt, ob es sich um eine Imagination des Sprechers handelt, oder ob die Situation tatsächlich stattfindet. Jedenfalls steht an deren Ende nicht nur eine aufgeräumte Wohnung und eine analysierte Lebenssituation, sondern auch eine neue Zukunftsperspektive mit dem Sprecher.
Man könnte diese rhetorisch raffinierte emotionale Manipulation eines geliebten Menschen durchaus als psychopathisch einstufen. Allerdings könnte man diesem Vorwurf dann als Entschuldigung einen Vers aus einem anderen Elemnt of Crime-Lied entgegenhalten: „Wer verliebt ist, hat keine Wahl.“
Martin Rehfeldt, Bamberg
Eine köstliche Interpretation! Vor allem über den Satz: „Um die emotionale Verfassung der Umworbenen dürfte es nach einem allein verbrachten Jahreswechsel – selbst wenn es dazu nicht durch Verstimmungen mit den Lieben, sondern durch äußere Umstände wie Schichtpläne gekommen sein sollte, – nicht zum Besten stehen“ habe ich geschmunzelt. Wirklich sehr gelungen, eine Freude den Artikel zu lesen.
Vielen Dank für das Lob aus berufenem Munde.
Herzliche Grüße,
Martin