Frohe Fracht aus Straßburg: Daniel Sudermanns Weihnachtslied „Es kommt ein Schiff geladen“ (1626)
21. Dezember 2015 Hinterlasse einen Kommentar
Daniel Sudermann Es kommt ein Schiff geladen Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein' höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewig's Wort. Das Schiff geht still im Triebe, es trägt ein’ teure Last; das Segel ist die Liebe, der Heilig’ Geist der Mast. Der Anker haft' auf Erden, da ist das Schiff am Land. Das Wort tut Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt. Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren; gelobet muß es sein. Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muß vorher mit ihm leiden groß’ Pein und Marter viel, danach mit ihm auch sterben und geistlich aufersteh’n, ewig’s Leben zu erben, wie an ihm ist gescheh’n. [Text nach lieder-archiv.de.]
Es kommt ein Schiff geladen ist ein in Deutschland weithin bekanntes Advents- und Weihnachtslied. Seine Ursprünge reichen, was den Text betrifft, bis ins späte Mittelalter zurück, die Melodie ist seit der frühen Neuzeit belegt. Während seiner langen und komplizierten, fachwissenschaftlich allerdings recht intensiv erforschten Überlieferungsgeschichte in katholischen bzw. evangelischen Liedersammlungen wurden Text und Melodie mehrfach verändert, wofür zumeist theologische bzw. (religions-)politische Gründe ausschlaggebend waren. Die Textfassung des uns bekannten Liedes geht auf eine Bearbeitung älterer, handschriftlich überlieferter Quellen durch Daniel Sudermann zurück, die dieser in seinem Gesangsbuch Etliche Hohe geistliche Gesänge (Straßburg 1626) zu Druck gebracht hat; nachfolgend Sudermanns Text, dem ein Motto vorangestellt ist, das die Textquelle dem Mystiker Johannes Tauler zuweist. Diese Zuordnung konnte meines Wissens bislang nicht bewiesen werden; allerdings ist die Quelle bekannt, die aus der Mitte des 15. Jahrhunderts datiert und höchstwahrscheinlich aus dem Besitz eines Straßburger Dominikanerinnenklosters stammt. Heute liegt diese Handschrift – wie zwei jüngere aus der gleichen Epoche – in der Staatsbibliothek Berlin (vgl. Burghart Wachinger in der 2. Aufl. des Verfasserlexikons, Band 2, 1980, Sp. 625-628).
Ein vuraltes Gesang /
So vnter des Herren Tauleri Schrifften funden /
etwas verständlicher gemacht: Im Thon /
Es wolt ein Jäger Jagen wol in deß Himmels Thron.1.
Es kompt ein Schiff geladen
bis an sein höchste bort,
Es trägt Gottes Sohn vollr gnaden,
deß Vatters ewigs wort.2.
Das Schiff geht still im triebe,
es tregt ein thewre Last;
Der Segel ist die Liebe,
der heylig Geist der Maßt.3.
Der Ancker hafft auf Erden,
vnd das Schiff ist am Land:
Gotts Wort thut vns Fleisch werden,
der Sohn ist vns gesandt.4.
Zu Bethlehem geboren
im Stall ein Kindelein,
Gibt sich für vns verlohren:
gelobet muß es sein.5.
Und wer diß Kind mit freuden
küssen, vmbfangen will,
Der muß vor mit jhm leiden
groß pein vnd marter vil,6.
Darnach mit jhm auch sterben
vnd geistlich aufferstehen,
Ewigs leben zuerben,
wie an jhm ist geschehen.[Daniel Sudermann: Etliche Hohe geistliche Gesänge. Straßburg 1626, 8. Blatt F. Zit. nach: Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. 2. Leipzig 1867, S. 303 (Nr. 459). Zitiert nach liederlexikon.de.]
Sudermann (1650-1631) ist eine interessante, zwischen den Konfessionen stehende und wirkende Gelehrtenpersönlichkeit des Reformationszeitalters bzw. Frühbarock, die man gemeinhin dem ,mystischen Spiritualismus‘ zurechnet (vgl. den einschlägigen Artikel von Thomas Gandlau im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon, Band 11, 1996, Sp. 166-169). Geboren und katholisch getauft in Lüttich, erfuhr der Sohn eines Malers und Goldschmieds in Aachen eine calvinistische Ausbildung. Die ersten Jahre seines Erwachsenenlebens arbeitete er als ,Hofmeister‘ (d.h. Erzieher) an diversen Adelshöfen in West- und Süddeutschland sowie in den Niederlanden. 1580 erlangte Sudermann eine kirchliche Anstellung in Lüttich, wenig später bei den evangelischen Domherren in Straßburg, wo er seine Erziehertätigkeit fortsetzen konnte. Nun blieb ihm neben dem Hauptberuf Muße für gelehrte und schriftstellerische Tätigkeiten.
Er sammelte, studierte und publizierte diverse religiöse Schriften wie Predigten, Gebetsliteratur und reformatorische Traktate, wobei seine besondere Zuneigung spiritualistischen Schriften galt. Nachdem er 1594 endlich die lange ersehnte Vikarsstelle besetzen durfte, bekannte er sich offen zur häretischen Lehre Kaspar Schwenckfelds (1490-1561), die in zentralen Punkten von Luthers Dogmen abweicht und starke mystische Züge aufweist. Im Spiritualismus scheint Sudermann eine Möglichkeit gesehen zu haben, die konfessionelle Spaltung des Christentums zu überwinden. Die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens investierte er zu einem Teil in den Aufbau einer großen theologischen und literarischen Handschriftensammlung, der die moderne Forschung die Überlieferung vieler wertvoller spätmittelalterlicher Texte verdankt, zum anderen in die literarische Produktion, d.h. ins Dichten von Kirchenliedern, Bearbeiten und Publizieren überlieferter religiöser Schriften und in die Abfassung eigenständiger theologischer Abhandlungen.
Sudermanns Bearbeitung unseres Kirchenlieds gebührt nicht der Ruhm des ersten Drucks, denn bereits 1608 findet sich im – von einer Laien-Bruderschaft edierten – sog. Andernacher Gesangbuch eine Textvariante, die im Gegensatz zur Sudermannschen Fassung freilich eine katholische, ja ausgesprochen gegenreformatorische Handschrift aufweist, erkennbar an Versen, die Maria huldigen bzw. das „Schiff“ des Eingangsverses allegorisch auf die schwangere Gottesmutter beziehen (Abdruck dieser Textes bei Ingeborg Weber-Kellermann, Das Buch der Weihnachtslieder. 151 deutsche Advents- und Weihnachtslieder, 7. Aufl. 1992, S. 273 f.). Noch im 19. und 20. Jahrhundert werden sich Liedvarianten in evangelischen und katholischen Gesangbüchern durch die Existenz bzw. das Fehlen marianischer Passagen unterscheiden. Dem Weihnachtslied im Andernacher Gesangbuch ist eine lateinische Paraphrase beigegeben, die theologisch weitergehende Implikationen enthält und zudem den Gedanken nahelegt, dass das Lied auch im Lateinunterricht eingesetzt wurde.
Während wir heute – weitgehend – Sudermanns Text singen, folgen wir gleichzeitig der im Andernacher Gesangbuch angegebenen Melodie, die nach Christa Reichs einschlägiger Untersuchung (2002) „mit musikalischen Mitteln die himmlische und irdische Sphäre zu verbinden scheint. Jedenfalls ist sie kontrastierend angelegt: Auf dorisch folgt F-Dur, auf ein Dreier-Metrum ein Vierer-Metrum und schließlich auf einen eher tiefen Tonraum ein hoher.“ (Zitat nach Michael Fischers kompetenter Zusammenfassung der Forschungssitualtion im Historisch-kritischen Liederlexikon, 2005, S. 10.)
Im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert scheint dieses Weihnachtslied weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, jedenfalls liegen uns keine Belege für neue interessante Bearbeitungen oder sonstige Rezeptionsdokumente vor. Über die Gründe kann man eigentlich nur spekulieren: Entsprach es stilistisch nicht mehr dem Geschmack der Aufklärung? Sind die mystischen Allegorien unverständlich geworden? Oder sind entsprechende Belege nur verloren gegangen? Wie auch immer diese Rezeptionspause zu erklären sein mag – in den 1840er Jahren wurde Es kommt ein Schiff geladen von Germanisten und Hymnologen (d.h. Kirchenlied-Forschern) wiederentdeckt und schließlich 1854 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben wissenschaftlich ediert. Damit waren die entscheidenden Voraussetzungen für eine weitere Verbreitung, ja Popularisierung des Liedes gegeben, deren einzelne Stationen Michael Fischer (s.o.) benennt. Bei der Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jhs. trat der – ohnehin nicht mehr leicht verständliche religiöse Sinn – nicht selten hinter reformpädagogische, ästhetische bzw. ideologische (national-politische) Zwecksetzungen zurück. Bei letzteren spielte die Herkunft des Liedes aus dem Elsass eine nicht unwichtige Rolle. Nach dem zweiten Weltkrieg tauchte Es kommt ein Schiff geladen vergleichsweise rasch in evangelischen Gesangsbüchern auf, deutlich später (Gotteslob, 1975) dann auch im katholischen Gottesdienst, wobei der evangelischen Fassung Sudermanns noch eine Marienlob-Strophe hinzugefügt wurde, obwohl diese nicht besonders gut zum Duktus des restlichen Textes passt.
Neben dem Abdruck des Liedes in zahlreichen Sammlungen von Weihnachtsliedern bzw. kirchlichen Gesangbüchern sprechen auch andere Dokumente für seine weite Verbreitung: Predigten, die daran anknüpfen und kreative Vergleiche anstellen (z.B. zum Lied der Seeräuber-Jenny von Brecht!), Parodien, Prüfungsaufgaben im Deutschunterricht, musikalische Bearbeitungen, journalistische Überlegungen zur Ladung des Schiffes (Opium fürs Volk?) usw. Die Fülle dieser Belege zur Popularität des Liedes mag angesichts seiner semantischen ,Sperrigkeit‘ für moderne Rezipienten ohne theologische oder kirchenhistorische Spezialbildung einigermaßen erstaunen. Vielleicht findet sich eine gewisse Erklärung für diese Diskrepanz in meinen eigenen Erfahrungen: Diesen zufolge wurden in evangelischen Advents-Gottesdiensten der 1960er Jahren stets nur die ersten drei Strophen gesungen, die durchaus im Wortsinne verstanden werden können, ohne dass man sich zwingend auf theologische Subtilitäten einlassen müsste, wie z.B. die Frage, ob die Schiffs-Allegorie nun auf die schwangere Gottesmutter, die Kirche oder die menschliche Seele hin auszulegen sei. (Für alle diese Annahmen könnten aus Bibel und Väterliteratur stützende Argumente angeführt werden.) Ferner war mir Es kommt ein Schiff geladen seinerzeit vor anderen Weihnachtsliedern auch deshalb lieb, weil es mit seinem getragenen Tempo und nur einem einzigen „b“ meinen bescheidenen Fertigkeiten auf der Blockflöte vergleichsweise wenig Widerstand entgegensetzte…
Damit komme ich abschließend noch kurz auf die Aussage unseres Liedes zu sprechen: Bereits im Schluss-Vers der dritten Strophe expliziert Sudermann den Sinn seiner Schiffsmetaphorik – es geht, wie man es sich wahrscheinlich auch schon gedacht hat, um die Ankunft des Heilands unter den Menschen. Die vierte Strophe referiert schlaglichtartig die bekannte Weihnachtsgeschichte und preist im Vorgriff das künftige Erlösungswerk des Christkinds. Die letzten beiden Strophen dürften moderne Zeitgenossen einigermaßen irritieren, wenn nicht gar durch die Prophezeiung von „Pein und Marter“ verstören, da diese kaum ahnen können, dass hier vom sog. mystischen Kuss die Rede ist, der Mensch und Gott vereint und den symbolischen Tod des mystischen Adepten erfordert, bevor dieser an sein seliges Ziel gelangen kann. Ein ausführlicheres Referat über zentrale Theoreme der Dominikanischen respektive Rheinischen Mystik von Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse bis auf die sog. oberrheinischen ,Gottesfreunde‘ und Schwenckfeldianer kann im Rahmen dieses Beitrags nicht erfolgen; somit müssen wir uns hier wohl oder übel damit zufrieden geben, dieses Weihnachtslied, dessen Melodie uns vielleicht dennoch oder sogar deswegen erfreut, nur oberflächlich verstanden zu haben.
Hans-Peter Ecker, Bamberg